Michael Simrock

Eine Drachengeschichte

Hoch in den Bergen lag ein kleines Tal. Die Berge schützten es vor den schneidenden Winden, sie hielten es in ihren steinernen Armen wie eine Mutter ihr Kind. Ihre anfangs sanften Hänge waren im Frühling mit Blumen bewachsen, und muntere Bäche liefen von ihren schneebedeckten Gesichtern und machten den Boden weich und fruchtbar.
Deshalb lag in der Mitte des Tales ein kleines Dorf.
Wenn die Sonne aufging, spielte ihr Morgenlicht auf den westlichen Hängen wie ein Kätzchen, sprang und funkelte vergnügt über die Wiesen und Felder, über Steine und Felsen die steilen Wände hinauf, bis zu den von ewigem Schnee bedeckten Gipfeln, scheinbar ganz nahe, aber in Wirklichkeit fern und unerreichbar hoch.
Mittags wärmten ihre Strahlen die Gärten auf der Nordseite, in denen Äpfel wuchsen und bunte, süße Beeren, Gemüse und köstliche, herbe Gewürze. Dann schien sie auf die Köpfe und Rücken der Menschen, die ihrer langen, harten Tagesarbeit nachgingen, denn so weit oben in den Bergen ist es selbst im Sommer nicht warm, und die Menschen müssen fleißig sein, wenn sie im Winter nicht hungern wollen.
Abends lag ihr rotes Licht ruhig auf den kleinen, dornigen Bäumen im Osten, die sich mit ihren Wurzeln fest an die Steine klammerten und aus deren dunklen Blättern die Menschen einen bitteren, gesunden Tee kochen konnten.
Oft standen dann auch die Bewohner des Tales still beieinander und hielten ihre Gesichter in den letzten Schein, dachten ein wenig darüber nach, was ihnen der Tag gebracht hatte, und gingen dann in ihre Häuser und in ihre Betten, aus denen sie die Kälte der Nacht fernhalten konnten.
 
 
Niemals aber blickte jemand in diesem Tal nach Süden.
 
 
Es ist nicht leicht, in einem Dorf zu leben, das so weit weg ist vom einfachen Leben im Flachland, zu dem nur wenige, verborgene Wege führen, die auch nur kurze Zeit, im Sommer, überhaupt gegangen werden können. Es gab zuwenig Spaß und viel zuviel Arbeit, fand Lana, und überhaupt keine richtigen Freunde.
Lana lebte mit ihren Eltern und ihrem großen, lauten Bruder auf einem Hof ganz am Rand des Dorfes. Während ihr Vater sich um die Hühner kümmerte und Schuhe machte und ihre Mutter aus Wolle warme, praktische Kleidung, während ihr dummer, starker Bruder auf dem Feld ackerte und schwitzte, hütete Lana auf den Wiesen über dem Dorf die kleine Schafherde.
Schafe sind törichte Tiere, die sich leicht erschrecken, und wenn sie sich erschrecken dann rennen sie einfach los. Und oft stecken sie anschließend in den dornigen Ästen der knorrigen Bäume, oder fallen in irgendwelche Spalten und Löcher im Bergfelsen, und es ist eine Heidenarbeit sie wieder frei zu bekommen.
Dann wieder, wenn sie laufen sollen, wollen sie nicht, sondern bekommen ein stures Gesicht - so eines wie ihr Bruder, fand Lana - und bleiben einfach stehen und müssen gezerrt und geschubst und angeschrieen werden.
Aber vor allem war es wichtig, auf die Schafe aufzupassen, weil sie der Schatz des Dorfes waren, weil ihr Fleisch, ihre Wolle und ihre Milch begehrt waren bei den Räubern.
Von Zeit zu Zeit kamen die Wölfe aus dem Schnee der Berge geschlichen, hungrige, starke Wölfe mit kleinen, roten Augen und großen, starken Zähnen, die sich die Lämmer holen wollten; und Lana musste dann laut um Hilfe rufen.
Die Wölfe konnten sehr gefährlich sein, aber keiner fürchtete sich vor ihnen, die Dorfbewohner kamen angerannt und schwenkten Fackeln und schrieen und warfen Steine; und die Wölfe rannten davon und suchten sich irgendwo weit weg ein leiseres Essen.
Manchmal kamen menschliche Räuber aus den Bergen, böse Männer mit Messern und Schlingen, um die Schafe zu stehlen. Die Räuber waren noch gefährlicher, und Lana durfte dann nicht rufen, sondern musste schnell und leise ins Dorf laufen und alle Dorfbewohner herbeiholen. Auch vor den Räubern hatte in diesem Dorf niemand Angst. Wenn Lana sie entdeckt hatte, dann kamen die Dorfbewohner mit Knüppeln und Mistgabeln gerannt, und die Räuber bezogen oft schlimme Prügel, bevor man sie davonrennen ließ.
 
