Daniel Siegele

Eine Dorfgeschichte (Heini)

 

Irgendwo im südlichen Münsterland liegt ein kleines Dorf, dessen Bewohner in ihrer durch und durch eigenwilligen Weise ihren provinzdörflichen Angelegenheiten nachgehen. Als besonderes Beispiel für diesen originellen Menschenschlag möchte ich dem Leser zunächst einmal Heini vorstellen: Heini ist der Dorfgeistliche unserer kleinen Landgemeinde und erfreut sich bei seinen „Schäfchen“ einer ausgesprochenen Beliebtheit, da er mit seinem Nebeneinander von seelsorgerischer Sorgfalt und beinahe kindlicher, freundlicher Einfalt der umgänglichste und harmloseste Dorfpfarrer ist, den sich eine Gemeinde nur wünschen kann.

Heini beginnt grundsätzlich jede Predigt, indem er – immer ein wenig nervös und aufgeregt – aus den Taschen und Ärmeln seines Pfarrergewandes diverse Zettel mit den verschiedenen Bestandteilen seines Predigttextes hervorzieht und seine Zuhörer – die er hierbei ohne jede Distanziertheit geistlicher Würde einfach nur als „Leute“ anspricht – noch um ein wenig Geduld bittet, worauf ihn seine tatsächlich sehr geduldig wartende Gemeinde fast wie aus einem Mund darauf hinweist, daß das alles kein Problem sei und daß sich Heini ruhig genug Zeit lassen soll, bis er seine Predigt beisammen hat.

Es stört unseren Heini auch nicht, wenn einige seiner „Schäfchen“ während eines Gottesdienstes in der hintersten Bankreihe Kartenspielen, solange sie sich dabei im großen und ganzen ruhig verhalten; wenn es dann allerdings doch einmal ein wenig lauter wird, beschränkt sich Heine normalerweise darauf, in seiner Predigt inne zu halten und mit leicht erhobener Hand „Leute, gibt’s irgendwas?“ zu fragen, worauf ihm üblicherweise mit einem beruhigenden „Es ist alles in Ordnung, Heini! Mach ruhig weiter!“ geantwortet wird – und genau das tut unser Heini dann auch, wobei er immer sehr zufrieden aussieht!

Wenn Heini gerade keine Predigt hält – wobei Heinis harmlos-freundliche Predigten immer den Aufruf „Leute, seid doch nett zueinander!“ zum Thema haben – verbringt unser Dorfgeistlicher seine Zeit am liebsten mit Einsegnungen: Wen oder was es einzusegnen gilt, ist für Heini nicht so sehr wichtig, solange er nur mindestens einmal in jeder Woche eine Einsegnung vornehmen kann. Heinis „Schäfchen“ bringen ihrerseits ihren ganzen Einfallsreichtum auf, um ihrem Dorfgeistlichen in jeder Woche tatsächlich zu einer Einsegnung zu verhelfen, wobei es sich nun um eine Kuh, eine neue Melkmaschine oder auch einfach nur um ein paar Meter neuen Weidezaunes handeln kann.

Ein Problem bei der Beschaffung von geeignetem „Nachschub“ für Heinis geliebte Einsegnungen besteht natürlich darin, daß es in Heinis kleiner Pfarrgemeinde nur eher selten neue Kühe einzusegnen gilt, daß neue Melkmaschinen und Traktoren noch seltener angeschafft werden und daß sich auch ein Stück Weidezaun doch einer gewissen Haltbarkeit erfreut.

Damit Heini wegen mangelnder Einsegnungen trotzdem nicht schwermütig werden muß, sind seine „Schäfchen“ aus lauter Sorge um das Wohlbefinden ihres geliebten Seelenhirten – zu Heinis eigenem Besten – gelegentlich zu einem kleinen Betrug bereit, indem sie Heini eine bereits eingesegnete Kuh unter einem falschen Namen als Neuerwerbung abermals einsegnen lassen oder auf langen Umwegen mit ihm zwischen den umgebenden Feldern und Wiesen herumlaufen, damit Heini ein ebenfalls bereits eingesegnetes, aber mit Farbe extra ein wenig aufgefrischtes Weidezaunstück nicht sofort wiedererkennt.

