Heike Clarissa Conundrum

Nachbarschaftsliebe

Das neue Appartementhaus am See war bezugsfertig und seine neuen Mieter taten ihr Möglichstes, ihre Möbel halbwegs trocken an diesem stürmischen und kalten Wintertag in ihre Wohnungen zu bekommen.
An jenem Tag, einem Samstag, ging die Nachbarschaftsfeindlichkeit los.
Eine Treppe hoch, genau sich gegenüber zogen eine junge Frau und ein junger Mann ein.
Die Helferzahl der jungen Frau war deutlich höher als die des Mannes. Ihr Einzug ging denkbar schnell voran. Innerhalb von zwei Stunden war alles Hab und Gut untergebracht.
Er dagegen hatte auch nach fünf Stunden noch reichlich zu tun. Der Schnee ging in noch schlimmeren Schneeregen über und er war sichtlich genervt.

Dann endlich hatte er es fast geschafft, er wollte nur noch den letzten Karton mit Geschirr rein bringen, als er direkt vor seiner Wohnungstür ins Stolpern kam. Der Karton krachte scheppernd zu Boden.
Das noch zuvor fröhliche Geplauder aus der Wohnung gegenüber verstummte, die Tür ging auf, erst entsetzt, dann lachend schaute sie zu ihrem neuen Nachbarn herunter.
„Scherben sollen ja bekanntlich Glück bringen“ sagte sie und schloss grinsend hinter sich die Tür.
Er, Thomas Maus, sammelte die Scherben zusammen, schmiss sie in den Karton, schnitt sich dabei in den Finger und fand des Sturzes Übeltäter.
Die Turnschuhe der Frau von gegenüber.
Ohne Rücksicht auf Verluste hatte sie diese direkt auf dem Treppenpodest stehen lassen.

„Ich hoffe du grinst noch, wenn du morgen barfuss läufst“ brabbelte er vor sich hin und warf die Schuhe mit in den Karton. Nachdem er seine schwere Verletzung notdürftig mit Pflaster versehen und die restlichen Scherben zusammen gefegt hatte, nahm er den Karton und ging zum Müllcontainer. Das sollte heute sein letzter Gang ins ungemütliche Nass werden.
Auf dem Rückweg schaute er sich die Klingelleiste an und amüsierte sich über die Namen seiner Mitbewohner. Da hieß einer Fuchs mit Nachnamen und ein anderer Hund.
„Tierpension am See…“ dachte er grinsend.
Vor seiner Tür angelangt, schaute er auf das Klingelschild seiner unmöglichen Nachbarin.
„Marina Fuchs“ stand in großen Lettern drauf.
„Was für ein blöder Name, passt zu ihr…“
Thomas wirbelte in der Wohnung herum bis spät in die Nacht. Irgendwann ging er erschöpft zu Bett.
Genau frühmorgens um 7.30 Uhr klingelte es an seiner Wohnungstür.
Schlaftrunken bahnte er sich den Weg zur Tür, öffnete und da stand sie.
„Haben Sie zufällig meine Schuhe gesehen?“, hallte die zickige Stimme seiner Nachbarin in seine Ohren.
Er schaute sie an und in ruhigem, gleich bleibendem Tonfall sagte er: „Barfuss laufen ist gesund“, drehte sich um und ging hämisch grinsend zurück in seine Wohnung.
Er fand sich fast etwas zu schnell, denn er hätte gerne noch ihr empörtes Gesicht gesehen.
Das stand ihm als Entschädigung für das zeitige Wecken wohl mindestens zu.
Thomas stellte die Klingel ab, er wollte den Rest des Tages ruhig verbringen. Er legte sich eine alte Schallplatte von „Pink Floyd“ auf, räumte noch ein paar Kisten aus und war stolz auf das bislang Geschaffte.

