Nicole Fröhlich

Gedanken an Papa

Es ist ein ungewöhnlich warmer Tag Anfang Oktober. Obwohl ich glaube, noch den Sommer zu erleben, ist der Herbst bereits gekommen. Erkennen kann man dies aber nur an den Blättern der Bäume, die langsam ihre grüne Farbe verlieren und zu Boden fallen. Ich will diesen schönen Nachmittag für einen langen Spaziergang nutzen. Bald wird der Winter kommen und damit auch die kalte und dunkle Zeit. Mir ist klar, dass ich mich dann wohl bis zum Frühling nicht mehr für einen Gang durch die Natur aufraffen werde.

Der Weg, den ich gewählt habe, ist einsam. Ich treffe nicht viele Menschen und komme an nur wenigen Häusern vorbei. Das gibt mir Gelegenheit, über meinen Vater nachzudenken.

Seit vier Monaten habe ich nun nichts mehr von ihm gehört. Ich weiß nicht, wie es ihm geht und ob er mich wohl vermisst. Damals habe ich den Kontakt abgebrochen, weil ich so enttäuscht war. Seit der Trennung von meiner Mutter vor zwei Jahren hat er sich kaum noch um mich und meine Geschwister gekümmert. Seine ganze Aufmerksamkeit gilt nun seiner zwanzig Jahre jüngeren Geliebten, die ihn meiner Meinung nach nur wegen seiner Brieftasche liebt. Irgendwann hatte ich es satt, ihm hinterherzulaufen und um seine Achtung zu kämpfen. Dies habe ich ihm auch mit einem Brief unmissverständlich klar gemacht. Das Resultat ist die Funkstille zwischen uns, die mir nun langsam, nachdem meine schlimmste Wut verraucht ist, ganz schön zu schaffen macht. Einerseits ist es mein Vater und ich empfinde trotz allem eine gewisse Zuneigung zu ihm, andererseits muss ich aber auch immer wieder an das denken, was er uns angetan hat.

Während sich die Gedanken im meinen Kopf im Kreis zu drehen scheinen, gehe ich meinen Weg unbeirrt weiter. Eine leichte, angenehme Brise weht in mein Gesicht und die Sonnenstrahlen kitzeln meine Nase. Dürre Äste brechen laut krachend unter meinen Füßen und die Blätter an den Bäumen rascheln kaum hörbar im Wind.

Neben der schmalen Straße steht ein hohes Maisfeld. Selbst wenn ich einen Meter

größer wäre, könnte ich mich leicht darin verstecken. Meine Abenteuerlust ist geweckt und ich beschließe, durch die braunen Stängel mit den leuchtend gelben Kolben an den Spitzen hindurchzugehen. Es kostet mich einige Mühe, an die andere Seite zu gelangen. Als ich es endlich geschafft habe, erblicke ich in etwa hundert Meter Entfernung, mitten auf einer grünen Wiese, ein kleines einsames Häuschen mit einem umzäunten Vorgarten. Ein dünner, geteerter Weg verbindet das Anwesen mit der Hauptstraße, die mehrere Kilometer entfernt zu sein scheint. Als ich mich dem Gebäude nähere, erkenne ich deutlich den riesigen Apfelbaum, der die rechte Seite der Fassade fast komplett verdeckt. Unter den herabhängenden Ästen steht ein etwa zehnjähriger Junge in blauer Latzhose, Ringelshirt und mit einem Käppi auf dem Kopf. Er bemüht sich vergeblich, eine der tiefroten Früchte zu pflücken, sie hängen einfach zu hoch für ihn. Während ich die süße Szene  beobachte, bekomme ich selbst Appetit auf die verführerischen Äpfel.

Als das Kind schon fast aufgeben will, fährt ein Auto in die Garage hinterm Wohnhaus, ich habe es gar nicht kommen sehen. Es ist der Vater des Jungen, dessen Erscheinen eine sichtbare Freude beim Sohn auslöst. Er fällt ihm schreiend um den Hals und beide lachen laut vor Freude. Dann gehen beide gemeinsam zum Baum und der Vater hebt den Jungen hoch, so dass er sich endlich einen Apfel pflücken kann. Noch an Ort und Stelle beißt er genussvoll hinein und man kann ihm sein Glück ansehen. Eine halbe Minute später sind beide im Haus verschwunden, ohne auch nur eine Sekunde auf mich zu achten. Sie waren einfach zu sehr mit sich selbst beschäftigt.

Ich beschließe, nach Hause zu gehen. Auf meinen Weg verliere ich mich wieder in meinen Gedanken. Das was ich gerade gesehen habe, hat mich an meine eigene Kindheit erinnert. Damals hat mir mein eigener Papa auch immer sehr geholfen wenn ich vor einem unlösbaren Problem stand. Ich bin ihm auch immer um den Hals gefallen, wenn er heim gekommen ist, und wir konnten uns auch immer gemeinsam über die kleinen Dinge freuen. Nur allzu gut erinnere ich mich an unsere Ausflüge zum See im Sommer oder an unsere gemeinsamen Schlittenfahrten im Winter. Dazu haben wir uns immer den höchsten und steilsten Berg ausgesucht, es konnte uns nie

schnell genug gehen. Angst hatte ich nie. In den Armen meines Vaters fühlte ich mich auch während der riskantesten Abfahrt sicher. Jeden Abend, wenn Papa von der Arbeit kam, hat er mir ein Überraschungsei mitgebracht und vor den Jungs aus dem Dorf, die mich immer an den Haaren gezogen haben, war ich sicher, solange er in der Nähe war.

Solch schöne Momente mit ihm sind aber mit der Zeit immer seltener geworden. Trotzdem sind sie nie ganz verschwunden. Ich erinnere mich zum Beispiel noch gut an das letzte Osterfest, das ich bei ihm verbrachte. Solange seine neue Lebensgefährtin nicht in der Nähe war, konnten wir vertrauensvoll über Gott und die Welt reden. Während der gesamten zwei Tage fühlte ich mich so wohl bei ihm, als wäre ich noch immer das kleine Mädchen von damals. Bestimmt wird es immer  eine besondere Beziehung zwischen uns geben.

Plötzlich merke ich, dass ich meinen Vater unheimlich vermisse. Tief in mir fühle ich eine unheimliche Trauer und meine Augen werden etwas feucht. Es scheint mich auf einmal sehr zu belasten, dass es soweit mit uns gekommen ist. Eigentlich möchte ich keine Funkstille zwischen uns haben. Darum beschließe ich nun, Papa einen weiteren Brief zu schreiben. Einen in dem ich ihn um ein Gespräch unter vier Augen bitten werde, in dem ich ihm alle Fragen stellen kann, die mir auf den Herzen liegen. Wann denkst du an mich? Was ging in dir vor, als du merktest, dass unser Kontakt abgerissen ist? Wärst du glücklicher wenn du mich wieder hättest?  Auch wenn es nie mehr so werden wird wie früher, ganz verlieren will ich meinen Vater nie. Dazu mag ich ihn einfach zu sehr.

Mit diesen Gedanken betrete ich meine warme Wohnung. Gleich werde ich mit Papier und Bleistift im Wohnzimmer sitzen und dann wird alles wieder gut werden. Das weiß ich.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.02.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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