Zum Verdruß seiner um sein Wohl besorgten Landgemeinde führt unser Heini ein Buch über seine Einsegnungen, weshalb schon einmal ein Einbruch in sein kleines Pfarrbüro nötig war, um die vorderen Seiten seines Einsegnungsbuches möglichst unauffällig zu entfernen oder das Buch gleich vollständig gegen ein neues Buch mit wenigen, sorgfältig gefälschten Eintragungen zu vertauschen, damit Heini seine weiter zurückliegenden Einsegnungen nicht mehr nachvollziehen kann. Heini ist im übrigen doch nicht einfältig genug, um nicht zu merken, daß seine lieben „Schäfchen“ (aus der besten Absicht heraus) ein etwas seltsames Spiel mit seinen Einsegnungen treiben – aus diesem Grund äußert er bei manchen, in allzu offensichtlicher Weise „zurechtgedrehten“ Anlässen auch schon einmal wage Zweifel an der Korrektheit der ganzen Einsegnung, um sich von seiner lieben Gemeinde allerdings ebenso schnell wie gerne wieder von der Richtigkeit der ganzen „Veranstaltung“ überzeugen zu lassen.

Wenn Heine schon bei seinen täglichen Predigten ein wenig nervös und aufgeregt ist, so ist er es erst recht bei so bedeutungsvollen Zeremonien wie einer Taufe oder einer Eheschließung – hierfür schreibt sich Heini tatsächlich jedes einzelne Wort, daß er während solcher grundlegenden religiösen Handlungen zu sagen hat, auf sorgfältig durchnumerierte Zettel, die er dann in der bereits bekannten Weise aus seinen Ärmeln und Taschen zieht, um (nach einem kurzen, um den Beistand seines obersten Dienstherrn bittenden Blick zum Himmel) weiterhin nervös, aber doch in der richtigen Reihenfolge, die heilige Zeremonie auszuführen.

Nachdem eine so grundlegende religiöse Handlung wie die soeben erwähnten Taufen oder Eheschließungen beendet ist, sammeln die Dorfkinder gerne Heinis Notizzettel ein, die er nach ihrem Gebrauch vor lauter Nervosität oft neben dem Altar auf den Fußboden fallen läßt – die Kinder verstecken sich mit den ergatterten Zetteln anschließend hinter der kleinen Kirche, um das, was sie soeben während der Zeremonie mit angeschaut haben, so genau wie möglich nachzuspielen.

Wenn die Kinder zum Beispiel eine Trauung nachspielen wollen, verkleidet sich eines der Kinder mit einem schwarzen Mantel als Heini, während der zweite Junge mit Opas altem Sonntagshut den Bräutigam darstellt und sich das Mädchen mit ein paar ausgerupften Wildblumen im Haar, so gut es eben geht, als Braut herrichtet. Der Dorfjunge, der während solcher Spiele den Heini darstellen darf, ist hierauf natürlich besonders stolz – er muß es sich allerdings auch gefallen lassen, daß genau darauf geachtet wird, daß er jede einzelne Kleinigkeit genau so wiedergibt, wie er sie bei Heini gesehen hat („He, das ist doch falsch, was du da machst! Bei Heini ist das doch ganz anders gewesen!“).

Es soll an dieser Stelle schon einmal verraten werden, daß derjenige Junge, der den Dorfpfarrer Heini ganz besonders oft und überzeugend nachspielt, in einer Nachbargemeinde in späteren Jahren selber als Geistlicher tätig sein wird, wobei er jedoch immer wieder darauf achten müssen wird, daß er den guten alten Heini nicht aus Versehen und Gewohnheit in gar zu deutlicher Weise imitiert!

