Klaus-D. Heid

Nichts als die Wahrheit!

Situation:

November 1984. Ein kleiner Vorort von Paris. Zwei Männer sitzen sich in einem mit Pfeifen- und Zigarettenrauch gefüllten Bistro gegenüber und sind in eine rege, gestenreiche Unterhaltung verstrickt. Zu dieser Jahreszeit und auch zu dieser Uhrzeit – es ist ungefähr 10 Uhr morgens – sind die beiden Männer die einzigen Gäste und der kalte Rauch der vergangenen Nacht zeugt davon, daß der Wirt frische Luft als Hindernis für eine typische französische Künstlerkneipe empfindet. Spätestens in vier Stunden würden sich Schauspieler, Literaten, Kritiker und intellektuelle Querdenker um die Tische quetschen, um sich gegenseitig ihre Argumente an den Kopf zu werfen. Dabei werden Unmengen roten Weines die Kehlen herunter fließen und der rauchige Mief des Vortages würde sich in einer atmosphärischen Metamorphose mit frischen Tabakschwaden vereinen. Komplizierte Formulierungen und lautstarke Einwände bilden dann in einem geistigen Tumult eben dieses Flair, das offenbar vonnöten ist, um Gedanken auszutauschen.

Noch allerdings waren diese beiden Männer ganz allein für sich. Sie hatten sich beide einen Kaffee bestellt und der jüngere von ihnen umfaßte die dampfende Tasse, um seine Hände zu wärmen. Er war etwa dreißig Jahre alt, trug einen ungepflegten Vollbart und mit völlig verträumten Blick ins Nichts redete er auf seinen Gesprächspartner ein:

„...der Ernst der Lage ist nichts – im Angesicht der Wahrheit!“

Man hätte meinen können, daß sein Gegenüber bestimmt dreimal so alt sein mußte, da dieser alte Mann in seinem schwarzen Mantel versunken, klein und hager, mit eingefallen Wangen und strohweißem Haar, aussah, als wäre er bereits vor Jahren verstorben. Sah man jedoch in seine Augen, standen sie in krassem Widerspruch zum Rest seiner Erscheinung. Klein und wach schienen sie jede noch so kleine Bewegung im Bistro wahrzunehmen. In ihnen sah man das ganze Leben und die ganze Erfahrung, die dieser Mann in seinem langen Leben gehabt haben muß. Humor und Schalk strahlte aus seinen Augen, als er die Ausführungen des jungen Mannes unterbrach:

„Die ganze Zeit schon, mein lieber Pierre, überlege ich, weshalb ich Ihr Geschwätz eigentlich so geduldig ertrage. Und immer mehr komme ich zu dem Schluß, daß es ausschließlich an Ihrer überaus sympathischen Art liegen muß! Dennoch muß ich Ihnen – als der erfahrenere von uns – sagen, daß Sie bei aller Wortgewandtheit völlig vergessen, auf den Inhalt Ihrer Ausführungen zu achten. Sie reden Blödsinn, Pierre! Verstehen Sie? Schöne Worte, die bedauerlicherweise völlig falsch zusammengebastelt sind!“

Plötzlich schien der junge Mann etwas Leben in seinem sonst faden Gesicht zu bekommen.

„Messeur Deforgue! Sie wissen gar nicht, wie unendlich glücklich Sie mich machen! Oh nein, ich werde Ihnen Ihre harten Worte der Kritik nicht verübeln. Im Gegenteil! Sie sollten mir Ansporn sein, den richtigen Weg zur Wahrheit zu finden, in dem ich Ihre Beleidigung als... Lebenselexier nutze. Suche ich nicht nur nach Wahrheit und nach einem Sinn in diesem öden Leben? Danke! Danke Ihnen, Messeur Deforgue, daß Sie mir bei meiner Suche helfen!“

