Andre Schuchardt
Der Preis der Freiheit
Anmerkungen zur Aussprache:
Mandraz – Man-dras
Majezir – Ma-ʒä-sir
Deljezir – Del-ʒä-sir
Delnadraz – Del-na-dras
Delenti – De-len-ti
Caduim – Ka-dwiim
I
Blutrot
versank die Sonne hinter den fernen Bergen. Rot vom Blut der
Erschlagenen färbte sich die Küste des schäumenden Meeres. Mandraz
beobachtete das Schauspiel aus der Ferne. Mit seinen engsten Vertrauen
stand er auf einer Anhöhe in sicherer Entfernung. Niemand von ihnen
wagte ein Wort zu sagen. Sie alle wussten, was auf dem Spiel stand.
Nicht nur ihr eigenes Leben, auch das ihrer Angehörigen könnte von
dieser Schlacht abhängen. Dort unten kämpfte jedoch keiner ihrer Leute.
Doch würde dieser Stamm von der Küste nicht den Sieg davon tragen, so
würden auch sie niemals frei sein. Hier in Delent kämpfte jeder gegen
jeden und vor allem jeder gegen den verhassten Adel. Niemand wusste,
was nach dem Sieg kommen würde, doch sie alle wollten die Freiheit.
Freiheit und Macht. Seit vielen Jahren tobte der Krieg nun schon in
Delent. Mandraz und seine Vertrauten träumten schon ebenso lange davon,
ihren Kindern eine freie Welt zu zeigen.
Mandraz blickte zurück in
Richtung der untergehenden Sonne. Sein Dorf lag dort im Schatten der
schroffen Berge und wartete auf ihn. Er würde alles tun, um die Seinen
zu beschützen. Als seine Begleiter unruhig wurden, sah er wieder zum
Kampf. Dieser hatte sich nun entschieden; Tote lagen an der Küste, wie
gefallenes Heu nach der Ernte. Sieger durchschritten ihre Reihen wie
Raben auf der Suche nach Beute. Flüchtlinge wurden gejagt und
niedergemacht, überlebende Verletzte wurden ertränkt. Und dann sah
Mandraz, wer da gesiegt hatte. Und sie alle zusammen verfielen in einen
Freudentaumel.
II
Endlich waren sie in den Schutz des Tales
gelangt. Als ihr Gastgeber hieß es sie mit offenen Armen willkommen.
Eines nach dem Anderen wurden die Wagengespanne von den Ochsen vorwärts
gezogen in die wartende Sicherheit. Hier würde man sie nicht mehr so
leicht entdecken können. Caduim blieb zurück und wartete, bis der
letzte Wagen außer Sicht von Delenti war, bevor er einen abschließenden
Blick zurück warf. In der weiten Ferne war Delenti nur noch an der
schwarzen Rauchsäule zu erkennen, die von den lodernden Ruinen
aufstieg. Es war früher Morgen eines schönen Frühjahrstages und das
Jahr war 650.
Ein Krieger erschien am Eingang des Tales, sah Caduim, hielt auf ihn zu und begrüßte ihn.
„Halte dich nicht damit auf! Sprich, was gibt es zu berichten?“ fragte dieser ihn.
Der
Krieger sah ihn düster an. Sein Wams war zerschlissen, seine Rüstung
starrend vor Dreck und Blut, er selber nicht minder besudelt.
„Nichts
Gutes, so fürchte ich“, hob er an, „zumindest nicht von dort hinten.
Wir haben sie aufgehalten. Aber außer mir scheint es kaum jemand
geschafft zu haben. Wenn noch jemand lebt und uns treu ist, wird er uns
in Deljezir erwarten.“
Cadium blickte ihn traurig an. Seine Heimat
war zerstört, die meisten seiner Leute und Freunde nun tot und der Rest
auf der Flucht.
„Und du bist sicher, dass niemand unsere Flucht bemerkt hat?“
„Sehr sicher. Wir haben ihnen eine schöne Jagd mit abschließender Schlacht geboten.“
„Dann komm. Lass uns zu den Wagen aufschließen. Es ist eine weite Reise bis Deljezir und wir dürfen nicht trödeln.“
Es
war noch nicht lange Frühjahr geworden. Die Lehmwege waren feucht und
die Erde hatte sich in Schlamm verwandelt, der habgierig nach den
Rädern ihrer Wagen griff. Immer wieder mussten sie Halt machen, immer
wieder einen der fünf Dutzend Karren aus dem Dreck ziehen. Alle packten
dabei an – die Krieger, die Adligen, die Handwerker, die Frauen, selbst
die Kinder. Trotzdem kamen sie nur schleichend voran. Caduim und die
Anderen berittenen Krieger erkundeten die Gegend vor, neben und hinter
der Kolonne. Dies verhinderte aber nicht, dass sie am dritten Tage
ihrer Reise angegriffen wurden. Es war Nacht. Kinder und Frauen
schliefen auf den Wagen, die Männer unter ihnen. Zwei Wagen gingen in
dem wilden Angriff verloren, doch konnten Caduim und die Anderen
Schlimmeres verhindern. Im Dämmerlicht des jungen kühlen
Frühjahrsmorgens erkannte man, dass die Angreifer nur Räuber gewesen
waren. Die Kolonne musste sich eilen, sollte sie nichts Ärgerem
begegnen. Manchmal ritt Caduim an den Reihen der Flüchtlingen vorbei.
