Vorsichtig öffne ich die Tür. Die alte Dame sitzt mitten im Zimmer in ihren Rollstuhl und hält ein braunes Buch in den Händen. “Sehen sie Schwester, ich habe eines meiner alten Schulhefte gefunden!” Weil sie es von mir erwartet, nehme ich ihr das Buch ab und sehe es mir genauer an. Was ich aber beim Aufschlagen sehe, ist alles andere als eine Fülle von Zahlen oder Buchstaben, es ist eine alte Briefmarkensammlung! Während ich Seite für Seite des Albums durchgehe, wird mir klar, dass ich nie zuvor schönere Briefmarken gesehen habe und auch in Zukunft nichts vergleichbareres mehr zu Gesicht bekommen werde. Auf einige sind Tiere oder Gebäude, auf anderen Szenen aus der Bibel abgebildet.
“Sagen sie mal Schwester, wo bin ich den eigentlich hier?”, höre ich die Stimme der alten Frau. Nun will ich es genau wissen. Wie alt mag dieser Schatz wohl wirklich sein? Konzentriert suche ich nach Jahreszahlen auf den Marken. Die Schrift ist so klein, dass ich sie mit meinen Augen kaum entziffern kann.
“Schwester, wie bin ich den hier her gekommen?”
Jetzt bin ich mir sicher, hier steht 1977. Diese Briefmarke ist ganze sechs Jahre älter als ich. 1985, diese ist nur zwei Jahre jünger als ich.
“Mich würde nur interessieren, wo mein Josef bleibt, er wollte mich doch abholen.”
„ Oh, du armes altes Weib“, denke ich mir, “Dein Mann ist doch bereits seit vier Jahren tot.”
Auf einer Marke ist ein Wert von vierzig Mark gedruckt. Ich versuche mir vorzustellen, was das für ein Paket sein muss, das ein so hohes Porto benötigt. Endlich gebe ich der alten Dame das Album zurück, den Wert wage ich erst gar nicht zu schätzen.
“Sie haben wirklich eine schöne Sammlung”.
“Ja, ja, jetzt im Alter weiß ich das auch zu schätzen.”, antwortet sie, zieht ein Foto aus ihrer Schürzentasche und reicht es mir. Diese Aufnahme muss noch sehr jung sein. Es zeigt die alte Frau, die gemeinsam mit einigen, etwa gleichaltrigen, Personen an einen Tisch sitzt.
“Warten sie mal, ja, als dieses Bild gemacht wurde war ich schon aus der Schule. Wie bin ich denn hier her gekommen?”
Auf meine Frage wer die anderen Leute auf der Abbildung seinen, antwortet sie: “Das ist meine Tante, dies ist mein Onkel und das meine Großmutter.”
Meine Gedanken werden nun spöttisch: “Sicher, deine Großmutter lebt noch und ist genauso alt wie du.”
Ermutigt von meinen Lächeln erzählt mir die alte Dame nun ihre gesamte Lebensgeschichte, die sie mit den Worten: “Ja, im Alter weiß man das alles erst zu schätzen.”, beendet. Da entdeckt sie wieder das wertvolle Briefmarkenalbum in ihrer Hand. “Ach, da ist ja mein Heft. Wissen sie, das brauche ich morgen in der Schule wieder. Wie komme ich denn nun heim?”
Vorheriger TitelNächster Titel
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Nicole Fröhlich).
Der Beitrag wurde von Nicole Fröhlich auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.02.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).
Nicole Fröhlich als Lieblingsautorin markieren
Vorheriger Titel Nächster Titel
Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:
Diesen Beitrag empfehlen: