Helmut Wurm

Sokrates und der deutsche Sozialstatistiker

Sokrates sitzt mittags, in seinen weiten Umhang gehüllt, am Straßenrand in einer typischen deutschen Kleinstadt. Er beobachtet einen Mann, der mit einem Notizblock und einem großen Bogen mit statistischen Feldern von Haus zu Haus geht, auf der Straße sich beobachtend umsieht und dann regelmäßig, vor sich hin murmeld, Einträge in einen Statistikbogen oder in sein Notizbuch macht. Dieser Mann kommt an Sokrates vorbei, hält an, beobachtet ihn kurz und beginnt einen Eintrag in sein Notizbuch, wobei er vor sich hin murmelt „Noch ein deutscher Rentner...“. Doch dann stutzt er, dreht sich zu Sokrates um und fragt...

Der Statistiker: Entschuldigung, sind Sie überhaupt ein Deutscher und gehören Sie eigentlich als Dauerbewohner in diese Kleinstadt? Ich habe Sie eben als Rentner erfasst. Stimmt das überhaupt? Sie kommen mir so fremdländisch gekleidet vor. Sind Sie eventuell ein Immigrant, der hier Bleiberecht gefunden hat? Wo kommen Sie her und welchen Status hat Ihr Bleiberecht?

Sokrates: Ich bin hier in der Tat fremd, aber als Immigrant kann man mich auch nicht einstufen. Ich reise überall herum und unterhalte mich mit den Leuten...

Der Statistiker: Das wird schwierig, für solche Personen habe ich gar keine Rubrik in meiner Liste, obwohl es solche Dauerreisende immer häufiger gibt... Ich bin nämlich Sozialstatistiker und erfasse gerade diese Kleinstadt als repräsentative deutsche Kleinstadt mit allem, was sich darin bewegt, Bewohner, Besucher, Einwanderer, auch die Haustiere - außer den Vögeln natürlich, denn die gehören nirgends und überhall hin.

Sokrates: Da finde ich allerdings keinen passenden Platz in ihrer Statistik, allenfalls als Besucher oder zweibeiniger Vogel, denn ich gehöre auch überall und nirgends hin.

Der Statistiker: Irgendwie kommen Sie mir aber trotzdem vom Typus her bekannt vor. Sie erinnern mich etwas an die altgriechischen Wanderlehrer, die Sophisten oder wie die hießen...

Sokrates: Vom Prinzip her stimmt das schon, nur gerade mit den Sophisten möchte ich nicht verwechselt werden. Ich bin Sokrates und bemühe mich, die Menschen zum Nachdenken zu bringen...

Der Statistiker: Der Sokrates ist doch schon lange tot, aber wenn sie vielleicht so einer seiner Fans sind, der sich mit ihm identifiziert, dann soll es mir auch recht sein... (er murmelt vor sich hin “vermutlich ein Schizophrener“...). Am besten erfasse ich sie unter Kurzbesucher.

Sokrates: Das wird am besten sein... Was haben Sie denn als vorläufiges statistisches Ergebnis für dieses Städtchen herausgefunden?