„Helfen? Ich Ihnen helfen, Pierre? Einen Dreck werde ich tun. Sie sind ein Dummschwätzer und ein gefährlicher – aber interessanter! – Spinner, der einen Knoten im Hirn hat. Über diesen Knoten, mein lieber Pierre, stolpern Sie für den Rest Ihres Lebens! Lassen Sie sich von einem Arzt helfen – aber bitte verschonen Sie mich damit!“

Jeder andere wäre bei diesen schroffen Worten entweder zu einem heftigen Streit übergegangen oder hätte erbost das Bistro verlassen. Nicht aber dieser Pierre! Mit einer lächerlichen Geste löste er seine Hände von der Kaffeetasse und wärmte nun mit den Händen sein Gesicht. Mit feuchten Augen, die zwischen seinen Fingern hindurch sahen, strahlte er Messeur Deforgue an.

„Gott! Diese unglaubliche Härte muß doch ein Zeichen der Wärme sein! Ihre Wahrheit ist so klar, so rein und so überirdisch reich an Ehrlichkeit, daß ich Mühe habe, meine Tränen zurückzuhalten!“

Tatsächlich wischte sich Pierre ein wenig Feuchtigkeit aus den Augen. Messeur Deforgue indes trank ungerührt seinen heißen Kaffee, winkte dem Wirt nach einer zweiten Tasse und schien völlig in seinem Mantel zu versinken, den er grundsätzlich – sogar im Sommer – bei jedem seiner unzähligen Bistrobesuche anbehielt. Irgendwie mußte irgendwas in seinem Leben dafür verantwortlich sein, daß er sich von diesem schwarzen Monstrum niemals trennte.

„Sehen Sie, Pierre, selbst jetzt sind Sie mir Ekel und Abscheu in einer Person. Widerwärtig, unerträglich und aufdringlich! Penetrant in Ihrer weibischen Weichheit und glitschig bei jedem Versuch, nach netten Worten zu heischen! Wenn Sie mir doch bloß nicht so sympathisch wären, Sie Dilettant! Warum rede ich nur mit Ihnen? Ist es nicht ein Widerspruch in sich, Pierre?“

„Ja und nein. Wohl eher...nein! Im Übrigen liegt die Wahrheit – Sie wissen ja bereits, daß die Wahrheit ein Steckenpferd von mir ist – niemals IN einer Person, sondern stets schmiegt sie sich wie eine zweite Haut um den Gott und Teufel, der in jedem von uns steckt!“

„Sie und Ihre mißverstandene Wahrheit...“

Deforgue fuchtelte nun mit seinen dürren Händen in der Luft herum, als gäbe es einen Geist, der geohrfeigt werden wollte. Der Wirt stellte ihm die zweite Tasse heißen Kaffees auf den Tisch und versuchte gar nicht erst, den Inhalt der Diskussion zu begreifen.

„...Sie und Ihre mißverstandene Wahrheit produzieren nur leere Worte und tote Formulierungen! Nichts zum Anfassen, Pierre! Auch dieser Fehlversuch einer philosophischen Aussage hätte von meiner Nichte stammen können, wäre sie jemals geboren worden! Sie benötigen Hilfe, Pierre! Dringend Hilfe! Warum nehmen Sie nicht Ihre unterforderten Beine in die Hand – und begeben sich auf dem schnellsten Weg in eine psychiatrische Behandlung? Dort wird man Ihnen die Hilfe nicht verweigern, die Sie brauchen. In Tablettenform, als Zäpfchen oder in Form einer Dauerinfusion gibt es die tollsten Hilfen für Ihre geistigen Blähungen. Tun Sie’s! Gehen Sie dorthin und lassen Sie sich helfen, Pierre! Lieber jetzt, als später! Glauben Sie den freundlichen Worten eines erfahrenen Mannes, der es – warum auch immer – gut mit Ihnen meint.“

„Ich? Ich soll zu einem...Irrenarzt? Ich?“

„Sie, Ihr Gott, Ihr Teufel oder Sie alle gemeinsam. Bestimmt bekommen Sie als Gruppe einen Sonderpreis für die Behandlung!“

Nun waren es schon mehr als nur einige Tränchen, die die Augen des jungen Pierre verließen, um demonstrativ an seiner Wange herunterzufließen.

