Konrad Berghausen

Mi, der Musikzwerg

Ich ärgere mich über mein Keyboard. Der Ton E ist ausgefallen und das ausgerechnet als ich einige Stücke für den Weihnachtsabend üben will. Wütend drücke ich immer wieder die weiße E-Taste. Manchmal ertönt ein dünnes Quäken, meistens aber nichts.

Die Garantie für das Instrument ist längst abgelaufen. Ich entschließe mich, den schwarzen Kasten aufzuschrauben und auf eigene Faust nach dem Fehler zu suchen. Schnell habe ich die sechs Kreuzschlitzschrauben gelöst. Als ich das Abdeckblech abhebe, bietet sich mir ein Bild strengster hierarchischer Ordnung. Viele, wohl fast hundert Blechkegel, ähnlich wie Fingerhüte, sind in einer Doppellinie aufgereiht. Zwischen den Fingerhüten ziehen sich schwarze Kunststofftunnel. Sofort fällt mir auf, dass ein Fingerhut etwas hervorragt. „Das ist das E, das ist bestimmt das E“, denke ich. Ich drücke den Fingerhut bedächtig nach unten und hege bereits die Hoffnung, damit das Instrument repariert zu haben.

Der Fingerhut gibt meinem Druck zwar nach, schnellt dann aber sofort wieder hoch ja, sogar noch höher, als er vorher herausgestanden hat. Der Fingerhut kippt zur Seite und ich blicke in ein kleines Gesicht. Ein winziges, japanisches Gesicht, lächelnd, aufmerksam, ausdrucksstark.

„Ich bin Mi, das E aus dem Hauptregister Hammond- Orgel“ sagt ein kleiner Mund „außerdem arbeite ich als Celestra und Panflöte.“ Vor Erstaunen, ja, Entsetzen fällt mir der Schraubenzieher aus der Hand und kullert auf den Boden.

Ich bin überrascht wie voll und rund die Worte aus dem kleinen Mund klingen. „Für Chelestra und Panflöte“, sagt Mi, das E, „muss ich mich jedes Mal durch den Tunnel zu den Rhythmustasten zwängen. Das muss ganz schnell gehen, denn die Taktgeber werden sehr böse, wenn ich zu spät komme.“

„Mi, warum tönst du nicht mehr, wenn ich deine Taste drücke“, sage ich, „gerade Chelestra und Panflöte brauche ich für meine Weihnachtslieder.“

„Darf ich dir meine Geschichte erzählen“, sagt Mi, das E, „dann wirst du es vielleicht verstehen-„Offenbar kann es mich sogar sehen, denn als ich nicke, beginnt Mi zu erzählen:

„In meinem ersten Leben“, sagt es, „da war ich als kleiner Freischwinger im Ausgabechip eines Sprachcomputers für deutsch und japanisch. Deshalb verstehe ich dich und kann mit dir reden. Nach meinem Recycling wurde ich Hauptoszillator und kam in dieses Keyboard. Aber ich bin alt geworden, immer wieder komme ich zu spät, wenn ich durch den Tunnel muss. Die Rambos aus der Taktgebertruppe haben es leicht, das sind junge Kerle, sie sitzen bräsig auf ihren Bänken, und stampfen nur mit den Füßen. Ich dagegen muss klingen, klagen, säuseln, sirren, summen, und das in sechs Oktaven. Komme ich nur eine Zehntelsekunde zu spät, dann kneifen und beißen sie mich. Ich habe Angst vor ihnen und traue mich nicht mehr in ihre Nähe.“

Mi, das E schaut mich flehend an und das Fingerhütchen neigt sich wie zu einer bittenden Verbeugung.

„Würde es dir nützen, wenn ich die Taktgeber nicht mehr einschalte?“, frage ich.

„Das währe sehr gut“, sagt Mi, dann würde ich schwingen und klingen, wie zu meinen besten Zeiten. Ich könnte dann auch wieder meinen alten Freund, Quadro, den Kraftverstärker, besuchen. Wir sind nämlich ein wenig ineinander verliebt, jedes Mal, wenn ich meine Frequenzen bei ihm abgebe, haucht er mir einen kleinen Luftkuss zu.“

„Versprochen Mi“, sage ich, „ich werde die Taktgeber nicht mehr einschalten.“

Ich bücke mich, um den Schraubenzieher aufzuheben. Als ich mich wieder erhebe und in den schwarzen Kasten blickte, kann ich Mi nicht mehr ausmachen. Alle Fingerhütchen stehen exakt auf gleicher Höhe. Ist Mi das fünfzehnte von rechts? Oder das Sechzehnte? Oder doch das vierzehnte?

Die Taktgeber habe ich nie mehr benutzt, aber das E halte ich immer ein wenig länger, als es auf dem Notenblatt angegeben ist. Vielleicht haben Mi und Quadro dann ein wenig mehr Zeit füreinander.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 13.02.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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