Der Statistiker (murmelnd: Dumm scheint der komische Kauz nicht zu sein, mal sehen, was er dazu sagt, dann laut weiter): Ich bin schon ziemlich weit gekommen und es zeichnet sich bereits ein Trend ab... (Er unterbricht sich, weil er eine Katze die Straße queren sieht und murmelt „Noch eine Katze“ und macht einen Strich bei einer Rubrik von Haustiere)... Also als Trendbild kann ich feststellen: Das Städtchen hier hat derzeit knapp 6.000 Einwohner, davon sind knapp 20% ausländischre Herkunft. Die in der Vergangenheit aufgebaute Infrastruktur ist für eine altersmäßig ausgewogen strukturierte Bevölkerung mit relativ vielen Kindern hin entwickelt worden (ausreichend Schulen, Kindergärten, Spielplätze, Büchereien), aber die Kinder nehmen in der Realität prozentual den geringsten Bevölkerungsanteil ein. Den größten Anteil nehmen die Berufstätigen ein, dann folgt der Anteil von Rentnern und Pensionären. Die ganze Bevölkerungspyramide sieht aus wie ein Tannenbaum, der sich nach unten, statt nach oben verjüngt. Die meisten Einwohner leben in Ein- und Zweifamilienhäusern. Die Einfamilienhäuser wurden großzügig gebaut, von der Fläche her offensichtlich für eine Familie mit mindest 2-3 Kindern. In der Realität werden aber fast die Hälfte dieser Einfamilienhäuser von Kleinfamilien nur mit 1-2 Kindern oder sogar nur von 1 bis 2 älteren Leuten bewohnt, deren Kinder fortgezogen sind. Die Zweifamilienhäuser wären von ihrer Bauweise her gut geeignet (und waren wohl auch so gedacht) für eine Großfamilie mit Großeltern, Eltern, Kindern oder nahen Verwandten. Bei den meisten ist aber eine Wohnung leer und wird für Besucher und Gäste frei gehalten oder die 1 bis 2 Kinder dieser Kleinfamilien haben schon früh eigene Zimmer mit eigenem WC und Bad. In der Umgebung dieser Ein- und Zweifamilienhäuser sieht man nur wenig Kinder auf der Straße oder in den Gärten...

Sokrates (unterbricht ihn): Das sind dann einerseits ruhige Wohngegenden, andererseits auch Besorgnis machende Straßenzüge. Weshalb gibt es dort so wenige Kinder, obwohl doch die Wohnbedingungen sehr günstig für große Familien sind.

Der Statistiker: Ich vermute, dass in den mittleren und wohlhabenderen Sozialschichten der Wunsch, sein Leben so viel wie möglich zu genießen, so dominant ist, dass man weitgehend auf Kinder verzichtet, weil Kinder Mühe machen und Geld kosten. Ein Wunsch- und Vorzeigekind, das reicht. „Sozial-Egoismus“ heißt das in unserer Fachsprache. Die Leute haben gute Renten und brauchen im Alter keine Kinder... Und die jetzigen Mädchen als potentielle Mütter wollen sich laut meiner Umfragen emanzipieren und nicht ihr Leben als Mütter verbringen...

Sokrates: Dabei ist verantwortunsbewusste Mutter und Familienbetreuung ein anspruchsvollerer Beruf als die meisten anderen Berufe in der Wirtschaft...

Der Sozialstatistiker: Und die jungen Männer wollen nach meinen Umfragen immer verbreiteter nur noch unverbindliche Partnerschaften statt feste Ehen....

Sokrates: Weshalb das? Kommt Heiraten auch langsam aus der Mode wie in der römischen Kaiserzeit bei den höheren Sozialschichten?

Der Sozialstatistiker: Die unverbindlichen Partnerschaften lassen sich wieder leichter lösen... Nach meinen Erfahrungen wollen sich hauptsächlich die jungen Männer rechtlich den Rücken frei halten, Scheidungen sind meistens teuer und Partnerwechsel ist spannend... Deswegen heiraten immer weniger junge Paare.

Sokrates: Das scheint ja alles wie in der römischen Kaiserzeit zu sein, wo die Wohlhabenden immer mehr auf Kinder verzichteten und nur noch ein Spaß-Leben anstrebten, denn sie hatten ja Sklaven als Sozialfürsorge... Wenn nun die Älteren, die alleine in solchen Häusern wohnen, in Seniorenheime gezogen sind oder nicht mehr leben, was geschieht dann mit den vielen Häusern?

Der Statistiker: Immer mehr Häuser werden dann immer billiger zum Verkauf stehen. Schon seit einiger Zeit sinken hier die Hauspreise. Wer die dann kauft, interessiert mich nicht, ich bin nur Statistiker... Dafür sieht man in den wohl-habenden Ein- bis Zweifamilienhaus-Bezirken auffällig viele Haustiere, meist Katzen, aber auch viele Hunde... Oft mehr Haustiere als Kinder ...

Sokrates: Weshalb gibt es denn gerade dort so viele Haustiere?

Der Statistiker: Vermutlich haben die Leute doch irgendeine Sehnsucht nach einer belebten Umwelt und schaffen sich dann statt Kinder Haustiere an. Oder die Einzelkinder bekommen statt Geschwister eben ein Haustier... Wer weiß, es ist eben so.

