Corinna Scharth

Der letzte Augenblick

 

Mein Blick haftete an meiner alten Schule, nichts hatte sich hier veränderte, zumindest nichts, das von Außen her sichtbar wäre. Die Erinnerungen von damals überkamen mich, Erinnerungen, die schmerzlich waren und kein Funken Freude beinhalteten.

Zudem sah ich die Bilder der Person vor mir, wegen der es mich an diesen Ort verschlagen hatte.

Einen anderen Grund für mein Kommen gab es nicht.

 

Ich erinnerte mich an den Moment, an dem wir das erste Mal in die Augen blickte, an das erste Mal, an dem wir uns küssten, uns umarmten, uns liebten und an den Abschied, der mein Herz in tausend Teile zerbrechen ließ.

Er versprach mir, mich anzurufen, mir zu schreiben und dass wir uns bald treffen würden.

Aber nichts in der Art geschah.

Auch jeder meiner Versuch, mit ihm in Kontakt zu treten, scheiterte.

Der Kontakt brach gänzlich ab.

Seit dem ich mich damit abgefunden hatte und nicht mehr an ein Wiedersehen glaubte, verlief mein Leben bergab; Nach einem Misserfolg folgte der nächste.

Zwar bewarb ich mich an einer Uni nach der anderen, doch was mir fehlte war die Motivation für die Aufnahmeprüfungen zu lernen.

Ehrlichgesagt wusste ich nicht mehr, was ich mit mir selbst anfangen sollte.

Geld hatte ich genug, denn meine Eltern unterstützten mich finanziell wo sie nur konnten.

Doch selbst das Konsumieren fiel mir schwer. 

So isolierte ich mich eines Tages vollkommen in meiner Wohnung und verbrachte Tag und Nacht vor meinem Computer. An die wenigen Stunden Schlaf hatte ich mich schon längst gewöhnt.

Freunde besaß ich keine mehr. Die meisten meinten, dass sie mit einem „Hikikomori“ nichts mehr zutun haben wollten, was ich ihnen auch nicht verübeln konnte.

Keinem habe ich jemals nachgetrauert.

Nur ihn konnte ich einfach nicht vergessen. Ich hatte mir damals geschworen, keinen Gedanken mehr an ihn zu verschwenden, doch trotzdem wuchs die Sehnsucht immer weiter, bis sie so schmerzlich war, dass ich es kaum mehr aushielt.

 

Irgendwann beschloss ich, seine Adresse ausfindig zu machen, um mich in Form eines Briefes bei ihm zu melden. Mit Sicherheit hatte er mich nach all den vergangenen Jahren schon vergessen und war er einer hübschen Frau verheiratet. Auch ein oder zwei nannte er sein eigen Fleisch und Blut.

Doch, es musste so sein. Für mich gab es in dieser Hinsicht keine Zweifel.

Vielleicht war dies auch der Grund für unsere Trennung gewesen. Denn mit mir zusammen konnte er sich diesen Traum nicht erfüllen.

 

Nun stand ich hier. Den Brief sollte er gelesen haben, doch ob er kommen würde, wusste ich nicht. Nicht einmal Name und Adresse hatte ich in dem Brief notiert, denn ich glaubte daran, dass er meine Handschrift erkennen würde. Vorausgesetzt ich bedeutete ihm noch irgendetwas. Ob ich daran zweifeln sollte, wusste ich nicht.

Meinen Blick ließ ich über die stark befahrene Straße wandern, wandte ihn anschließend nach rechts und wieder nach links. Diesen Vorgang wiederholte ich mehrmals. Doch niemand kam mir entgegen, niemand den ich erwartete. Den anderen schenkte ich keine Beachtung, wahrscheinlich weil ich sie nur noch als Schatten wahrnahm, die für mich genauso gleichgültig waren, wie der Rest dieser erbärmlichen Welt. 

Ich fragte mich, ob das Warten überhaupt noch Sinn machte.

Würde sich nach diesem Treffen etwas für mich verändern? Diese Frage war eine von Tausenden, die in meinem Kopf umherschwirrten.

Eigentlich wollte ich keine Antworten darauf, denn die Wahrheit herauszufinden, machte mir Angst.

Nun zeigte meine Armbanduhr halb drei an. Schon eine halbe Stunde wartete ich allein in dieser Kälte, ohne ihn auch nur kurz gesehen zu haben.

Dieses Zeichen zeigte mir deutlich, dass es endlich Zeit war. Zeit zu gehen.

Selbst wenn es keinen Sinn mehr hatte, atmete ich noch einmal kurz ein und wieder aus.

Ich versuchte meinen Kopf frei zu bekommen, frei von all denn Gedanken, vor denen ich mich fürchtete.

In der Ferne hörte ich ein paar Kinder schreien, doch was sie riefen, verstand ich nicht.

Nein, ich wollte es nicht verstehen. Es war mir egal.

Auch die Motorengeräusche der Autos nahm ich wahr. Ich mochte diesen Lärm nie, ich mochte den Verkehr nicht, ich mochte diese Fahrzeuge nicht. Eigentlich mochte ich gar nichts mehr. Doch in diesem Moment war mir alles gleich.

 

Ich sah den LKW, der sich auf mich zu bewegte. Anscheinend hatte der Fahrer mich nicht bemerkt, denn er bremste nicht ab.

Das Ende erwartend schloss ich meine Augen und hoffte, dass es schnell vorbei sein würde.

Als jemand meinen Namen rief, öffnete ich meine Augen und sah ihn mit meinem Brief in den Händen.

In diesem letzten Augenblick bereute ich meine Entscheidung.

 

Hinweis: Hikikomori ist die japanische Bezeichnung für Personen, die völlig isoliert leben und meist nur noch die Außenwelt durch ihren Computer betrachten. Ist sowas wie ne soziale Phobie.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.02.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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