Walter Günther

Mutters Geburtstag

Mutters Geburtstag

(oder: Das obere Ende der Science Fiction)

Wir liegen schon den ganzen Nachmittag auf unserer blumenübersäten Wiese in der Sonne. Man hört das Meer und von Zeit zu Zeit spritzt schneeweiße Gischt über den Rand der niedrigen Felsen, die den feinsandigen Strand begrenzen. Der Wind trägt lauwarme Gerüche herüber. Es riecht nach Tang und Sommer.Opa spielt das "Brandenburgische Konzert" auf der Tuba, meine Schwester stopft den neunten Dominostein in ihr Kind und ich habe Zeit. Zwangspause, die schwarzen Löcher sind uns eingegangen. Also ohne Spaß und hört mir auf mit der dunklen Materie!

Außerdem hat Mutter heute Geburtstag.

Onkel Karl kommt so eben mit seinem Motorrad um die Ecke, das er hinten gegen einen kleinen Pilz lehnt. Er setzt sich neben uns ins Gras und trinkt bedächtig aus seiner grünen Metflasche. Eigentlich ist heute alles anders, oder später, genau ein Jahr später.

Oma sitzt bei ihrer Mutter auf dem Schoß und strickt vor sich hin. Meine Frau schaltet dauernd am Terrartor herum, bis sie ihm einen wütenden Fußtritt gibt, um sich den dicken Zeh auszurenken. Die Möven fliegen besonders hoch heute und wechseln dauernd ihre Farben.

Gott war auch eingeladen, doch im Moment ist es noch zu neutral und daher nicht zu sprechen. Außerdem hat es an solchen Tagen nie viel zu sagen, typisch Gott.

Bei Opa wird es jetzt ziemlich lustig. Irgend ein Typ aus dem 17. Jahrhundert ist mit seiner Geige eingelaufen und begleitet ihn bis zum Wasser.

Mir gefällt er. Mir gefällt heute alles.

Unten im Sand spielen sehr wichtige Männer "Börse" und "Atomkrieg" oder so ähnlich und meine kleine Nichte sagt die Integrölgleichungen der Absolutionstherorie in Reimform auf. Dreistein hätte seine helle Freude daran gehabt, denn den relativen Absolutismus haben wir schon immer abgelehnt.

Wenn Gott sich nicht plötzlich getrennt hätte, wäre es fast langweilig geworden, doch so haben wir wieder netten Gesprächsstoff bis zum Kaffeetrinken. Mal mit ihm, mal mit ihr.

Die Blumen duften, die Hummeln brummen, die Bienen summen und die Desoxyribonucleinsäure hält sich an ihr Konzept, wenn auch nur ungern.

Alles ist so ruhig und friedlich. Keiner hat Geschenke für Mutter und so soll es auch sein.

Die 'Menschen' unten am Strand werden vorübergehend etwas unruhig, denn meine Schwester hat ihnen versuchsweise die Straßen entfernt und alle Gedanken an Straßen. Ja und jetzt stehen sie da und wissen nicht mehr was das für komische Kästen sind, ihre Autos.

Meine kleine Nichte kriecht zu ihnen hinüber und beginnt sie behutsam zu streicheln. Das gefällt ihnen und sie stornieren "Börse" und "Atomkrieg".

Ich habe harte Schlaftage hinter mir. Die erste Zigarette danach schmeckt um so besser.

Oma und die anderen decken den Tisch. Es riecht himmlisch nach frischem Kaffee. Opa liest jetzt in seiner Lieblingsillustrierten. Er hat die Tuba ins Gras gelegt. Der Typ aus dem 17. Jahrhundert hat sich ins 20. verzogen. Mutter lacht, sie freut sich, alle sind gekommen.

"Es wird spät werden heute," sagt sie, "später als sonst."

Nach dem Kaffeetrinken nehmen wir unsere Mutter in die Mitte und wie immer an so einem Tag, gehen wir ins Meer.

Das Wasser ist Wasser und sehr angenehm. Wir schwimmen und tauchen und lassen uns von den Wellen herumrollen, bis der Sand aus den Ohren rieselt

Erschöpft und glücklich liegen wir am Strand. Dann ist es endlich so weit.

Mutter öffnet ihren Geist und wir schlüpfen hinein, wie damals vor der Geburt. Wie immer bestimmt sie der Länge der Nullzeit.

