Max Frischer

Die Besucher

Selbstverständlich hätte ich meine Wohnung schon längst mal wieder aufgeräumt und sie so richtig gründlich gereinigt. Allerdings hatte ich in den letzten Wochen und Monaten zuerst einmal keine Lust, danach kurz mal keine Zeit und dann relativ lange wieder keine Lust. Auf meinem Couchtisch befinden sich deshalb mittlerweile beachtlich hohe Bauwerke aus leeren Flaschen, Tellern, Gläsern und Nussschalen sowie Unmengen von Erdnussflips, welche teils in halbvollen Tüten, teils vereinzelt gleichmäßig über den ganzen Tisch verteilt sind.

Diese kleinen Würmchen haben sich in letzter Zeit als äußerst praktische Helferlein erwiesen, da sie die erstaunliche Fähigkeit besitzen, verschüttete Flüssigkeiten extrem zügig aufzusaugen und sicher einschließen. So konnte ich schon mehrmals auf das nervige und zeitraubende Aufwischen nach missglücktem Einschenken verzichten. Einmal habe ich aus reiner Neugier sogar so ein mit Bier vollgesogenes Flips gekostet. Flips mochte ich recht gerne, und an Bier konnte ich bisher auch nichts Schlechtes finden. Warum nicht mal beides miteinander kombinieren? Um es kurz zu machen, das Geschmackserlebnis hielt sich in Grenzen. Beides getrennt schmeckt definitiv besser. Ich muss allerdings dazu sagen, dass mich die Neugier auf die Bierflips am Wochenende gepackt hat, mir das Bier aber bereits am Montagabend verschütt ging. Ich meine, frisch ist was anderes. Vielleicht wiederhole ich das Experiment ja mal wieder mit frisch getränkten Würmchen, sobald es mir nicht mehr so schlecht ist. Aber das nur nebenbei. Kommen wir zu meinem zugemüllten Tisch zurück.

Das Problem bei diesem Tisch ist, dass die stetig wachsenden Ungetüme darauf auch die Sicht auf meinen geliebten Fernseher erheblich einschränken. In dieser Notlage kommt mir die brillante Idee, mein Sofa aus der rechten Ecke heraus um einen halben Meter nach links zu verschieben. Nach getaner Arbeit habe ich jetzt zwar einen leicht schrägen, dafür aber wieder unverbauten Blick auf die Mattscheibe.

Eine Woche später hat die Flaschensiedlung allerdings ihren Flächenverbrauch in westlicher Richtung weiter ausgedehnt und auch die letzten freien Quadratzentimeter am linken Tischende in Beschlag genommen. Somit ist mein Blick auf die Glotze nun wieder erneut versperrt. Das Sofa noch weiter nach links verschieben geht jedoch leider nicht, sofern ich mir den Zugang zum Wohnzimmer damit nicht vollends zustellen möchte. So blieb mir nichts anderes übrig, als doch noch das zu tun, was ich die letzten Wochen stets so erfolgreich vermieden hatte. Ich musste wohl oder übel den gefährlich vollbeladenen Couchtisch mindestens einen halben Meter nach rechts verschieben. Ich stemme mich also gegen die Tischkante und versuche, den Tisch möglichst sanft über den Fußboden gleiten zu lassen. Doch der Tisch klebt förmlich an seiner Stelle und rückt keinen Zentimeter weiter.

Nach einem kraftvollen Ruck setzt sich der Tisch dann doch und blöderweise recht sprunghaft in Bewegung. Ich falle zusammen mit vier halbvollen Flipstüten sowie sieben leeren Bierflaschen ziemlich unangenehm auf den Fußboden. Ein Blick ans andere Tischende verrät mir, dass es sich geschätzte fünfhundert Erdnusswürmchen auf und in meinem teuren und geliebten Berber-Teppich gemütlich gemacht haben. Scheiße. Während ich mich über mich selbst ärgere läutet mein Telefon. Nur wo? Zimmer für Zimmer durchwühle ich meine Wohnung, immer dem Klingelgeräusch nach. Zwischen zwei Kisten und unter fünf Zeitschriften finde ich schließlich mein Mobilteil. Es ist mein Bruder Janosch. Er ist wohl gerade bei Mutter zu Besuch und möchte mir heute Abend zusammen mit seinen beiden verzogenen Kindern Kevin und Maike ebenfalls noch einen Besuch abstatten. „Ja, klar, kommt vorbei, da freue ich mich aber! Dann bis heute Abend“. Mir ist spontan leider keine glaubwürdige Ausrede eingefallen. Gerade heute müssen die noch bei mir vorbeischauen, ausgerechnet heute, wenn ich meine Wohnung einmal nicht aufgeräumt habe. Aber das sieht denen mal wieder ähnlich. Typisch. Doch es hilft jetzt alles Gejammer nichts. Ich muss meine Bude bis heute Abend wieder auf Vordermann bringen. Ich klatsche zweimal in die Hände und es geht los! Ich beschließe, zunächst einmal alle Gegenstände, die in meiner Wohnung kreuz und quer umherliegen, wieder an ihren Platz zu bringen. Vier Stunden später liege ich völlig erschöpft und abgekämpft auf meinem Küchen-Fußboden und strecke alle Viere von mir. Aber sonst liegt nichts mehr rum. Ein Blick von schräg unten auf die Uhr an meinem Herd verrät mir, dass ich nicht mehr viel Zeit habe. Doch die Wohnung muss auch noch durchgesaugt werden. Mit letzter Kraft raffe ich mich auf, um mich mit dem Staubersauger zu bewaffnen und in den letzten Kampf zu ziehen. Als ich gerade stehe und meinen erschöpften Körper an der an der Spüle stütze, klingelt es an der Tür. Scheiße. Das werden sie wahrscheinlich schon sein. An meiner Mutters Stelle hätte ich das Pack auch früher rausgeschmissen. Aber wenigstens ist alles aufgeräumt. Blöd, dass meine Wohnung kein Planetarium ist, denn dort fällt niemand der schmutzige Boden auf. Egal. Ich öffne die Tür.

