Larissa Müller

Isabell

Mit schnellen Schritten geht er über die Autobahnbrücke. Schwere Laster fahren an ihm vorbei und zerschneiden mit ihren Lichtern die Dunkelheit der Nacht. Ihr Luftzug reißt ihn mit, aber er spürt nicht, wie er sich der Fahrbahn immer mehr nähert. Er hört auch nicht ihren ohrenbetäubenden Lärm.Es ist still in seinem Kopf, er nimmt nichts war.

Er will nur noch mal kurz raus, hatte er seiner Mutter gesagt. Einen klaren Kopf bekommen. Ob alles in Ordnung sei, hatte sie gefragt.

Natürlich. Alles klar. Alles normal. Dabei hatte er gelächelt und sie hatte ihm geglaubt. Aber es war nichts klar. Schon so lange nicht mehr. Jeden Abend spürt er diesen Schmerz, jeden Morgen sieht er das Gesicht. Sie.

 

„Ich hab dir schon sooft gesagt, dass es nicht so ist, aber du bist so verdammt stur köpfig!“

Er spürte wie die Wut in ihm aufkam. Für wie dumm hielt sie ihn?

„Ich bin nicht stur köpfig, ich weiß einfach, dass es anders ist als du sagst. Warum starrt er dich dann die ganze Zeit so an? Warum betatscht er dich dauern?“

„Er betatscht mich nicht. Oh Gott, Jan, du verstehst auch gar nichts!“

Das verletzte ihn. Er versuchte immer sie zu verstehen. Dass sie ihm das vorwarf, trübte seine Vorstellung ihrer tiefen Verbundenheit.

„Jetzt starr mich nicht so an!“ Sie schüttelte verärgert den Kopf und hastete vor.

 

Die Sterne leuchten hell in dieser Nacht. Es erinnert an die Sommerabende, die er mit ihr auf dem Dach verbracht hatte. Sie lagen da und blickten zum Himmel. Sie war ihm so nah, dass ihre Haare seine Nasenspitze kitzelten. Er liebte ihren Duft und wünschte sich hier ewig mit ihr liegen zu können.  Stundenlang redeten sie. Bei ihr hatte er das Gefühl für alles Verständnis zu finden. Er hörte ihr gerne zu. Ihre Stimme war so  weich und zart.

Aber er hatte ihre Stimme schon lange nicht mehr gehört. Es ist schon so viel Zeit vergangen seit er ihren Duft eingeatmet hatte.

Wieder rast ein Auto vorbei. Es streift ihn und er kommt ins Torkeln. Er hält sich an der Reling fest und blickt in die Schwärze des Flusses, der unter ihm in Strömen fließt. Aber immer noch ist nichts in seinem Kopf außer Stille. Stille, die alles verdrängt.

Er beginnt zu weinen. Er schreit und weint. Brüllt den Fluss unter sich an. Seine Stimme geht im Lärm der Straße unter. Und er selbst kann sich nicht hören. Spürt nur wie ihm Tränen über das Gesicht rennen, wie seine Kehle zerreißt, als er die kalte Luft heftig ein und ausatmet.

Was würde er dafür geben noch einmal in ihr Gesicht zu blicken? Ihr noch einmal zu sagen, dass sie alles für ihn war und dass er nichts mehr liebte als sie?

 

Er rannte ein paar Schritte und hatte sie wieder eingeholt.

„Hör mir wenigstens zu! Ich sehe doch, wie er dich anguckt, wenn du es nicht glaubst, dann tu es wenigstens für mich!“

Sie sah ihn verständnislos an. In diesem Moment kam sie ihm soweit weg vor, so unerreichbar. Plötzlich wollte er alles vergessen. Ihren Streit, diesen scheiß Typen aus dem Theater, der sich ständig an sie ranmachte, die anderen, alles. Er wollte nur noch alleine sein mit ihr. Irgendwo.

„Ich werde meine Rolle bestimmt nicht absagen. Verstehst du nicht, was das für eine Chance ist? Warum kannst du mir nicht einmal vertrauen, Jan?“

Er sah wieder das schäbige Gesicht vor sich, dass sie anstarrte. Seine Stielaugen studierten sie von oben bis unten. Sie in ihrem Kleid als Julia. Sie war so wunderschön und dieser Ekel von Chef nutzte sie aus, das wusste Jan.