Sterne entstehen und vergehen. Sonnen sterben und werden neu geboren. Galaxien wirbeln umeinander, gefangen im Sog der Schwerkraft. Dimensionen werden multipliziert, dividiert, quadriert und potenziert und ausradiert. Endlose Dunkelheit erfüllt die Welt Alles scheint verloren.

Am Anfang ist das Wort.

Es werde Licht!

Gigantisch explodiert es auf einer unendlich kleinen Fläche, weitet sich aus, stabilisiert sich nach 10 hoch minus 1000000000000 Sekunden und sendet seinen Raum hinaus, um die Welt zu formen.

Nach einer Ewigkeit kehren wir wieder in die eigenen Köpfe zurück. Es hat genau keine Zeit gedauert. Jetzt ist alles wieder neu.

Dann kommt Vater. Wie immer zu spät. Er hält seine Pläne unterm Arm und macht ein wichtiges Gesicht. So kennen wir ihn. Er schenkt sich eine Tasse Kaffee ein. Seit zwei Milliarden Jahren merkt er nicht, dass wir ihn nur noch an den Randgalaxien-Dummies rumfummeln lassen. Er hat einfach zwei linke Hände, macht zu viel kaputt und außerdem trinkt er.

Doch heute ist das egal. Er nimmt sich die Tuba und spielt seine Fantasien und Opa versteht das nicht Na ja, modern Jazz mit galaktischen Synkopen. Opa denkt immer, das wären Aussetzer. Anschließend gesellt er sich zu Onkel Karl, der außer Motorrad fahren auch noch Auto fahren kann. Der Onkel reicht ihm eine zweite Metflasche und sie stoßen auf Mutter an.

Oma redet schon längere Zeit auf Frau-Gott ein, was diese höflich geschehen läßt.

Nun, Kaffeekochen konnte sie auch schon vorher, denke ich.

Gegen Abend essen wir Würstchen und singen Weihnachtslieder und die wundervoll geschmückten Tannenbäume sehen sehr schön aus, zwischen all' den Blumen.

Meine Frau führt ein langes Gespräch mit ihrer Katze, die mal wieder versucht hat, die Menschen unten am Strand zu fressen.

Diese sind gerade damit beschäftigt eine Modenschau oder so was zu veranstalten. Das habe ich schon heraus. Dieses körperfremde Gewebe auf ihrer Haut dient in erster Linie solchen komischen Modenschauen. Es muß damit zusammenhängen, dass sie nur in einem sehr eng begrenzten Spektralbereich die Farben wahrnehmen können.

Manchmal glaube ich auch, es sehen zu können, doch meine Schwester hält mich für verrückt und sagt immer, die Menschen sind nur kleine Punkte und ich soll mir nichts vormachen.

Minus-Gott latscht um sie herum und versucht sie zu erschrecken. Plus-Gott lacht sich kaputt. Er wird nie begreifen, wie man Spaß daran haben kann, so kleine Punkte zu erschrecken.

Außerdem ist es paradox. Wie kann man einen kleinen Punkt erschrecken?

Minus-Gott ist echt sauer. Er nähert sich Plus und beide verschwinden in der Neutralität.

Ein kleiner Blitz von etwa sechzehn Parsec Länge kündet von der Vergänglichkeit des Individualismus. Zurück bleibt Stille.

Null-Gott schweigt, was soll es auch sagen.

Wir sind mal wieder gottlos – gottlob.

Onkel Karl und Vater neutralisieren sich ebenfalls. Sie sind gerade ins Meer geflossen. Das Motorrad haben sie stehen lassen, für die Archäologen, meinten sie. Langsam werden alle müde. Oma und Opa gehen schlafen und wir umarmen unsere Mutter.

Die Wiese riecht immer noch nach Wärme und Erde, doch langsam wird es kühler.

Wenn jetzt nicht bald was passiert, denke ich........

Dann passiert es – die Sonne geht unter.

 

Erklärungen zum Text:

 

Dominostein...................: beliebte Süssigkeit                   Modern Jazz.................: versteht Opa nicht

Desoxyribonucleinsäur....: DNS                                              Gott.......................: nicht definiert

Schwarzes Loch.............: Sternentod                          Wasser..............................: Wasser

Met................................: alkoholisches Getränk         Mode.................................: unerklärlich


Parsec............................: parallaktische Sekunde       Synkope.............................: Gottes 'eins'  


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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.01.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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