 
Und doch gab es etwas, vor dem die Menschen in dem Dorf schreckliche Angst hatten.
 
 
Eines Tages, Lana spielte gerade mit dem kleinen Bach, der mitten zwischen den Schafen hindurch floss: Sie musste darüber springen und so dicht am Wasser landen wie möglich, aber sie durfte dabei nicht nass werden; eines Tages also kam der Vogel.
Es war ein gewaltiger Vogel, der größte den Lana je gesehen hatte. Er hatte dunkle Federn und riesige Füße mit scharfen Krallen und seine Flügel schienen so breit wie der Garten vor Lanas Haus.
Der Vogel kreiste wohl schon eine Weile am Himmel, als Lana ihn entdeckte, schraubte sich langsam herunter auf die kleinen Lämmer zu, Runde um Runde flog er und wurde dabei immer größer. Lana wusste nicht was sie machen sollte, bestimmt wollte der Vogel mit dem großen, scharfen Schnabel und den schrecklichen Krallen den armen Lämmern etwas tun, und sie, Lana, musste ihn hindern, weil sie ja auf die Schafe aufpassen sollte. Also sprang sie auf und ab und schrie und fuchtelte mit ihren Armen, aber der Vogel kreiste weiter, er kam näher und näher.
Lana hob ein paar Steine vom Boden auf und warf sie nach dem Vogel, aber sie traf nicht und der Vogel störte sich nicht daran. Er zog nun kleinere Kreise, genau über dem Lamm, das sich vor einigen Tagen an einem scharfen Felsen das Bein verletzt hatte und deshalb nicht weglaufen konnte.
Da wurde Lana auf einmal furchtbar wütend und sie zog ihre Schürze aus, legte eine Handvoll Steine hinein, ließ sie um ihren Kopf kreisen und schleuderte sie mit aller Kraft nach dem Vogel, so dass sie pfeifend durch die Luft rasten.
Diesmal trafen die Steine den Vogel, und sie trafen ihn so hart, dass Lana hören konnte wie sie unter den Federn auf die Haut des Vogels klatschten. Der Vogel krächzte schrecklich und schwankte in der Luft, einen Moment schien es als würde er einfach abstürzen und als lebloser, riesiger Federhaufen zwischen den Schafen landen, aber dann fing er sich und flog unsicher davon. Die Schafe blökten laut und Lana stand mitten unter ihnen und zitterte vor Schrecken und Wut und vor Stolz, denn sie hatte alleine und ohne Hilfe den großen Vogel verjagt.
 
 
Als an dem Abend ihr Bruder von seinen Kartoffeln reden wollte, da kam sie ihm zuvor und erzählte laut wie tapfer sie gewesen war. Vom Riesenvogel und davon, dass sie keine Angst gehabt hatte, dass sie nie mehr Angst haben würde.
Ihre Eltern lobten sie und waren sehr stolz auf sie, und ihr Bruder aß seine Suppe und sagte gar nichts, aber er guckte unfreundlich. Und später am Abend kam er in ihre Kammer um sie zu verspotten.
"Soso, kleine Lana Vogelschreck!", sagte er, "Du hast vor nichts mehr Angst?"
"Nein", sagte Lana stolz. "Nie wieder!"
Ihr Bruder schielte und beugte sich vor: "Doch, die hast Du wohl, weil Du gar nicht weißt was es für schlimme Wesen gibt. Es gibt Wölfe, böse, hungrige Wölfe!"
Aber Lana hatte schon Wölfe gesehen, und wie sie jaulend davonrannten, und lachte nur.
Das gefiel dem Bruder gar nicht, und er fuhr fort: "Und dann gibt es die schlimmen Räuber mit ihren Messern und ihren Säcken, die kleine Mädchen verschleppen können..."
Aber Lana hatte ja auch schon gesehen wie die Räuber verprügelt wurden und jammernd zurück in die Berge hinkten, also musste sie noch mehr lachen.
Da bekam ihr Bruder ein ganz böses Gesicht und er sagte: "Und das Schlimmste, das Allerschlimmste sind die Berge im Süden. Denn dort wohnt ein Drache!"
 
 
Vielleicht wäre Lana jetzt besser eingefallen, dass niemand in dem Dorf je nach Süden ging, oder auch nur nach Süden blickte. Dass die Dorfbewohner manchmal, wenn der Wind von Süden wehte, den Geruch alten Silbers und die leisen Töne zerbrechender Schneeflocken in sich tragend, blass wurden und die Schultern hochzogen. So, als würde ihnen eine eiskalte Hand über den Rücken streicheln.
Aber Lana war noch so aufgeregt und übermütig, und deshalb sagte nur sie: "Dann werde ich nach Süden gehen. Und den Drachen auch wegjagen!"
Und einen wunderbaren Moment lang sah sie in den Augen des großen Bruders Erschrecken und Respekt.
Dann lachte er verächtlich und sagte nur: "Wirst Du nicht. Weil Du ja doch Angst hast!" und ging hinaus, und Lana nahm sich fest vor ihm zu beweisen dass er sich irrte.
Und mit diesem Vorsatz schlief sie ein.
 
 
Natürlich war es leicht so etwas zu beschließen, aber furchtbar schwer umzusetzen. Die Hühner mussten gefüttert und die Schafe gehütet werden, die Eltern hatten immer so viele Aufgaben für sie und abends war sie hungrig und müde.
Einige Zeit verging, aber in einer Nacht träumte Lana von dem großen Vogel. Er saß auf den Schafen und lachte sie aus, und das Lachen war hässlich und klang wie das ihres Bruders. Als sie aus dem Schlaf hochfuhr, war es draußen noch dunkel, aber sie zog sich sofort an, Kittel und Rock und Schürze und einen dicken, warmen Mantel, und lief hinaus in die Dunkelheit und nach Süden davon.
 
 
Eigentlich war es gar nicht schwierig nach Süden zu gehen. Obwohl die Sonne noch nicht aufgegangen war, war der Himmel bereits grau und begann sich im Osten zu röten. Der Berghang stieg sanft an, und immer wenn Lana vor Felsen stand, die ihr den Weg versperren wollten, fand sie eine Möglichkeit darum zugehen, darüber zu klettern oder einmal sogar sich darunter hindurch zu quetschen. Und obwohl sie immer höher kam, und später, als die Sonne längst vom Himmel schien, die Felsen immer häufiger und widerspenstiger wurden, kam sie gut voran.
Natürlich wusste sie nicht wie weit sie würde laufen müssen, aber immer wenn sie anhielt um zu überlegen ob sie vielleicht umkehren sollte, hörte sie wieder das Lachen des Vogels. Also lief sie, und kletterte, und kroch, den ganzen langen Tag über bis zum Abend.
Als der die Sonne den Rand der westlichen Berge schon fast berührte, ging es nicht mehr weiter. Sie stand vor einer Felswand, so glatt wie die eines Hauses, aber viel höher, und in beide Richtungen streckte sie sich soweit Lana sehen konnte. Nachdenklich ging sie die Wand entlang, zuerst in die eine Richtung, aber da ging es bald nicht mehr weiter, dann in die andere.
Und dabei überlegte sie wieder, ob sie jetzt nicht zurück laufen sollte, aber nun war sie so weit weg von daheim, es war schon Abend und in der Dunkelheit würde sie sich verirren und verletzen.
Und dann sah sie eine Öffnung kurz voraus und eilte darauf zu, um in der dort erwarteten Höhle die Nacht zu verbringen.
 
 
Es war aber keine Höhle, es war ein kleiner Durchstieg, der sich zu einem Hohlweg zwischen den Felsen öffnete. Im trüb werdenden Licht tastete sie sich hindurch und sah nach einer kleinen Weile wieder Helligkeit voraus, der Spalt öffnete sich in einen kleinen Talkessel mit silbrig glänzenden Wänden, die im Abendsonnenlicht freundlich glitzerten.
Vor ihr führte eine Art Treppe hinunter auf den Grund des Tales, sie sprang die Stufen hinab bis diese zu steil wurden, und dann setzte sie sich hin und rutschte den restlichen Weg bis zum Talboden. Dort stand sie auf und sah sich um.
Einen weiteren Moment lang sah sie, was sie schon aus der Öffnung wahrgenommen hatte, Talkessel, Wände und Treppe, und dann, in einem entsetzlichen Moment der Erkenntnis lösten sich die Formen auf und setzten sich für das Auge neu zusammen, wurde aus den Felsen Glieder und Flanken, aus den Treppenstufen riesige Schuppen; hoben sich Lider über mühlradgroßen Augen, bohrten sich riesige Krallen durch Gras, Erde und Felsen, drehte sich ein dreieckiger Kopf in ihre Richtung, der zu groß, viel zu groß schien um sich überhaupt bewegen zu dürfen.
Tatsächlich. Im Süden wohnte ein Drache.
 
 
Lana war wirklich ein tapferes Mädchen, sie schrie und weinte nicht, auch als der Drache mit einem Grollen, das in den Ohren leise klang, aber den Boden zittern ließ, seine langen, scharfen Zähne entblößte. Stattdessen dachte sie nach. Steine werfen würde diesmal nichts nützen, die silbernen Schuppen waren härter als jeder Felsen. Ihn mit einem Stock zu schlagen war unmöglich, sie konnte nichtmals hoch genug hinaufreichen.
Feuer mochte ihn vielleicht ärgern, zornig machen, aber sicher nicht verjagen. Außerdem war die Fackel in ihrem Gepäck verstaut.
Und als sie soweit gedacht hatte, sich völlig klar gemacht dass es nichts mehr gab das sie tun konnte, nichts das sie noch retten könnte, da hörte sie auf zu denken. Stattdessen begann sie zu singen.
Sie sang für sich ein Abschiedslied. Angesichts des riesigen Drachen sang sie, ein Lied ohne Worte, ein Lied direkt aus ihrem Herzen. Sie setzte sich vor ihm auf den Boden, dort, wo die riesigen Krallen im Felsen staken, mit geschlossenen Augen. Ihr Gesang perlte wie klares Wasser im Bach, auf und ab, und erst nach einiger Zeit wurde ihr klar, dass ihr nichts geschehen war, dass sie immer noch auf dem Boden saß und sang, obwohl sie doch längst in den gewaltigen Kiefern des Drachen hätte verschwunden sein müssen. Also öffnete sie die Augen wieder und sah dem Drachen ins Gesicht, der sie verwundert betrachtete.
Und jetzt, als sie zum ersten Mal Zeit hatte ihn richtig anzusehen, da sah sie auch wie schön er war, trotz aller Größe und Wildheit, sah dass seine Augen klug und alt waren, voller Wissen und Schmerz, und dass das Funkeln auf seinen Schuppen nicht von der Sonne herrührte, sondern von einem inneren Licht.
 