„Oh Sie grundguter Mensch! Warum nur verstehen Sie mich so gut? Gebe ich Ihnen auch nur den kleinsten Anlaß, mich derart mit Ihrer freundschaftlichen Härte zu belohnen? Nein! Ich weiß jetzt, was Ihre Gründe dafür sind. Es muß an unserem gemeinsamen Verständnis für Wahrheit und Gerechtigkeit liegen, daß sich unsere Gedanken so vollkommen vereinen...!“

„Wahnsinniger! Welche Anlässe Sie mir geben? Tausend Anlässe, Pierre! Zweitausend, wenn ich Ihre Existenz noch als Ursünde hinzufüge. Und sehen Sie mich nicht so schleimig und scheinheilig an, Sie Ignorant! Sie wissen sehr wohl, weshalb Ihnen das Wort „Wahrheit“ jedesmal im Rachen stecken bleiben müßte, wenn Sie es aussprechen.“

Messieurs Deforgue winkte abermals nach dem Wirt.

„Garcon? Bringen Sie bitte diesem kleinen Ekelpaket auch noch einen Kaffee. Ja, auf meine Rechnung! Und achten Sie darauf, daß Sie die doppelte Dosis Rattengift so unter den Kaffee rühren, daß ich schnell von seiner Gegenwart erlöst bin, ja?“

Es konnte nicht das erste Mal sein, daß sich diese seltsame Szene in dem Bistro abspielte. Ohne auch nur den Hauch eines Humörchens nahm der Wirt die Bestellung entgegen und schien die kriminelle Äußerung des alten Mannes überhört zu haben. Offenbar wußte auch Pierre den Satz richtig einzuordnen, da er unberührt aus der Tasse trank, als sie ihm gebracht wurde.

„Und?“, meinte Messieurs Deforgue, „was meinen Sie, wann das Gift zu wirken beginnt?“

„Wäre es doch nur so! All mein Leiden, ausgelöst durch die schmerzhafte Suche nach Wahrheit – hätte endlich ein Ende! Aber so weiß ich, daß Sie doch nur ein Spielchen mit mir spielen, um meinen Charakter zu testen. Schön! Messieurs Deforgue, ich nehme Ihre Herausforderung an! Ich ergreife den Handschuh, den Sie mir ins Gesicht schleudern, weil ich weiß, daß Sie es gut mit mir meinen. Und ich danke Ihnen für den Kaffee – auch wenn ich bedauere, daß er tatsächlich nur aus Kaffee besteht!“

Die neugierigen und wachen Augen des alten Mannes betrachteten nun überaus interessiert, wie die Hand des vor Selbstmitleid triefenden Mannes die Tasse zum Mund führte. War da nicht doch ein kaum erkennbares Zittern zu sehen? War nicht doch ein winziger Zweifel, daß es sich um mehr, als nur Kaffee handeln könnte? Noch immer saß der gewaltige Mantel mit dem kleinen Männchen darin regungslos auf seinem Stuhl und beobachtete.

„Kann es sein, daß Sie erkältet sind, mein lieber Pierre? Irgendwie scheinen Sie auf mich den Eindruck zu machen, als ob Sie verschwitzt sind, stimmt’s?“

Pierre stellte die Tasse zurück auf den Tisch und sah sein Gegenüber mit flackerndem Blick an.