„Hallo ihr drei, herein in die gute Stube!“. Während Janosch sich anscheinend wirklich freut, mich mal wieder zu sehen, gibt’s von den beiden Gören lediglich einen laschen Händedruck und einen verdrucksten Blick auf den Boden. Können die einem nicht in die Augen schauen, wenn sie einem die Hand geben. Und wenn schon, dann sollen sie wenigstens mit ihrem Blick an die Decke ausweichen, aber nicht auf meinen ungesaugten Boden. „Kommt doch ins Wohnzimmer, darf ich euch was zu trinken bringen?“ Janosch begnügt sich mit einem Glas Leitungswasser, aber die beiden verwöhnten Kleinen wollen unbedingt Cola. Aber keine braune Aldi-Brause, sagen sie. Die zwei trinken natürlich nur original Coca-Cola, ist klar ne. Sonst lieber gar nichts. Aha. „Alles klar, kommt sofort, macht es euch schon mal bequem“. Na den beiden Yuppies werd ich was einschenken. Bin ich ein Hotel, oder was?

Einmal Wasser für Janosch und zweimal Colaverschnitt vom Discounter für die Leckermäuler. Schmeckt doch eh alles gleich. „So einmal Leitungswasser für den Herrn und jeweils einmal wie bestellt original Coca-Cola für die kleinen Herrschaften, bitteschön“. Kaum stehen die Gläser auf dem Tisch, setzt Kevin schon zum ersten Schluck an. Ich  verwette meine frisch aufgeräumte Wohnung darauf, dass er den Schwindel nicht bemerkt. Als das Glas seine Lippen berührt, warte ich gespannt auf seine Reaktion. Die Brause läuft ihm in den Rachen, und an seinem Kehlkopf kann ich eine erste Schluckbewegung erkennen. Kurze Stille. Es scheint, als würde er mir auf den Leim gehen. 

Doch Bruchteile von Sekunden später sieht die Sache etwas anders als. Als ob ich ihm ein Gemisch aus Jägermeister, rohem Ei und aufgelöstem Urinstein eingeschenkt hätte, hustet und würgt er schlagartig die süße Brühe wieder aus sich heraus. Er fuchtelt dabei so heftig mit seinen Händen und Armen, dass er seine eigenes und Maikes Glas so ungestüm umwirft, sodass sich ein brauner, schnell fließender Fluss über meinen Tisch ausbreitet. Mit weit geöffnetem Mund muss ich ansehen, wie der Colafluss am anderen Tischende sich zu einem Wasserfall wandelt. Ich möchte gar nicht wissen, wie mein geliebter Berber Teppich darunter aussieht. Braunes Cola auf weißem Berber, wie soll das schon aussehen. Anstatt Kevin auf die Backen und den Hintern zu schlagen, schlage ich ihm auf den Rücken, damit wenigstens dieses ekelhafte Geröchel wieder aufhört. Ich hasse Kinder. Wütend schnaubend hole ich einen Lappen und laufe um den Tisch herum, um mir das ganze Ausmaß der Katastrophe anzusehen. Als mein Blick auf meinen Berber fällt, stock mir kurz der Atem. 

„Ein Wunder ist geschehen, ein Wunder ist geschehen!“, mit Tränen in den Augen rufe ich diesen Satz mehrmals gen Himmel. Fassungslos und voller Freude stehe ich da, und blicke kopfschüttelnd auf meinen Lieblingsteppich. Janosch kommt mit seinen zwei ungeschickten Begleitern ebenfalls um den Tisch gelaufen, um sich ein Bild des Kuriosums zu machen. Wir trauen unseren Augen kaum, aber einige hundert Flips haben sich offensichtlich zusammengetan und gemeinsam über einen halben Liter Cola aufgesogen und sicher eingeschlossen. Mein Berber war unversehrt. Ergriffen von diesem Bild verharrten wir noch kurze Zeit andächtig im Stehen, bevor wir uns wieder auf das Sofa setzten. Nachdem ich zumindest den Tisch wieder sauber gewischt hatte, genehmigte ich mir auf diesen Schock hin ein eben frisch getränktes Cola-Flips. Der Vergleich mit dem alten Bierflips fiel dabei äußerst positiv aus. Zwar war auch dieses Flips etwas musig und hatte neben dem Cola auch ein paar feine Teppich-Härchen in sich eingeschlossen, aber es schmeckte trotzdem recht fein nach Erdnuss und natürlich einigermaßen angenehm nach Cola. Trotzdem war ich ehrlich gesagt froh, als ich zwei Wochen später endlich alle braunen Brause-Flips aufgegessen hatte. 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.02.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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