Birgit Reiserer

Die Problematik der Langeweile eines glücklichen Moments

Der letzte Umzugskarton steht noch halbvoll im Wohnzimmer.
Die wahllos zusammengewürfelten Kabel und Schrauben, Stoffreste und Grußkarten
haben noch keinen Platz, wo sie hin gehören. Die Sonne bringt den alten
schrägen Holzboden zum Glänzen. Staub tanzt in der Luft sein lustiges Tänzchen
und Judith hat sich – müde vom Einräumen – auf eine leere Kiste gesetzt und
schaut sich in ihrem neuen Zuhause um. Es gibt nichts mehr zu tun, als auf Jasper
zu warten. Sie zupft den Blumen noch ihre welken Blüten ab, drapiert die
Vorhänge als weichweißen malerischen Wasserfall, ordnet die Bücher im Regal der
Farbe nach, kniet minutenlang vor dem Bettkasten um zu überlegen, welche
Lakenfarbe den Raum wohl am eindrücklichsten schmückt, entscheidet sich für ein
tiefes violett und orange Kissen um der Leere im Raum mit bunten Farben
entgegenzuwirken und legt sich dann auf das Bett, tagträumerisch die erste
Nacht darin vorwegnehmend. Mitten im Raum wollen sie schlafen, und so das große
hohe Zimmer ganz für sich in Beschlag nehmen. Miteinander wollen sie schlafen,
denkt Judith lächelnd, um ihre Gerüche und ihre Lebendigkeit in dem unbewohnten
fremden Raum zu verteilen. So lange haben die beiden nach der passenden Wohnung
gesucht. Zentral genug, hell genug, dabei ruhig und nicht zu teuer, mit hohen
Decken und Parkett. Der Ort, den sie sich jetzt erobern, scheint direkt ihren
Träumen entsprungen zu sein. Weder Spinnenweben und Wasserflecken an der Decke
noch kaputte Lichtschalter oder der schiefe Boden konnten sie abhalten.
Du machst das schon, das wird toll, du bist ja eine
Künstlerin, hat er Judith monatelang gelobt, und Judith hat Decken gestrichen Vorhänge
geschneidert, Küchenbänke geschreinert, den Boden abgeschliffen, gemeinsam mit
dem Hausmeister mehrere Tage lang Möbel aufgebaut. All ihre Farben, all ihre
Worte, all ihre Liebe ist in diese Wohnung geflossen, die jetzt frisch
renoviert und fertig eingerichtet schweigt und mit ihr wartet, bis Jasper kommt
und sie ihn überraschen kann mit ihrem Werk. Judith schaut auf all das, was ihr
Denken und Werken ausgemacht hat in den letzten Monaten, und sie freut sich
über den glatten Verputz der Decke und den matten Glanz des abgeschliffenen
Fußbodens, über die harmonische Anordnung der wenigen sorgfältig ausgewählten
Einrichtungsgegenstände. Sie schweigt und wartet, begleitet nur von dem Ticken
der großen Küchenuhr, deren Sekundenzeiger langsamer und langsamer um die
Stunden schleicht. Judith liegt auf dem Bett inmitten ihrer neuen, selbst
geschaffenen Welt, es gibt nichts mehr zu tun, und mit jedem Ticktack der Uhr
wird sie müder und müder, bis sie schließlich die Augen schließt und einen
rastlosen Traum träumt von der neuen Wohnung und von Hobeln und von Spänen, die
alles ausfüllen, knietiefes Waten in Spänen, wohin sie auch geht.
Jasper kommt spät von der Arbeit, er hatte viel zu tun, und
hat sich doch schon den ganzen Tag voller Sehnsucht auf das Heimkommen gefreut.
Mit einem riesigen Blumenstrauß und einer Handvoll Speisekarten von
Bringservices will er Judith eine Freude und ihnen beiden einen schönen Abend
machen. Den Schlüssel zur neuen Wohnung hat Judith ihm erst heute morgen
übergeben, und zuerst klemmt er etwas in dem alten Schloss. Jasper zieht die
Tür zu sich und das Schloss gibt nach. In der Wohnung ist es dunkel. Jasper
findet einen Lichtschalter in der Küche, stellt die Blumen ins Waschbecken und
schaut nach Judith. Sie sieht glücklich aus, wie sie inmitten ihres Werkes
schläft. Jasper setzt sich in die Küche und raucht, bestellt sich eine Pizza,
isst, putzt die Zähne und legt sich neben sie. Vor dem Einschlafen rumort noch
die Arbeit in ihm, er kontrolliert im Geiste seine Fehler und geht seine
Erfolge durch, und fällt in einen traumreichen Schlaf, in dem es um Zahlen
geht, und um Tabellen und Skalen.  

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