Helmut Wurm

Sokrates und die Kultusministerin Doris Ahnen

(Dieses Gespräch fand im Sommer 2007 statt, ist aber im Herbst 2008 immer noch so aktuell wie damals)

Sokrates sitzt nachdenklich am Rheinufer, vor sich einen Bericht über die Pisa-Studie. Er grüßt Vorbeikommende, die er kennt, und nennt dabei nur ihre Vornamen, denn er ist das aus dem antiken Griechenland so gewöhnt. Auch Doris Ahnen kommt die Rheinpromenade entlang, sie geht schnell und wirkt voller Elan. Sokrates schaut auf und spricht sie an, wobei er gemäß seiner bekannten Taktik das Gespräch mit einer ganz neutralen Einleitung beginnt.

Sokrates: Hallo, Doris, du siehst heute wieder jugendlich und hübsch aus. Und du bist offensichtlich voller jugendlichem Elan. Darf man fragen, was du mit so viel Energie planst?

Doris Ahnen: Ich eile in mein Ministerium. Ich habe eine Fülle von Neuerungen und Verbesserungsvorschlägen zur Schule in Rheinland-Pfalz in meiner Tasche, die ich ausarbeiten lassen will. Die Pisa-Studie hat ja gezeigt, dass sich in den Schulen viel ändern muss: neue Strukturen, neue Lehrpläne, neue Methoden, eine andere Lehrerausbildung ... Ein Wirbelwind muss durch die Schulen wehen und alles Alte hinwegfegen. Und diesen Wirbelwind werde ich entfachen. Wir müssen eine radikale Revolution machen.

Sokrates (nachdenklich): Lass uns lieber von Reformen statt von Revolutionen reden. Wenn ich mich richtig erinnere, waren meistens diejenigen Reformen am wirkungsvollsten und dauerhaftesten, die nicht von temperamentvollen jungen Leuten, sondern von bedächtigen, gereiften Persönlichkeiten durchgeführt wurden. Die Jugend schießt leicht über das Ziel hinaus. Die Revolutionen der Jugend sind nach einiger Zeit fast alle wieder stufenweise zurückgenommen worden, bis ein Zustand erreicht war, der gut Bewährtes und notwendige Reformen verband. Ich möchte nicht, dass du etwas anleierst, was dann doch nicht den erhofften Erfolg bringt.

Doris Ahnen: (etwas spöttisch) Ich danke für deine Fürsorge. Du möchtest mich also besonnener machen, möchtest, dass ich meine vielen Veränderungspläne ruhiger überdenke, möchtest mich vor Reformillusionen und langfristigen Enttäuschungen bewahren? Das ist lieb von dir.

Sokrates: In der Tat, Doris, das möchte ich. Aber dass die schlechten Ergebnisse für die deutschen Schüler in der Pisa-Studie beschämend sind, da gebe ich dir recht. Ich lese diese Pisa-Studie gerade.

Doris Ahnen: Was würdest du denn alles erneuern und verändern? Wo würdest du zuerst beginnen? Beim Geld? Bei neuen Vorschlägen von Seiten der Pädagogik-Professoren? Bei den Lehrern? Bei den Schulformen? Bei den Unterrichtsmethoden? Würdest du das finnische Schulsystem genau kopieren?

Sokrates: Das sollten wir der Reihe nach durchdenken. Bezüglich des finnischen Schulsystems habe ich von Kollegen gehört, dass viele finnische Lehrer noch sehr alt-modisch unterrichten und dass es nur wenige moderne Vorzeigeschulen gibt. Vielleicht liegen die Ursachen für die guten Schulleistungen der Finnen in deren Mentalität. Vielleicht ist die dortige Jugend noch weniger durch Wohlstand in ihrem Ehrgeiz erschlafft. Man sollte solche Vorbilder sehr kritisch auf Übernahmen hin prüfen.

Doris Ahnen: Aber Geld spielt doch immer eine Hauptrolle. Für unser Schulsystem wird zu wenig Geld ausgegeben. Das werde ich großzügig ändern.

Sokrates: Du möchtest also in diesen knappen Zeiten mehr Geld für die Schulen abzweigen? Alkibiades sagte einmal in einer ähnlichen Situation, wenn man Kühen mehr ins Maul stopfe, sei das noch keine Garantie dafür, dass sie auch dicker würden und mehr wertvollen Mist erzeugten. Aber es ist ja bekannt, dass der junge Alkibiades häufig zu solchen Taktlosigkeiten neigte.

Doris Ahnen: Aber es gibt derzeit so viele Verbesserungsvorschläge an die Adresse der Schulen wie noch nie. Wenn man diese Vorschläge alle umsetzen wollte, würden die Leistungen an den Schulen sicher besser werden.

Sokrates: Zu meiner Zeit in Athen gab es junge Leute aus reichem Hause, die liefen nacheinander zu allen damaligen Philosophenschulen und versuchten deren jeweilige Lehren umzusetzen. Aber sie stellten nach einer Weile fest, dass jedes dieser Systeme Mängel hatte und schließlich waren sie ganz verwirrt und unsicher, welches denn nun das richtige sei. Die Mängel der jeweiligen Systeme übersehen nur System-Gründer und ihre gläubigen Anhänger... Nur mein System hat keine Mängel, nämlich alles kritisch nachzuprüfen und sich über alles eine eigene Meinung zu bilden. Entschuldige bitte diese Selbstgefälligkeit, Doris.

Doris Ahnen: Du meinst also, man solle in den Schulen nicht allen Neuerungen und Reformvorschlägen nachlaufen, sonst gebe es vor lauter Aktionismus und Neuerungen nur Verwirrung; sondern man solle auf die eigene kritische Analyse vertrauen. Aber das neue Lehr- und Lernsystem des Herrn Klippertios sollte man sicher umsetzten, ohne Abstriche und Kritik. Was meinst du, Sokrates?

Sokrates: Herr Klippertios ist unzweifelhaft bemüht, die Schule zu verbessern. Aber er macht das zu dogmatisch und spaltet die Lehrerschaft in gläubige Anhänger, zurückhaltende Skeptiker und Gegner. Jedes dogmatische System hat Fehler, Schwächen und Einseitigkeiten, schleift sich allmählich ab und ruft dann ein Gegensystem herauf, welches das vorige System bekämpft. Dadurch werden gute Ansätze geschwächt. Es wäre deshalb klüger, wenn Herr Klippertios verhinderte, dass seine Neuerungsvorschläge hier und da als pädagogische Heilslehren angepriesen werden. Sie sollten nur als offene Richtungsvorgaben gelten, von denen jeder kritisch auswählen kann, was er für richtig hält. Das würde seinem anerkennenswerten Bemühen besser dienen.

Doris Ahnen: Aber wenn man möglichst viele Gesamtschulen einrichtet, dann würden die Leistungen der Schüler doch sicher besser werden.

Sokrates: Wir haben in Athen auch regelmäßige Bildungswettkämpfe zwischen den verschiedenen Gymnasien durchgeführt und gewonnen haben keineswegs immer die jeweils modernsten. Oft waren es ganz altmodische Schulen, die den Siegeskranz gewannen. Die Jugendlichen und ihre Familien sind unterschiedlich und eine Vielfalt von Schulen erlaubt jeder Familie, die für sie geeignetste auszuwählen. Berufstätige Eltern bevorzugen sicher die Ganztagesschule. Aber bei Familien, in denen die Mutter zu Hause bleibt und die Kinder gewissenhaft betreuen will, stiehlt die Ganztagsschule den Kindern und Eltern die Zeit für Familienglück. Willst du das?

Doris Ahnen: Dann hat es damals bei euch sicher an den unterschiedlichen Lehrerleistungen gelegen, weshalb eine Schule den Wettkampf gewann und die andere ihn verlor. Hier möchte ich ganz rigoros ansetzen. Wie konnte es nur geschehen, dass in der Lehrerschaft so geschludert wurde? Wo ich hinsehe: viel zu viel Bequemlichkeit, Gleichgültigkeit und mangelndes Engagement. Das sind die offensichtlichen Ursachen für die Pisa-Misere. Laut darf man das natürlich nicht sagen.

