Andreas Rüdig

Der literarische Regierungschef

Es ist angenehm, ein Regierungschef zu sein. Man kann arbeiten, wann man möchte. Man kann tun und lassen, was man möchte. Meine erste Amtshandlung war eine sehr erfreuliche. Ich habe mir einen Harem zugelegt. Na ja, Harem ist vielleicht nicht das richtige Wort. Ein weiblicher Beraterstab – der Ausdruck paßt vielleicht besser. Es sind sieben ausgesprochen hübsche junge Damen, die offiziell für mich arbeiten. Eine ist beispielsweise für die Kontakte zur Medienbranche, eine zweite für die Kontakte zum Handel, eine dritte für die Kontakte zur Kosmetik- und Wellnessbranche zuständig. Doch sie erfüllen noch eine weitere Aufgabe. Wenn meine Frau zu viel nervt, kann mein Harem für sie einspringen. Sie erfüllen diese Aufgabe wirklich hervorragend.
Ich mag es nicht, wenn Leute in der Öffentlichkeit Kaugummi kauen. Kaugummis mußten auf meinen Druck hin aus dem Handel verschwinden. Ich mag es nicht, wenn Leute in der Öffentlichkeit auf den Fingernägeln kauen. Ich mag es nicht, wenn Leute in der Öffentlichkeit flöten. Meine zweite Amtshandlung bestand darin, eine Sittenpolizei einzurichten, die solche Vergehen ahndet. Die Strafen können bis zur Amputation von Fingern und Unterkiefern gehen.
Ansonsten bin ich aber in der Bevölkerung gut gelitten. Ich bin ja auch viel unterwegs und daher – anders als meine vielen Vorgänger – auch nicht immer in der Presse präsent. Da ich reisewütig bin, gehe ich oft auf Staatsbesuch. Ich kenne inzwischen ganz Europas, weite Teile Asiens, Afrikas, Ozeaniens und Nordamerikas. Nur Südamerika ist noch ein weißer Fleck auf der Landkarte. Das kann ich aber noch nachholen.
Die deutsche Wirtschaft muß mich so weit wie möglich auf meinen Reisen begleiten. Anfangs gab es noch Schwierigkeiten damit. Es gab Widerstände. Ich mußte die Wirtschaftskapitäne mit der Polizei zuhause abholen lassen. Da haben die Leute eingesehen, daß sie mir zu gehorchen haben. Heute klappt aber alles.
Heute tut wieder die ganze Welt am deutschen Wesen genesen. Unser Export hat noch nie soviel Geld verdient wie zu meiner Zeit. Ich betreibe sowieso eine wirtschaftsfreundliche Politik. Ich konnte beispielsweise unserer Filmindustrie auf die Beine helfen. Die Regierung gründete eine staatliche Filmproduktionsgesellschaft. Ihr erster Auftrag: Sie sollte die Städte, Länder und Landschaften auf Celluloid bannen. Sie sollte wichtige Unternehmen, Unternehmerpersönlichkeiten, Kirchen, die wichtigsten Sportvereine und wichtige Kulturschaffende porträtieren. Heute ist die Firma ein wichtiger Produzent von Musikvideos. Die Firma ging früher auf Musiker zu und erstellte mit ihnen Musikfilme. Um die Profitabilität und Wert des Unternehmens zu erhöhen, verfilmt die Firma heute die Bücher von Edgar Wallace, Agatha Christie, Dorothy L. Sayers, Ngaio Marsh und Francis Durbridge.
Der Vertrieb der Filme ist einfach. Sie werden im Fernsehen und Kino gezeigt, dann als Video bzw. DVD veröffentlicht und dann in unseren Auslandsvertretungen vertrieben. So bekommt die Firma wenigstens einen Teil der Produktionskosten ersetzt. Auf die Ausgabenseite brauchte sie sowieso nicht zu achten. Die Steuerzahlen kamen für alle Verluste auf. Inzwischen können wir das Unternehmen mit Gewinn verkaufen.
Ein staatlicher Schallplattenverlag mit Musik- und Literaturproduktionen wird seine Nachfolge antreten. Hier soll ein umfangreiches Repertoire klassischer Musik- und Literatur entstehen.