„Das wird nicht deine einzige Chance an einem Theater sein. Du bist so talentiert, jedes andere wird dich sicherlich auch nehmen. Du musst dich nicht vergeuden in dieser herunter gekommenen Baracke!“

Tränen stiegen in ihre Augen. Sie sagte etwas, was in dem Lärm der Straße unterging und begann weg  zu rennen.

 

Er hat das Gefühl für die Zeit verloren. Sein Hals ist ausgetrocknet und die Tränen auf seinen Wangen getrocknet. Er richtet sich auf.

Es ist sehr kalt und er hat seine Jacke vergessen. Aber es macht ihm nichts aus. Es fühlte sich ein bisschen so an wie früher.  

Stundenlang saßen sie auf der Bank im Park und wenn es spät wurde, legte er ihr seine Jacke über. Das sei nicht nötig, sagte sie leise und er blickte in ihre Reeaugen und wusste, dass er alles tun würde, um diesen Augenblick zu behalten.

Aber jetzt ist sie nicht mehr da. Aus dem Leben gerissen.  Aus seinem Leben gerissen.

 

Er lief ihr hinterher aber sie rannte immer schneller. Ein Gefühlsschwall aus Enttäuschung, Reue und Wut überkam ihn und er schrie: „Warte doch! Das ist kindisch, jetzt warte!“

Doch sie ignorierte ihn.

„Warte doch endlich!“, er hatte sie fast eingeholt und riss sie an der Schulter herum. Fester als er wollte.

Wütend blickte sie ihn an. „Lass mich!“, zischte sie.

„Das ist kindisch! Hör mir zu, du verstehst nicht…“, begann er aber sie unterbrach ihn: „Lass mich einfach in Ruhe, Jan!“

Mit diesen Worten drehte sie sich um und rannte auf die Straße.

Er öffnete den Mund und wollte ihr hinter her rufen, dass sie total überreagierte, warum regt sie sich eigentlich so auf, wegen so einer Kleinigkeit ist das doch total übertrieben, sie soll ihm wenigstens zu hören, soll wenigstens versuchen ihn zu verstehen, aber sie rennt einfach weg, sie haben bisher alles geschafft, warum können sie es nicht auch jetzt versuchen.  

Aber er sagte nichts. Konnte nichts sagen. Hörte das Donnern des Lasters. Sah ihn rasen. Sah sie laufen. Stand da wie gelähmt und konnte nur beobachten wie ihr zarter Körper von dem metallenen Monster erfasst wurde.

 

Es ist ruhig geworden auf der Straße. Wie spät ist es? Drei, vier Uhr?

Dann fasste er einen Entschluss. Er ist jetzt ganz entspannt. Und geht langsam auf die Straße zu.

Lass uns tanzen, ich will jetzt gleich hier tanzen, ruft sie in seiner Erinnerung. Wir tanzen direkt hier, ja im Bahnhof! Warum nicht?

Sie lachte und drehte sich, stieß die anderen Leute an und er lacht heute noch mit ihr. Lacht und weint.

Er geht vom Bordstein auf die Straße.

Ich liebe Kirschen, ich liebe den Sommer, ich liebe das Meer und ich liebe dich Jan! Ich liebe dich! Mehr als alles andere! Ihre Stimme hallt in seinem Kopf, er will sie nicht wieder verlieren, er will sie niemals wieder verlieren.

Er geht weiter. Eine Fahrspur hat er überquert. Hinter ihm rast ein Auto vorbei, er merkt es nicht, er merkt nichts mehr, er lacht und weint und will ihre Stimme nicht wieder verlieren.

Lass mich nicht allein, Jan, bitte, lass mich nicht allein, flüstert sie bittend in sein Ohr.

Er schüttelt den Kopf. Ich werde dich nie wieder alleine lassen mein Schatz, nie wieder.

Vor ihm rast ein Laster, einen Moment hat er Angst ihre Stimme zu verlieren, aber da ist sie wieder.

Ich vermisse dich, wo bist du, ich vermisse dich so sehr, ihre Stimme klingt verzweifelt.

Ich lass dich jetzt nie mehr allein, spricht er in die Nacht, Tränen in den Augen. Ich werde dich nie wieder alleine lassen.

Er legt sich auf die Straße. Spürt den kalten Asphalt, blickt in den Himmel und seine Stimme geht im Schluchzen unter: Ich lass dich nie wieder allein, nie wieder!

Dann legt er seinen Kopf zur Seite. Die Lichter eines Lasters preschen durch die Nacht auf ihn zu und er sieht in das Licht und lächelt.

„Isabell“, flüstert er und schließt die Augen.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.01.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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