Dann, genau 12.30 Uhr dieser ohrenbetäubende Lärm.
Diesmal stand er vor Marinas Tür.
Nach nur fünfzehn Minuten Dauerklingeln öffnete sie dann die Tür.
„Haben Sie noch nie etwas von Mittagsruhe gehört, andere Leute möchten diese in Ruhe genießen“, ertönte diesmal nur ein lautstarkes Brüllen seinerseits.
„Andere Leute haben nichts dagegen“ kam es ruhig von ihr zurück. „Ich habe alle Mieter gefragt, niemanden stört es. Nur Sie haben mein Klingeln offensichtlich nicht gehört“.
Sagte es und verschwand um die Wände ihrer Wohnung direkt weiter mit Löcher zu versehen.
Thomas zog sich an und ging in ein nahe gelegenes Restaurant essen. Von der Zicke wollte er sich jedenfalls nicht den Tag verderben lassen.
Der Rest des Tages verlief ohne Zwischenfälle.
Am Montag, Thomas kam von der Arbeit nach Hause, hielt seine Pizza vom Lieblings-Italiener in den Händen und schloss die Haustür auf. Schon kamen ihm Klänge von „Mark Selby“ mit dem Titel „Guitar in the rain“ entgegen.
Sie wurden lauter und kamen natürlich aus der Wohnung seines Gegenübers.
„Na da kann ich doch wohl mithalten!“
Die Pizza flog erstmal auf den Küchentisch und Sekunden später dröhnte „Mark Selby´s“ Song „Dangerous Game“ durchs ganze Haus.
Die Tatsache, dass es außer Fuchs und Maus noch andere Mieter gab…schien irgendwie vergessen.
Nach  einem Dreistundendauersong fing Thomas an, diesen Sänger von seiner Lieblingsinterpretenliste zu streichen. Er schaltete aus und auch im feindlichen Sektor waren keinerlei musikalischen Klänge mehr zu vernehmen.
„Spiel, Satz und Sieg“, dachte er und machte sich viel zu spät an die inzwischen pappig gewordene, kalte Pizza.
Ein paar Tage später, er öffnete seinen Briefkasten, Post hatte er keine. Aber dafür jede Menge Werbung.
Werbung, Werbung, Werbung… irgendjemand schien seinen Briefkasten mit dem Papiercontainer zu verwechseln. Und er hatte auch einen mittelschweren Verdacht.
So machte er sich dann an die Treppenreinigung, er fegte den ganzen winter- und schneebedingten Sand von Podest und Treppe, damit er nicht alles in die Wohnung schleppe. Das Wetter war draußen zu kalt um den Müll bis zum Container zu bringen und so hatte er keine Schwierigkeiten, jenen Müll in den Briefkasten von Frau Fuchs zu befördern.
Ach, was hasste er sie, ihre großen runden Kulleraugen, ihr arrogantes Auftreten, ihr überdimensionales Lächeln…einfach alles.
Eine so unmögliche Frau war ihm bislang noch nie begegnet. Warum ausgerechnet musste sie seine Nachbarin werden!!? Es hätte alles so schön werden können. Ohne sie.

Die zu laute Musik wurde zu beider Lieblingsprovokationsspiel
So dröhnte bei ihr“Let´s dance“ aus der Wohnung, so laut wie noch nie zuvor.
Am Morgen, als er verschlafen das Haus verlassen wollte, dabei seiner unbeliebten Nachbarin über den Weg lief, sagte er: „Warte ab, das war noch nicht der letzte Tanz“.
Das er zum Du überging, war ihm in seiner Rage nicht bewusst.
Beide verzichteten an diesem Tag, so wie viele andere auch, auf das Auto. Über Nacht kam vorhergesagtes Blitzeis.
Angekommen an der Bushaltestelle standen dort dicht gedrängt schon Leute über Leute, alle versuchten sie Platz im Schutz des Wartehäuschens zu bekommen. So auch die zwei Streithähne. Sie standen dicht nebeneinander, rochen den Duft des anderen und sahen sich zweimal ganz kurz in die Augen. Wessen Blick der giftigere war, könnten wohl nur ein dutzend Schiedsrichter mit genauer Sicherheit sagen.
So vergingen Tage und Wochen. Das Wetter wurde langsam etwas besser, die Tage länger und der Frühling war dabei sich von seiner besten Seite zu zeigen.
Ganz das Gegenteil bei Frau Fuchs und Herrn Maus.
 

Sie bekamen vom Vermieter Beschwerdebriefe wegen ruhestörendem Lärm.
Dass sie beide diese Briefe bekamen, ahnten sie nicht. Beide rechneten nur jeweils mit der Schikane des anderen und ließen sich immer wieder neue kleine Gemeinheiten für den anderen einfallen. Die Beschwerdebriefe häuften sich und der Vermieter mittlerweile sichtlich etwas ungehalten, drohte mit einer Mietkündigung. Er hoffte, dass diese Drohung ein wenig Vernunft einkehren lassen würde. Er hatte beide Mietparteien als höfliche und umgängliche Leute kennen gelernt, die sich auf ihre neue Wohnung  freuten. Vor dem Einzug.
Diese Drohung zeigte tatsächlich eine Wirkung.
Dumm waren beide keinesfalls, aber die Situation war so eingefahren, dass keiner von ihnen klein beigeben würde.
Und so schauten sich beide nach einer neuen Wohnung um. Rein vorsichtshalber. Marina mag helle Wohnungen mit vielen Fenstern. Und da gab es auch eine passende Wohnung, die sie vor dem Einzug, gegenüber dem Höllennachbarn, auch schon in Betracht zog. Jedoch war ihr diese etwas zu groß, sie wollte es lieber etwas bescheidener, aber gemütlich. Jetzt jedoch dachte sie immer wieder darüber nach. Noch war diese Wohnung für deutlich mehr Geld zu haben. Doch das war ihr egal. Denn an Gemütlichkeit war in der momentanen Situation keinesfalls zu denken.
Thomas liebt den See über alles, er wollte sich nicht weit von ihm entfernen. Und so richtete sich sein Blick immer mehr auf eine großflächige Atelierwohnung. Ein Angebot hatte er sich schon eingeholt und im Fall der Fälle würde er noch einmal umziehen. Er lebte überwiegend noch aus Kartons, da er dank vieler Arbeit und Füchsin bislang nicht dazu kam, alles auszupacken.

Der Frühling präsentierte sich  in all seinen schönsten Facetten und mit ihm das jährlich beliebte Frühlingsfest. Auf diesem herrschte reger Andrang, war beliebt bei jung und alt.
Natürlich auch bei Fuchs und Maus.
Frau Fuchs erschien mit den fleißigen Helfern vom Umzug und Herr Maus mit zwei Freunden.
Das Fest war in vollem Gange, die Besucher strömten massenweise hin.
Beide hatten jede Menge Spaß und feierten ausgelassen.
Es dauerte wirklich, wirklich lange, bis sie sich an diesem lauen Frühlingsabend über den Weg liefen.
Wie auf Kommando starrten sie sich an, keiner von beiden verzog eine Mine, die Blicke waren dabei den anderen zu durchdringen.
In der Menge der Leute hatte man das Gefühl, es sei ein anderer, als der gewohnte nachbarverhasste Blick.
Es war ein anderer Blick.
Es war einer, der sie magisch anzog.
Sie ließen nicht voneinander ab, keiner von beiden blinzelte auch nur einmal. Sie gingen langsam auf sich zu, bis sie nur noch zwei Meter voneinander getrennt waren.
Marina, durchdringender schauend denn je, wollte etwas sagen. Sie brachte keinen Ton über die Lippen. Einmal, weil sie einfach nicht konnte und andererseits weil sie nicht wusste, was sie sagen könnte oder wollte. Ihr fiel so nicht mal eine Gemeinheit ein.

Nach etwa fünfminütigem Angaffen wechselte die Musik.
Thomas ging auf Marina zu, war in gleicher Höhe mit ihr und in dem Moment wo er an ihr vorbei zu laufen schien, packte er sie am Handgelenk und zog sie hinter sich her, direkt auf die Tanzfläche.
Marina schaute ihn nun nicht mehr an. Sie blickte stur auf die Erde. Thomas nahm seine Hand, schob diese unter ihr Kinn und somit ihren Kopf hoch. Trotzig und gleichzeitig erwartungsvoll schauten ihre großen Augen ihn nun an.
„Ich sagte dir doch, das war noch nicht der letzte Tanz.“

Er zog sie näher an sich, umfasste sanft ihren Körper und begann langsam mit ihr zu tanzen.
Marina fühlte sich zittrig, schwindelig, einfach unbeschreiblich.
Der neue Song von „Mark Selby“ war schon längst vorbei, die Leute tanzten inzwischen nach dem Rhythmus des Rock´n Roll. Nur die zwei befeindeten Nachbarschaftsparteien tanzten noch immer nach dem einem Lied. Ihrem Lied.
.Sie hielten sich eng in den Armen, schauten in die Augen des anderen, bis tief in dessen Seele. Sie tanzten so bis in die frühen Morgenstunden.
Marina war willenlos, sie fühlte sich gut.
Er flüsterte ganz leise ihren Namen, es war der schönste Name, den er je gehört und  ausgesprochen hat.  


 (Und zu allem Kitsch noch dazu:
Natürlich, wie sollte es anders sein… gemeinsam kündigten sie ihre Wohnungen und genauso gemeinsam bezogen sie die geräumige Atelierwohnung mit den vielen Fenstern unweit vom See.)
 

 
 
  
 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.02.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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