Sokrates: Du machst dir also über diese gefundenen Fakten keine Gedanken. Das gibt mir zu denken. Aber berichte kurz weiter.

Der Statistiker: In den Mehrfamilienhäusern stehen regelmäßig die weniger komfortablen Wohnungen leer oder werden von großen Immigrantenfamilien bewohnt. In diesen Stadtteilen ist noch lustiges Kindergeschrei zu hören und spielen regelmäßig verschiedene Kindergruppen Ballspiele auf der Straße.

Sokrates: Diese Einwanderer werden offensichtlich die Zukunft dieser Stadt und ihrer Sozialsysteme sein. Aber für wen erstellst Du eigentlich diese Statistik, wer ist dein Aufraggeber?

Der Statistiker: Das ist die Wirtschaft. Die möchte doch gerne vorausplanen, was sie in der näheren und weiteren Zukunft produzieren und anbieten soll. Es geht um Produktion und Arbeitsplätze... Wohnungsbau wird kaum noch eine Zukunft wie in der Vergangenheit haben... dafür mehr die Tourismusangebote und eben Hunde- und Katzenfutter statt Kindernahrung... Das ist doch ganz einfach (zuckt mit der Schulter).

Sokrates: Und das macht dir wirklich keine Sorgen, das erschreckt dich nicht?

Der Statistiker: Ich werde mich hüten, darüber nachzudenken. Denn dann würde ich sehr kritisch und sorgenvoll unsere Gesellschaft beurteilen, dann müsste ich mich wie der alte Sokrates, den du imitierst, auf die Straße stellen und den Deutschen zurufen: „Seid ihr denn völlig vom Wohlstand verblendet und merkt ihr denn nicht, wohin diese Entwicklung führt“... Aber das tute ich mir nicht an. Es hätte auch wohl keinen Sinn. Denn es ginge allen deutschen Politikern, die unsere Gesellschaft wachrütteln wollten, so wie damals dem römischen Kaiser Augustus, der mit strengsten Gesetzen völlig vergeblich die Kinderarmut in den wohlhabenden römischen Oberschichten zu bekämpfen versuchte... Hier in Deutschland würden trotz intensiver Informationen und Warnungen nur wenige Familien ein Kind mehr haben wollen..., hier würden nur wenige Mädchen auf berufliche Emanzipation eine Zeitlang oder ganz für mehr eigene Kinder verzichten... Hier würden nur wenige junge Männer zusätzlich feste Bindungen eingehen wollen... Hier würden nur wenige Kleinfamilien auf teure Hobbys, große Autos und Auslands-Urlaubsreisen verzichten, um dafür mehr Kinder zu haben... In Wohlstandsstaaten hat der Egoismus die meisten Menschen schon immer fest im Griff behalten... Nein, darüber nachdenken, das tute ich mir nicht an... Ich mache Statistik und bekomme dafür mein Geld und damit reicht es...

Sokrates: Aber man muss doch wenigstens den Versuch machen, die heutigen Deutschen zum kritischen Nachdenken über ihre Zukunft zu bringen. Das kann am besten jemand tun, der die statistischen Fakten für ihre Zukunft sammelt. Der hat doch am meisten Glaubwürdigkeit...

Der Sozialstatistiker (ärgerlich): Du kannst reden wie der wirkliche Sokrates vor über 2000 Jahren. Man könne meinen, dass du Sokrates selber bist, aber das kann ja nicht sein...

Sokrates: Ich muss jetzt gehen, die Sonne scheint nicht mehr auf meinen Sitzplatz... Und ich möchte über die Parallelität der sozialen Entwicklung in Wohltandskulturen nachdenken... Genau wie in der römischen Kaiserzeit... Die Völkerwanderung kam nicht aus heiterem Himmel... Tschüss.

Der Sozialstatistiker (leise vor sich hin murmelnd): Und ich höre auch für heute auf... Dieser komische Kauz hat in mir das aufgewühlt, was ich immer wieder unterdrückt habe... nämlich das Nachdenken über die Ergebnisse meiner Arbeit... Der könnte wirklich Sokrates ein... Wie der einen packt...!

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 31.12.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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