 
Als ihr Lied endete und es still, ganz still wurde in dem Rund, das der Leib des Drachen umschloss, da senkte dieser sein Haupt auf seine Vorderpfoten und sprach zu ihr, sprach in ihrer Sprache mit einer Stimme, die laut war und doch wieder nicht, die so hell war wie das Klingen winziger Silberglocken und doch die Felsen erschütterte, einer Stimme, der eine besondere Melodie innewohnte, ohne dass Lana die Töne hätte unterscheiden können.
"Sieh an", sagte der Drache, "Ein Menschenwesen. Es ist lange her, dass sich euresgleichen hierher verirrt hat!"
"Oh", platzte es aus dem überraschten Mädchen heraus, "Es waren schon andere hier?"
Lider senkten sich, beschatteten die glänzenden Augen, klaren Seen im Winterschnee gleich.
"Selten." gab der Drache zu. Und zu Lanas Überraschung klang seine Stimme wehmütig.
"Wer bist du?", fragte der Drache, "was hat Dich hierher geführt? Und warum hast Du gesungen?"
Das waren nun viele, sehr schwierige Fragen, und Lana war sich nicht sicher, warum, aber sie begann zu erzählen. Von den Wölfen und den Räubern, vom Bruder. Und von dem Vogel, dem großen, dunklen Vogel, und wie sie sich gefühlt hatte als sie ihn verjagen konnte.
"Lana", sagte der Drache, als sie schwieg. "Kleine Lana Vogelschreck. Du hast den großen Vogel verjagt, und wusstest dabei doch gar nicht was er eigentlich wollte. Er war Dir fremd, da hast du Steine nach ihm geworfen. Du hast ihn verletzt und er ist geflohen und du hast Dich stark gefühlt. Und da wolltest du auch noch mich verjagen."
"Nein!", rief Lana erschreckt, und dann, als sie in die wissenden Augen sah, leise, verschämt“, ... doch. Ja."
"Und wenn der Vogel nicht böse war?", fragte der Drache. "Wenn er einen Platz zwischen den Schafen suchte um sich zu wärmen? Sich auszuruhen und zu verbergen?"
"Was", fragte er, "wenn er im Wunsch nach Frieden gekommen war? Würdest du dich dann immer noch stark fühlen, weil Du ihn verjagen konntest? Ihm die Gelegenheit nehmen, zu ruhen, ihm Schmerz zufügen damit dein Bruder dich bewundert?"
Demütigung und Scham brannten in Lanas Hals, und sie flüsterte: "Nein"
"Aber Du hast ihn nicht gefragt. Du hast nicht gewartet, sondern Du hast ihn verletzt!"
"Das tut ihr Menschen immerzu, kleine Lana Vogelschreck", sagte der Drache und blinzelte erneut.
"Wenn ihr etwas nicht kennt, habt ihr Angst, und wenn ihr Angst habt, dann wollt ihr wehtun, dann wollt ihr verjagen oder töten."
Lana dachte an das klagende Krächzen des Vogels und musste weinen. Der Drache hatte ja Recht.
"Und du?", schniefte sie, "willst auch nichts Böses. Aber niemand weiß das, richtig?"
"Oh, sie wussten es. Früher. Damals war ich ihr Freund, ihr Ratgeber. Sie kamen zu mir um Wissen. Und dann kamen sie zu mir um Hilfe, weil ich größer war als sie, und stärker. Und am Schluss kamen sie, damit ich ihre Feinde verjage."
Lana dachte an die Wölfe, und wie einer davon dem Dorfschmied die Hand zerbissen hatte, so dass der fast ein Jahr lang keinen Hammer halten konnte.
An die Räuber, und wie sie mit ihrem Messer auf die arme Frau vom Gerber eingestochen hatten, die danach fast gestorben wäre und nun so blass war und nicht mehr gut laufen konnte.
Wie leicht der Drache sie alle hätte davonjagen können, ohne dass jemandem etwas geschah.
"Und", fragte sie gespannt, "Hast du ihnen geholfen?"
"Ja", sagte der Drache. Aber ein Misston schepperte in der Melodie seiner Stimme, und Lana begriff dass es nicht die Art Hilfe gewesen war, die sie sich vorgestellt hatte.
Sie sah wohl ärgerlich aus, denn der Drache wechselte das Thema: "Weißt du, Lana, warum du den großen Vogel verjagen konntest?"
"Natürlich!", antwortet sie schuldbewusst, "weil ich ihm weh getan habe."
"Aha.", sagte der Drache, "Aber warum konntest du ihm weh tun? Warum hast DU ihn verjagt und nicht dein Bruder?"
"Mein Bruder", erklärte sie ihm, "war doch gar nicht da!"
"Und wenn er da gewesen wäre, hättest du dann den Vogel verjagen können?"
Darüber musste Lana erst nachdenken. Nein, eigentlich nicht. Sie hätte gewartet was ihr Bruder tun würde. Aber ihr Bruder war langsam, wahrscheinlich hätte er nichts getan. Das sagte sie dem Drachen.
"Und warum", fragte der weiter, "hattest du nicht soviel Angst vor dem Vogel, dass du auch nichts getan hast?"
Wieder musste Lana überlegen. Der Himmel über ihnen wurde dunkel, aber im sanften Licht des Drachen war ihr gar nicht kalt und ungemütlich, also überlegte sie in Ruhe.
Zuletzt antwortete sie: "Weil er nicht so groß und so gefährlich war wie die Wölfe. Und wie die Räuber. Und ich hatte ja schon gesehen, dass die auch weglaufen, wenn man ihnen weh tut."
Und der Drache stellte eine letzte Frage: "Und warum, kleine Lana Vogelschreck, hast du dann MIR nicht weh getan, sondern gesungen?"
Das war einfach. "Weil ich doch wusste dass ich dir nicht wehtun könnte. Weil du zu groß und zu stark bist!"
"Ja", sagte der Drache. Und ein schrecklicher Ton war in seiner Stimme, als wäre die misstönende Glocke nun zersprungen und als fielen ihre Stücke vom Himmel herab auf harten Felsen.
 
 
Und da begriff Lana, dass auch die Wölfe stark waren, und die Räuber, und dass die Menschen in ihrem Dorf nur keine Angst vor ihnen hatten, weil sie einen Stärkeren kannten und fürchteten.
Dass der Drache ihnen auf ihre Bitte nicht zur Hilfe gekommen war, sondern ihnen Angst gemacht hatte, Angst vor ihm selbst. Und dass er sich dann hatte verjagen lassen.
Dass die Menschen nicht mehr in Freundschaft zu ihm kommen konnten. Und wenn, dass sie dann wieder seine Hilfe bräuchten, weil sie dann wieder Angst vor den Räubern bekämen. Und vor den Wölfen. Und vielleicht sogar vor dem großen Vogel.
Lana stand auf und ging zu dem Drachen. Sie streichelte seine Pfoten, soweit wie sie reichen konnte, lehnte sich an ihn und flüsterte: "Ich werde ihnen nichts sagen. Niemals. Das verspreche ich.
Aber, darf ich Dich manchmal besuchen kommen?"
Und die Glocken klangen wieder hell und heil.
 
 
Am nächsten Morgen half der Drache ihr zum Durchgang hinauf. Lanas Herz klopfte heftig, und sie winkte ihm zum Abschied.
Der Drache winkte nicht zurück, so etwas tun Drachen nicht. Aber er blinzelte, und dann sagte er: "Ich kenne den dunklen Vogel. Er hätte das Lamm ganz sicher gefressen.
Es ist oft verkehrt, Angst zu haben, kleine Lana Drachenfreund. Aber manchmal, da braucht man sie auch, weil sie dabei hilft, das Richtige zu tun."
 
 
Es war gut, dass er das gesagt hatte, sonst hätte sie sich sicherlich geschämt als sie abends von den wütenden Eltern, die vor Sorge außer sich geraten waren, mit dem Prügel durch das ganze Dorf gejagt wurde...
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 22.01.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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