Dann sah er erschöpfte, leidende und doch hoffende Gesichter. Sie alle
vertrauten auf den König und seine Männer. Und diese Hoffnung sollte
nicht unvergolten bleiben.
Am nächsten Tag kreuzten sie einen
Fluss, den die Schneeschmelze des Frühjahrs in einen reißenden kleinen
Strom verwandelt hatte. Dies stellte sie vor ein schwerwiegendes
Problem. Caduim wusste, was dieser Fluss verhieß: Das rettende Land des
Königs an seinem anderen Ufer. Doch konnten die Wagen seine nun
rauschenden Wogen nicht gefahrlos durchqueren. Caduim gab Befehl, Holz
des umgebenden düsteren Waldes für Flöße zu fällen, da griff man sie
erneut an. Aus dem Schutz der alten Bäume kamen sie brüllend wie die
Fluten eines Bergstromes über sie her. Kinder schrien auf und wurden
von ihren Müttern unter die Wagen gezerrt, wo sie sich in den Schlamm
kauerten. Die Männer griffen nach allem, was man als Waffe nutzen
konnte. Diese Angreifer aber waren keine Räuber und Caduims Männer
wären ihnen unterlegen gewesen. Doch wie durch ein Wunder trafen zu
dieser Zeit am anderen Ufer die Krieger des Königs ein. Pfeile stürzten
wie Ungeziefer über die Feinde, die nun eiligst die Flucht ergriffen,
ihr Leben zu retten. Jetzt war eine Überquerung des Flusses kein
Problem mehr, denn die Männer hatten Flöße bereit. Auf wackligem,
glitschigen Untergrund schafften es alle Wagen unbeschadet ans andere
Ufer.
„Ihr habt uns gerettet!“ sprach Caduim froh zum Anführer der
Krieger und als er diesen an seinem großen schwarzen Bart erkannte,
umarmte er glücklich seinen Bruder.
Am Abend erreichten sie
Deljezir. Die Stadt war die letzte Verbliebene, die dem König noch die
Treue hielt, nun, da Delenti zerstört war. Ganz Deljezir brummte und
pochte als ein Lebewesen, überquellend mit Flüchtlingen aus allen
Himmelsrichtungen. Für die einfachen Menschen war hier das Ziel ihrer
Reise. Caduim, seine Männer und die Adligen jedoch hatten noch eine
Tagesreise vor sich.
„Seit einem Jahr erst ist die Burg Majezir
vollendet“, wurde Caduim Abends in einer Schenke Deljezirs von seinem
Bruder aufgeklärt, „draußen im Moor. Jede Armee aus dem Norden, die
nach Deljezir will, müsste an ihr vorbei. Dort sind der König und die
verbliebenen Adligen und Krieger. Sie erwarten euch bereits.“
Und so
kamen sie am nächsten Tag zur Burg Majezir, der letzten Verteidigerin
des Königreiches, Herrin ihrer aller Freiheit und Leben. Trutzig erbaut
inmitten des bedrohlichen Moores war sie auf allen Seiten von Seen
umgeben. Nur über knarrende Zugbrücken konnte man sie erreichen. Die
einzige sichere Furt durch den Fluß lag in Sichtweite von Majezir. Wer
immer nach Deljezir gelangen wollte, musste an der Burg vorbei. Wer
immer an den König gelangen wollte, musste in die Burg hinein. Beides
versuchten Frühjahr und Sommer hindurch immer wieder feindliche Armeen.
Eine nach der Anderen verzweifelte an der unerreichbaren Burg.
Niemandem gelang es, zu Deljezir oder dem König vorzudringen. Derweil
eilten sich dessen Boten, die Hoffnung des Reiches, nach Verbündeten zu
suchen, die Aufständischen des Nordens zu besiegen.
„Herr“, wurde Caduim eines Morgens von einem kleinen Knaben angesprochen, „was ist Frieden?“
„Wieso stellst du diese seltsame Frage?“ entgegnete Caduim verwundert.
„Meine
Eltern sprechen immer davon, dass sie sich Frieden wünschen“, sprach
der Knabe in kindlicher Scheuheit und Caduim beugte sich zu ihm
herunter.
„Weißt du, sobald wir gesiegt haben oder die
Aufständischen ihren Fehler bemerken, ab da wird es Frieden für uns
geben und niemand muss mehr kämpfen.“
„Keine Kämpfe?“ sprach da der Knabe ungläubig.
