Manon Meyers

Angeliques Abschiedsbrief

Angeliques Abschiedsbrief

An die Welt:

Früher hat mir meine Mutter immer die Geschichte von Procyon, dem schwarzen Hengst mit den silbernen Schwingen, erzählt, wie er seine gewaltigen Flügel schwang und in den Himmel hinaufstieg. Er verschwand in den weissen Wolken der betenden Engel. Allmählich spürten die Menschen auf der Erde, wie die Kälte hereinbrach und die letzte warme Brise einmal flüchtig, jedem sein Herz umschloss, und sich dann auf ins Unerreichbare machte. Stechend aber schmerzlos, schien die Kälte, das warme Innern des Menschen zu verbannen, es aus dem fleischigen Körper herauszureissen. Irgendwie so, versuchte mir meine Mutter mir das Ende der Welt zu beschreiben, insofern weil sie wusste dass es auch bald mit ihr zu Ende ging. Sie hatte einen Tumor, unoperierbar. Generell hätte man operieren können, aber man hätte wichtige Teile des Gehirns beschädigt. Ja, ihr Tod stand fest. Doch sie sagte mir immer, dass der Tod so wünderschön wäre wie in der Geschichte von Procyon. Ein anmutiges, traumhaftes Pferd würde das Sonnenlicht und die Sterne aufsaugen, den Mond in sein Herz einpflanzen und den Himmel mit den Blumen der Erde segnen. Die Menschen würden ganz friedlich sterben, mit einem letzten Hauch von Sonnenlicht, einem letzten Rosenduft, wunderschönen Lilien vor Augen und in den Händen jeweils einen Stern halten, ihn fühlen, berühren, streicheln. Procyon war ein guter Vernichter, er liess die Welt nicht in Feuer untergehen, sie erfrieren oder überschwemmen. Er beschenkte die Menschen mit einem träumerischen Tod. Und dann, dann gingen alle ins Paradis auf, für immer und ewig, wo sie glücklich waren, wo es keinen Neid, keinen Hass, nur Freundschaft und Liebe gab. Als Mutter dann tot war, schwor ich mir, wenn ich mal sterben würde, so zu sterben wie in Procyon. Mein Stern, den halte ich schon, er ist in meiner Erinnerung, meine Mutter. Sie war immer mein Stern, sie ist es immer noch. Kein Duft ist lebendiger als der Duft menschlichen Blutes. Und keine Blumen sind schöner als die, die in meiner Phantasie gedeihen und aus dem Badewasser ragen. Sie sind hoch und bunt, ich liege in einer grossen, weichen Wiese und atme tief ein und aus. Das Sonnenlicht durchfliesst mein Haar, der Mond ist in mir. In meinem Herzen. So wie meine Mutter, mein Stern. Sie ist ebenfalls mein Mond. Mein Stern und mein Mond. Auch ich habe Sehnsucht nach Liebe, nach dem Glanz des Morgensterns, nach den wilden Fluten des Meeres, nach einem richtig heftigen Sturm. Ich bin Procyon. Ich setzte mir mein Ende selbst. Procyon hat nicht nur die Menschen, sondern auch sich selbst vernichtet. Vielleicht bin ich nicht ganz Procyon, aber den Teil dass er sich selbst vernichtet hat, stimmt überein. Ich kann nicht mehr. Der Schmerz sitzt zu tief. Ich bin zu schwach. Ich habe in meinem Leben viele Dummheiten begangen, aber einen grossen Fehler und schwöre bei Gott dass ich keinen Menschen diesen Fehler machen lasse. Nie und nimmer. Niemand soll das fühlen, was ich gefühlt habe, als mir plötzlich klar wurde, dass die Liebe meines Lebens für immer und ewig aus meinem Leben getreten war. Seht nur, wie die Liebe glänzt, wertvoller als der teuerste Schatz, reicher als der gute Sultan von Brunei, ja, das ist die Liebe, voller Schmerz und Hoffnung, Trauer und Vergebung, Glück und Angst. Jetzt fliegt der letzte Adler an mir vorbei, die Schatten der Wälder, sie sind so mysteriös wie der Ozean. Ich spüre die atmende See, ich habe den Nordtsern vor Augen und sehe zu wie alles in mir stirbt. Ich höre die Berge ein Lied für mich singen, ja, ich lebe. Ich bin am Leben! Die Zukunft ist Vergangenheit, ohne einen letzten, verzweifelten Morgen. Ich sehe zum Himmel hinauf, es wird dunkel, aber nun seht doch, wie er glänzt, der Nordstern! Wie schön er steht, über der hohen See, den rauschenden Wellen, die wild gegen die Felsen schlagen. Mein Tod ist mein Leben, und mein Tod soll anderen Glück bescheren. Wenn ich noch einen Wunsch freihabe, dann ist es, einem Menschen zu helfen, der mein Schicksal teilt, der weiss was diese Zeilen bedeuten, wieso ich von den schönsten Dingen der Welt spreche. Nun es geht zu Ende, aber das Ende, ist für mich ein Anfang, ein neuer Anfang, eine frohe Zukunft! Ich lebe! Ja, ich bin am Leben! Glück komme und gehe, aber hilfe ja dem, der es am nötigsten braucht. Wer auch immer mein Schicksal teilen mag, du sollst gesegnet sein, Gott soll dich beschützen, mich zu dir schicken und dich auf den richtigen Weg leiten! Ich bin am Leben.
Angelique

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.11.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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