„Keineswegs. Vielleicht etwas unwohl, ja..., aber nicht erkältet. Wissen Sie, ich befürchte, die Wahrheit ist in sich nichts anderes, als die Erkenntnis der Lüge. Aber ich glaube, das bereits gesagt zu haben. Verzeihen Sie mir, wenn ich mich wiederhole?“

„Es gibt nichts zu verzeihen, mein lieber Pierre. Ich freue mich sogar über Ihre Gegenwart – auch wenn ich Sie lieber weit weg von mir wüßte. Und noch eines, Pierre. Sie haben sich absolut nicht wiederholt. Das, was Sie sagten, lautete: „...der Ernst der Lage ist nichts – im Angesicht der Wahrheit!“ Also etwas grundlegend anderes, als Ihre letzte überflüssige Äußerung. Ohnehin würde es mich überraschen, wenn Sie in der Lage wären, ein und denselben Gedanken innerhalb von einer halben Stunde zu wiederholen. Wissen Sie, Wiederholungen erfordern ein gewisses Maß an Verstand. Sie verlangen einem ab, daß man geordnete Gedanken so strukturiert hat, daß man sie bei Bedarf wieder hervor kramen kann. Sie, Pierre, haben keinen Verstand, der zu einer derart simplen Vorgehensweise befähigt ist. Bedenken Sie doch, was ich Ihnen bereits sagte. Sie sind wahnsinnig! Verwirrt! Blöde und einfältig, Pierre!“

Der junge Mann beugte sich nun etwas an den Tisch heran, stützte sich mit beiden Ellenbogen auf der Tischplatte ab und sein einfältiges Grinsen verwandelte sich in ein noch einfältigeres Glotzen. Er strich sich durch das lange, strähnige Haar, durch den zotteligen Bart und die darin verklebten Kaffeereste, als ob er versuchen wollte, in diesem Gestrüpp die Erklärungen für Messieurs Deforgues Beleidigungen zu finden.

„...wahnsinnig? Kein Wort mehr von Sympathie aus Ihrem Mund? Bin ich so abstoßend für Sie? Aber sehen Sie denn nicht, wie mich Ihre grausame Härte trifft, Messieurs? Verraten Sie mir, wie oft wir schon hier, an diesem Ort miteinander geplaudert haben? Zehn mal? Hundert mal? Ich jedenfalls, weiß es nicht mehr! Was ich aber weiß, ist die Tatsache, daß Sie mir stets – bitte verzeihen Sie – wie ein Freund waren! Obwohl Sie immer und immer wieder mit Ihren Worten tiefe Wunden in meine Seele gerissen haben, dachte ich doch, daß es so etwas wie... Zuneigung war, was Sie dazu veranlaßt hat. Ist das nun meine Wahrheit? Ist nun der Augenblick gekommen, in dem ich Ihr wahres Gesicht zu sehen bekomme? Blöde? Sie halten mich für blöde? Sie würden mich gerne vergiften?

Warum?

Nur, weil ich ein tief sensibler Mensch bin, der sich zu Ihnen hingezogen fühlt? Messieurs Deforgue, ich wünschte, ich hätte Sie niemals kennengelernt! Sie haben mich mit einem Lächeln auf dem Gesicht zerbrochen und sitzen nun wie eine Spinne im Netz, um mich vollends zu verschlingen...“

Bei seinen letzten Worten war Pierre etwas lauter geworden und nun sah man ihm die Erregung überdeutlich an. Schweißperlen rannen ihm über die Stirn; die Hände zitterten ebenso, wie seine Stimme und plötzlich erhob er sich so ruckhaft von seinem Stuhl, daß dieser mit einem lauten Krachen umkippte.

„...jawohl, ich bin verwirrt! Im Herzen getroffen von Ihren bösen Pfeilen, die Sie nun schon seit Monaten auf mich abschießen. Alles Gerede von Sympathie und Freundschaft war eine elendige Heuchelei von Ihnen, Messieurs Deforgue! Geben Sie’s doch zu! Ich war immer nur Ihr Ball, den Sie nach Belieben dahin treten konnten, wonach Ihnen Ihr perverser Sinn stand! Ausgenutzt haben Sie mich und benutzt wie eine billige Hafennutte! Ich hasse Sie, Deforgue! Ich hasse Sie!“

Selbst durch den umstürzenden Stuhl kein bißchen erschrocken und auch durch die heftige Attacke seines jungen Gesprächspartners unberührt, saß Deforgue noch immer da, als wäre alles, was gerade passierte, das normalste der Welt. Keine Regung in seiner Haltung oder seinem Gesicht zeigte auch nur einen Funken Erregung. Und noch immer waren es die gleichen listigen, kleinen Augen, die Pierre fixierten und fast belustigt bei seiner Empörung beobachteten.