Der
Junge glaubte ihm nicht, lachte kurz sein kindliches Lachen und
verschwand dann im Burghof, wo er mit anderen Kindern spielte. Caduim
sah ihnen eine Weile traurig zu.
III
Sie hielten sich im
Dickicht unweit des Flusses versteckt. Gefrorene Blätter krachten unter
ihren Füßen. Ihr Atem kam in Rauchwolken. Mandraz stapfte durch den
Schnee zurück zu den anderen Stammesführern. Sie alle waren hier
gleich, trotzend jeglicher früherher Meinungsverschiedenheiten, und
zitterten in der Kälte. Selbst die vielen Schichten Kleidung, Rüstung
und Felle auf ihnen konnte die unnatürliche Strenge des Windes nicht
beschwichtigen. Endlich hatte man sich geeint, endlich zog man zusammen
gegen den Feind. Mandraz dachte daran, wie seine Familie Daheim in
ihrer zugigen Hütte hausen musste, die schon etliche Male in diesen
Kriegen zerstört worden war. Nun sollte sich dies ändern, bald könnte
man sich Steinhäuser leisten wie der König. Das ganze Jahr über war man
vergeblich immer und immer wieder gegen Majezir angebrandet, doch nie
kam man auch nur über die Seen. Alle, die andere Wegen zu gehen
versuchten, fanden ihr Schicksal auf dem Grund des Moores. Jetzt aber
war dieses Schicksal auf ihrer Seite. Was zuvor noch ein
unüberwindbares matschiges Hindernis gewesen war, bot sich nun als
glitschig vereistes Feld an.
Es wurde Mitternacht und der weiße Mond
beschien die weite weiße Winterlandschaft. Mandraz und die anderen
gaben Zeichen und die Meute machte sich auf den Weg. Sie stürmten die
Seen, umzingelten die Burg. Haken unter den Schuhen gaben ihnen Halt,
andere rutschten einfach vorwärts. Etliche fielen im Pfeilhagel, doch
konnte man ihre vordringenden Leitern nicht aufhalten. Wie Raubtiere
erklommen sie mit ihnen die Mauern und strömten in die Burg hinein. Ein
Krieger mit großem schwarzen Bart wollte Mandraz aufhalten, doch dieser
hielt sich kaum auf, ihm die Kehle aufzuschlitzen. Vor niemandem
machten die Angreifer Halt. Krieger, Diener, Adlige, Männer, Frauen und
Kinder – sie machten keinen Unterschied, alle waren sie Teil des
verhassten Königreiches, alle dienten sie dem König. Alle mussten sie
sterben, sollte es jemals enden. Der König selber wurde von Mandraz
gestellt, wie er gerade fliehen wollte. Und als kein Feind mehr in den
Mauern von Majezir lebte, stimmten die Angreifer ihr Siegesgeheul an.
Endlich hatten sie ihre Freiheit errungen, endlich hatten auch ihre
Kinder eine Zukunft.
Doch dies war noch nicht das Ende der
Geschichte. Nicht alle Adligen waren in Majezir gewesen. Einige hatten
sich schon früher verkrochen, andere waren zufällig zur Zeit der
Schlacht außer Haus. Wenige Jahre lang sollte man sie noch in ganz
Delent wie Vogelfreien jagen und niedermachen. Einer der Überlebenden
der Nacht des Überfalles war ein Mann namens Caduim. Ihm war es zu
verdanken, dass letztlich Frieden herrschen sollte, die Adligen neben
dem freien Volk leben durften. Doch bis dahin war viel zu tun.
Auf
den kältesten Winter in der Erinnerung der Leute dieser Gegend folgte
das mildeste Frühjahr. Die Burg Majezir wurde von der Natur erobert und
für immer von ihr einbehalten. Das Frühjahr sah alles neu im Lande
Delent.
ENDE
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Kommentar
Delent war
einst eines der großen alten Juepenreiche. Mächtig war es und die
Legenden erzählten von Wundern. Doch der Aufstieg Iotors im Norden traf
es hart. Fast der gesamte Norden wurde erobert. Während es dem Osten
gelang, sich bald wieder von Iotor freizukämpfen und als das Reich
Sagaja noch für Jahrtausende bestand, verfiel der Süden immer mehr. Es
gab einen Aufstand nach dem Anderen, das Land wurde zum düsteren
Schreckensreich. Gut 50 Jahre sollten die Kriege in Delent gedauert
haben und am Ende stand das Königshaus vor dem Nichts. Die Flucht zur
Burg Majezir verlängerte ihr Leben nur um ein Jahr. Nie wieder sollte
Delent mächtig werden. Der Preis der Freiheit war für das Volk von
Delent ihr Niedergang.
Die Geschichte selber stammt aus der Feder
eines unbekannten Schriftstellers und gibt die tatsächlichen
Geschehnisse wieder, natürlich um einiges ausgeschmückt.
Tonn Onasi, Jagâharis von Raygadun
Raygadun, Aleca, 22.01.3995
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.02.2009.
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