Sokrates: Aber Doris, damit tust du vielen Lehrern großes Unrecht. Wenn ein Heer eine Schlacht verloren hat, dann hing es nicht immer nur an den Offizieren, sondern oft auch an der mangelnden Kampfbereitschaft der Soldaten. Mir fällt auf, dass du bei deinen Reformplänen nicht von den Schülern und Eltern sprichst. In einem so komplexen System wie dem Schulwesen gibt es viele Beteiligte und damit auch viele Schuldige für Schwächen und Misserfolge.

Doris Ahnen: Du meinst also, dass viele Schüler nicht mehr genügend Lernwillen und Leistungsbereitschaft zeigen und dass viele Eltern ihre Kinder nicht mehr so betreuen und erziehen, wie das früher der Fall war. Dann müsste ich nachdrücklich eine bessere Erziehung der Kinder einfordern und die Eltern auf ihre Verantwortung hinweisen. Jetzt weiß ich endlich, wo die eigentlichen Ursachen für die Pisa-Misere liegen. Ich danke dir für diesen Hinweis, Sokrates. Ich werde sofort mit meiner Kollegin vom Familienministerium reden und eine große Aktion planen. Die Eltern sind an allem schuld.

Sokrates (nachdenklich): Einen Moment noch, Doris. Ich überlege gerade, weshalb viele deutsche Eltern weniger Bereitschaft zum Erziehen haben und weshalb viele deutsche Schüler so wenig Leistungsbereitschaft und Ehrgeiz in der Schule zeigen. Haben viele Politiker deiner Partei nicht jahrzehntelang die moderne Laissez-faire-Erziehung positiv dargestellt? Haben nicht viele Politiker deiner Partei die Begriffe Leistung und Elite schlecht geredet? Haben nicht viele Politiker deiner Partei früher kontinuierlich die Schulanforderungen herabgesenkt? Haben nicht viele Politiker aller Parteien über Jahrzehnte den Wohlstandsstaat und die Freizeitgesellschaft in ihrer Entwicklung gefördert? Haben nicht viele Politiker aller Parteien die Mediengesellschaft vorangetrieben? Weshalb sollen Eltern noch erziehen, wenn die Kinder durch Medien stillgehalten werden können? Weshalb sollen Jugendliche noch Leistungsbereitschaft zeigen, wenn es für jede Lebenssituation staatliche Hilfen verschiedenster Art gibt?

Doris Ahnen: Du machst mich sehr betroffen, Sokrates. Das hieße ja, dass letztlich nicht die Schulformen oder die Lehrer oder die Eltern oder die Schüler, sondern die soziologisch-wirtschaftlich-politischen Bedingungen in Deutschland an der deutschen Schulmisere schuld wären. Und diese soziologisch-wirtschaftlichen Bedingungen haben wir Politiker so gewollt und damit wären wir letztlich schuld. Was soll man jetzt tun?

Sokrates: Als die Perser damals Griechenland erobern wollten, waren daran nicht allein die Perser schuld, sondern wir auch. Griechenland, besonders die Polis Athen, war durch viele Wohlstandsjahre selbstgefällig und bequem geworden und schien eine leichte Beute für die Perser. Da hat es damals auch viele Versuche gegeben, Schuldige zu finden und viele Vorschläge, was man alles unternehmen könne, um die Perser von einem Angriff abzuhalten oder sie zu besiegen. Aber unsere Feldherrn haben uns überzeugt, dass es nur eine Möglichkeit gab, nämlich dass alle die Zähne zusammenbissen und kämpften. Das hat dann bald das Blatt wieder gewendet.

Doris Ahnen: Das hieße ja, dass wir bezüglich der deutschen Schul-Misere nicht vorwiegend Fehler und Schuldige suchen sollten, sondern uns alle mehr bemühen müssten, bei den Politikern angefangen über die Lehrer, Eltern bis hin zu den Schülern, dass jeder Teil der Gesellschaft in die Pflicht genommen werden muss. Ich habe es jetzt gar nicht mehr so eilig, in mein Ministerium zu kommen. Ich muss erst einmal in Ruhe darüber nachdenken, welche Einsichten mir in unserem Gespräch gekommen sind. Dass wir Politiker direkt und indirekt auch daran schuld sind, das hätte ich nicht gedacht...

Sokrates: Ich meine, Doris, du hast in der Tat wichtige Einsichten geäußert. Lass uns gemeinsam darüber weiter nachdenken.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.12.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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