„Mein lieber Freund...“ kam es unerwartet aus Deforgues lippenlosen Mund „...mein lieber Freund, Sie erregen sich völlig unnötig! Waren Sie es nicht, der die „Wahrheit“ als sein Steckenpferd bezeichnete? Na und? Was ist dann so schlimm, daß Sie sich hier so produzieren? Womöglich gehen Sie gleich mit den Fäusten auf mich los? Bitte bedenken Sie – ich bin ein alter Mann, der schon vom leichtesten Windhauch erschlagen werden kann. Und, Pierre, Sie wollen doch nicht die Wahrheit, die Ihnen so unendlich wertvoll ist, mit bloßen Händen töten?

Sie sind und bleiben – überflüssig, Pierre! Damit müssen Sie sich einfach abfinden. Natürlich fällt es Ihnen schwer, das einzusehen – aber es geht nun mal nicht anders, wenn Sie der Wahrheit so tief verbunden sind. Schauen Sie, junger Freund! Ich stehe zu dem, was mir mein Wahrheitsempfinden vermittelt – und es vermittelt mir nichts gutes über Sie! Abgesehen davon, daß ich Sie ganz sympathisch finde. Na und? Kann ich nicht auch ein wertloses Möbelstück ganz nett finden, ohne es mir gleich kaufen zu müssen? Nein, nein, Pierre! Sie haben mit echter Wahrheit nichts am Hut! Im Gegenteil! Sie sind die Pest, die sich als Medizin verkleidet hat...! Unehrlich, weich und unfähig, die Wahrheit als das zu begreifen, was sie ist: als Instrument echter Freundschaft. Sie mein Freund? Um Gottes Willen, Pierre. Um Gottes Willen! Alles, nur das nicht!“

Ohne Anteil am erregten Disput der beiden ungleichen Männer zu nehmen, stellte der Wirt den umgestürzten Stuhl wieder auf und legte Pierre mit leichtem Druck die mächtige Hand so auf die Schulter, daß ihm nichts anderes übrig blieb, als wieder Platz darauf zu nehmen. Wortlos wartete er, bis Pierre zusammengesunken am Tisch saß, um sich dann wieder hinter seinem Tresen irgendwelchen Arbeiten zu widmen.

Noch immer waren die beiden Männer am Tisch die einzigen Gäste im Bistro und noch immer war die Luft zum zerschneiden schlecht. Noch immer hatte sich die Haltung des Monsieurs Deforgue nicht verändert und auch Pierre saß wieder wie ein Häufchen Elend am Tisch. Anders als noch vor einigen Minuten war allerdings der Gesichtsausdruck des jungen Mannes. Mittlerweile schienen seine Augen aus den Höhlen zu quellen; sein Kopf zuckte wie von Krämpfen geschüttelt hin und her und aus den Schweißtropfen, die ihm die Stirne runterliefen, war nun eine wahre Sintflut geworden. Etwas schien Pierre sagen zu wollen, doch kam nichts außer einem sabbernden Stammeln aus seinem weitaufgerissenen Mund.

„...waum...ssssh...waum i....hab i tan...ssssh....“

Schaum bildete sich auf seinen Lippen. Weißer, ekliger Schaum. Nein! Jetzt sah man auch roten Schaum aus seinem schmerzverzerrten Mund quellen!

„...waum...waum...“

Zum ersten Mal lehnte sich Monsieurs Deforgue in seinem Stuhl zurück, ohne dabei den verschlagenen Ausdruck in seinen Augen zu verlieren.

