Klaus-D. Heid

Karpfen

Karpfen

Irgendein kleiner Ort in irgendeinem Bundesstaat der USA. Es war der 12. Juli 2009. Der Bürgermeister des Städtchens, das an diesem Tage 1.129 Einwohner beherbergte, war gerade dabei, seinen Rucksack zu packen. Einmal im Monat ließ er seine Frau Jennifer und seine beiden Kinder Mark und Graham zurück, um zu dem kleinen See zu fahren, an dem es die größten Karpfen des ganzen Landes gab. Der Bürgermeister liebte es, sich beim Angeln von der nervigen Bürokratie zu entspannen, die sein Amt nun mal mit sich brachte. Jennifer und die Kinder schliefen noch, als Bürgermeister Craig Norman seinen Rucksack im Wagen verstaute. Zwei Tage lang wollte er an nichts anderes als an riesige dicke und fette Fische denken. Bürgermeister Norman nannte diese beiden Tage ‚Durchpusttage’, weil er es liebte, sich völlig frei von Störungen den Kopf ‚durchpusten’ zu lassen. Das Funkgerät im Wagen blieb natürlich ausgeschaltet. Normans Handy verschwand für zwei Tage in der Schublade seines Büros. Jeder im Ort wusste, dass der Bürgermeister unter gar keinen Umständen gestört werden durfte, wenn er sich ‚durchpusten’ ließ. Kurz nach 04.00 Uhr morgens startete Craig Norman seinen Wagen. Er freute sich auf die etwa vierstündige Autofahrt, weil er mit jeder Meile, die er zurücklegte, immer mehr Gedanken an seinen Job hinter sich lassen würde.

Als das Unfassbare geschah, hatte Craig Norman bereits die halbe Strecke zum See zurückgelegt. Die gewaltige Explosion löschte alles im Umkreis von 500 Meilen aus. Der Bürgermeister hatte keine Zeit, an seine Familie zu denken, die in der gleichen Sekunde starben wie er selbst. Eine knappe Stunde später erreichte die Druckwelle, als Folge der Explosion, eine Großstadt mit über zwei Millionen Einwohnern. Niemand überlebte. Weitere Atombomben vernichteten über 50 Prozent der Vereinigten Staaten von Amerika...

Natürlich gab es automatisch ausgelöste Gegenschläge, die definierte Ziele in der ganzen Welt eliminierten. Jedem Gegenschlag folgte wiederum ein Gegenschlag irgendeiner Gegenseite, bis die Erde schließlich nur noch ein verbrannter und lebloser Planet war, in dem die Dunkelheit herrschte. Kein einziger Lichtstrahl der Sonne fand seinen Weg durch die mit Tod und Staub gefüllte Atmosphäre. In jedem noch so entfernten Teil des ehemals blauen Planeten starb das Leben. Was nicht die Gnade eines schnellen Todes erfuhr, starb langsam und qualvoll durch die atomare Vergiftung der Luft. Es war ein Sterben, das jahrelang andauerte, bis auch das letzte Leben ausgelöscht war.

Zweihundertfünfzig Jahre später landete ein Raumschiff aus irgendeiner weit entfernten Galaxie auf der Erde. Die Besatzung des Raumschiffes verfügte über die Fähigkeit, alle Gedanken von Lebewesen zu lesen, die längst erstorben waren. Seltsam fremd aussehende Wissenschaftler notierten auf ebenso seltsam aussehenden Apparaten komprimierte Gedankenstrukturen, deren Quellen seit Jahrhunderten zu Staub zerfallen waren. Menschliche Gedanken.

Die, die das Universum nach Gedanken durchstreiften, die sie als Nahrung für ihren Organismus benötigten, kamen zu dem Entschluss, den Planeten wieder zu verlassen. Zu wenige Gedanken erschienen den Wissenschaftlern für ihre Zwecke brauchbar zu sein. Sie hielten den Planeten für ungenießbar. Der Speicher der Apparaturen wurde nach kurzer Beratung vollständig gelöscht. Der letzte Gedanke, der nun wohl für alle Zeiten in den Weiten des Nichts verbleiben würde, war der eines Mannes, der sich auf irgendetwas Schönes freute, das er ‚Karpfen’ nannte...

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Langsam gehe ich auf das sechzigste Lebensjahr zu. Da hinter mir nahezu jede emotionale Erinnerung »verschwindet«, besitze ich keinerlei sichtbare Erinnerung! Vieles von dem, was ich Ihnen aus meinem Leben berichte, beruht auf alten Notizen, Erinnerungen meiner Frau und meiner Mutter oder vielleicht auch auf sogenannten »falschen Erinnerungen«. Ich selbst erinnere mich nicht an meine Kindheit, Jugend, nicht an meine Heirat und auch nicht an andere hochemotionale Ereignisse, die mich zu dem gemacht haben, was ich heute bin.

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