Ich habe auch ein Übersetzerseminar im Niederrhein errichtet. Das ist eine trickreiche Einrichtung. Über die Jahre hinweg erhielten die Botschaften Geld, um vor Ort Bücher zu kaufen. Vordergründig erwarben sie Prosa und Lyrik. Doch sie kauften auch viele Sach- und Fachbücher. Bevorzugt Naturwissenschaften und Technik, aber auch Gesellschaftswissenschaften und Sprachen. So waren viele Dolmetscher und Übersetzer über lange Zeit damit beschäftigt, diese Werke ins Deutsche zu übersetzen. Die normalen Bücher wurden dann auf dem allgemeinen Buchmarkt verscherbelt. Die übrigen Werke wurden dann gezielt in der Wirtschaft lanciert. So konnten wir dazu beitragen, die Kosten für die Industriespionage deutlich zu senken. Englisch, Französisch, Spanisch, Chinesisch und Russisch sind natürlich die gängigen Sprachen. Aber auch Isländisch, Japanisch, Hindu, Aramäisch oder Finnisch sind an dem Überseminar vertreten – um nur einige Beispiele zu nennen.
Auch die Deutschland AG nahm inzwischen deutlich an Fahrt auf. Zusammen mit dem Wirtschafts- und Finanzministerium legte ich diverse Anlage- und Treuhandfonds auf. Wir sammelten damit Billionenbeträge. Ehe Osteuropa sich versehen hatte, kauften wir die dortige Infrastruktur auf: Krankenhäuser, den Öffentlichen Personen- und Güter Nah- und Fernverkehr, Strom- und Wasserversorger inklusive der Kanalisation und Müllentsorgung, Theater, Schulen und öffentliche Bibliotheken. Deutsche Firmen modernisierten diese Einrichtungen auf Teufel komm heraus. Deutsches Material kam dort zum Einsatz. Das einheimische Personal wurde in Deutschland geschult. Die deutschen Firmen verdienten sich eine goldene Nase. Die Wertsteigerung der osteuropäischen und ex – sowjetischen Infrastruktur war enorm. Inzwischen sind die Projekte abgeschlossen. Wir konnten sie an französische, britische und amerikanische Investmentfonds verkaufen. Jeder deutsche Fond konnte letztendlich riesige Gewinne an die Anleger auszahlen. Unser nächstes Projekt heißt Bewässerung der Sahara. Wir legen wieder Fonds auf. Sie sollen in Nord- und Westafrika Meerwasserentsalzungsanlagen bauen und von da aus riesige Farmen bewässern. Die Experten aus dem Entwicklungshilfeministerium arbeiteten schon ganz konkrete Pläne aus, was wann wo zu erledigen ist. Wir werden auch damit ein Heidengeld verdienen. Der Vorteil dieser Fonds? Sowohl öffentliche Hand als auch Privatwirtschaft verdienen dabei.
Das Geld, das wir im Ausland verdienten, wird gut in Deutschland, in der Heimat, investiert. Die Städte müssen uns regelmäßig melden, welcher Investitionsbedarf für die lokale Infrastruktur besteht. Dabei spielt es keine Rolle, ob Straßen und Gebäude renoviert, Büchereien und Musikschulen größere Anschaffungen erledigen, städtische Museen, Schauspielhäuser und Opern Investitionen tätigen, Stadtwerke und ÖPNV aufgerüstet oder andere Infrastrukturmaßnahmen finanziert werden sollen. Wichtig ist aus meiner Sicht, daß die Städte zu guten Wirtschaftsstandorten werden.
Vom Wirtschaftsministerium war die Idee gekommen, Wirtschaftsbereiche wie erneuerbare Energien, der Life – Science – Bereich oder die Ozeanographie zu fördern. Das Wirtschaftsministerium übernahm auch die Federführung. Es arbeitete erfolgreich. Diese Branchen siedeln sich zunehmend hier in Deutschland an.
Ich kann mich nun allmählich aus der aktiven Politik zurückziehen, um als „graue Eminenz“ im Hintergrund zu arbeiten. Ich war 45 Jahre Regierungschef. Als ich mit 21 Jahren eher aus Verlegenheit in das Amt gewählt worden war, sollte niemand ahnen, daß ich mich so lange in dem Amt halten würde. Aber egal. Meine Rente ist gesichert.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 13.01.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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