„Lassen Sie mich raten, mein lieber Pierre! Bestimmt versuchen Sie mir eine Frage zu stellen, stimmt’s? Kann es sein, daß diese Frage „WARUM?“ lautet? Wenn Sie mich noch verstehen können, bitte eich Sie einfach, mit dem Kopf zu nicken, mein Bester. Lautet Ihre Frage „WARUM?“?

Aber der Befragte war nicht mehr in der Lage, seinen Kopf kontrolliert zu bewegen.

„Schon gut, Pierre, schon gut! Tun wir einfach so, als ob Sie genickt hätten. Also Sie fragen mich, warum es Ihnen so schlecht geht? Meine Antwort lautet: weil ich Sie – wie bereits angekündigt – vergiftet habe! Rattengift! Im Kaffee, Pierre. Brav und artig von meinem viel zu gutmütigen Freund und Bruder in den Kaffee gemischt. Sie erinnern sich doch, wie ich ihn darum bat?“

Mittlerweile war der junge Mann in seinen Todeszuckungen erneut vom Stuhl gerutscht und wand sich in unglaublichen Qualen auf dem Boden.

„Ihnen reicht meine Erklärung nicht? Macht nichts! Sie erinnern sich an Jeanette? Die süße kleine Jeanette, die unsterblich in einen Mann namens Pierre verliebt war? So sehr verliebt, daß sie sich dieser Ausgeburt an Falschheit hingegeben hat und ein Kind von ihm erwartete? Und nuin raten Sie mal, was aus dieser entzückenden Liebesgeschichte wurde! Als Jeanette erfuhr, daß dieser wahrheitsliebende Pierre bereits verheiratet war und er sich dann schnell aus dem Staube machte, als er von ihrer Schwangerschaft erfahren hatte, suchte sie die Erlösung in den Tiefen der Seine, Pierre! Sie ertränkte sich und ihr ungeborenes Kind...! Aus Liebe, Pierre? Wer weiß das schon!“

Obwohl der Todeskampf des jungen Mannes nun beendet war und er verkrümmt in einer Lache aus Blut und Erwürgtem lag, sprach Monsieurs Deforgue weiter:

„Mein Bruder, der ein nettes, kleines Bistro in der Nähe von Paris betreibt, konnte den Verlust seiner Tochter nie verwinden. Schließlich war sie sein einziges Kind und er liebte es mehr, als sein eigenes Leben. Lange drei Jahre quälte er sich mit dem Gedanken, daß er schuld sei, am Tod seiner Tochter. Ist das nicht ulkig, Pierre? Eigentlich hat dieser junge Bursche drei Menschen auf dem Gewissen, habe ich nicht Recht? Sagen Sie, was hätten Sie getan? Ich meine, wenn Sie der Vater wären?

Sehen Sie, mein junger toter Freund, Sie brauchen meine Frage wirklich nicht mehr zu beantworten. Nachdem wir meine Nichte beerdigt hatten, schlug ich meinem Bruder vor, das zu tun, wozu er alleine nicht fähig war. Und nun liegen Sie hier und schweigen!

Eigentlich hätte Ihnen doch die Ähnlichkeit auffallen müssen, Pierre! Was meinen Sie? Jeanette war wunderschön und jung und wir zwei sind alte, häßliche Männer? Mag sein. Aber – Hand auf´s Herz – finden Sie wirklich, daß Sie im Moment hübsch aussehen?“

Das niemand beobachten konnte, was sich im Bistro abspielte, lag ausschließlich an dem Schild, das für jeden sichtbar an der Tür angebracht war:

HEUTE WEGEN FAMILIENFEIER GESCHLOSSEN!

Nachdem Jaques und Albert Deforgue sich zwei Pernot mit Wasser gegönnt hatten, riefen sie die Gendarmerie an. Und zum ersten Mal seit drei Jahren zeigte sich auf dem Gesicht des Bistrowirtes ein zufriedenes Lächeln.

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