Heini hat die Gewohnheit, sich immer wieder sehr ausführlich mit bestimmten Bibeltexten oder komplizierten kirchenwissenschaftlichen Fachbüchern zu beschäftigen, wobei es schon öfter vorgekommen ist, daß er sich völlig in seine Lektüre versenkt und seine Umwelt deshalb so gut wie gar nicht mehr wahrnimmt. Wenn Heini von seiner Lektüre innerlich sehr in Anspruch genommen wird, kann es auch geschehen, daß er aus der inneren Erregung heraus während des Lesens plötzlich in der Umgebung herumzugehen beginnt, was manchmal soweit führt, daß Heini – mit vorgebeugtem Kopf und das Buch dicht vor seine Augen haltend – mehrmals von einem Ende des Dorfes bis zum anderen Ende und wieder zurück wandert, ohne auch nur einziges Mal einen Blick auf seine Umgebung zu werfen.

Der höchst konzentriert lesende und dabei im Dorf herumwandernde Heini kann für seine zuschauenden „Schäfchen“ zu einem echten Schrecken werden, wenn sie immer wieder sehen müssen, daß Heini nur noch gerade eben nicht eine Kellertreppe hinunterfällt, oder es noch gerade eben vermeiden kann, mit dem Elan des entschlossenen Lesers gegen eine Hauswand oder einen Lichtmast zu laufen; Der zutiefst mit seiner Lektüre beschäftigte Heini hat es auch schon einmal geschafft, lesenderweise die Eingangstreppe eines Hauses hinaufzusteigen, den langen, geraden Flur zu durchwandern, und das Haus über die kurze, steile Treppe des Hintereingangs auf der Hofseite wieder zu verlassen, ohne auch nur ein einziges Mal von seinem Buch aufzuschauen – auch hierbei hat Heini (wie er es bei komplizierter Lektüre zuweilen tut) weiterhin halblaut vor sich hingebrummelt, ohne seine Umgebung auch nur im geringsten bewußt wahrzunehmen!

Zu Heinis dramatischsten Erlebnissen gehört der Besuch eines Amtskollegen in seiner kleinen Kirchengemeinde: Anläßlich eines runden Dienstjubiläums Heinis – an das Heini in seiner beschaulichen Landgemeinde selbst überhaupt nicht mehr gedacht hatte – hatte aus der Kreisstadt ein vorgesetzter Amtsbruders Heinis seinen Besuch angekündigt, wodurch er bei Heini und seinen „Schäfchen“ – die außer ihrem geliebten Heini während vieler Jahre überhaupt keinen anderen Gottesmann in ihrem Dorf erlebt hatten – für einigen Wirbel sorgte. Heini kannte seine vorgesetzten Amtsbrüder praktisch nur noch von sehr seltenen Schriftwechseln her, und wußte zunächst gar nicht, wie er jenen hohen Besuch in seinen beschaulich-behaglichen, provinzdörflichen Verhältnissen überhaupt entsprechend empfangen sollte!

Heini verbrachte die Zeit, die ihm bis zum Besuch seines höhergestellten Amtsbruders noch blieb, indem er sich unter anderem damit abplagte, einen Text für eine möglichst gelungene Begrüßungsrede zu verfassen, um ihn anschließend nach bestem Wissen und Können auswendig zu lernen, was für Heini – der sich bekanntermaßen alles Wichtige, was er bei bedeutungsvollen Anlässen zu sagen hat, wortgenau auf Zettel schreibt, um es nachher möglichst bequem ablesen zu können – eine echte Qual und Strafe darstellte!

Um wenigstens eine gewisse Gewähr dafür zu haben, daß der Besuch seines höhergestellten Amtsbruders ohne Pannen und peinliche Versprecher ablief, „probte“ Heini diesen Besuch schon einmal vorsorglich mit seinen „Schäfchen“, indem er einigen der klügeren unter den Dorfbewohnern zunächst einmal eintrichterte, was der Besucher aus der fernen Kreisstadt wahrscheinlich zu Heini sagen würde.

Die gutwilligen Dorfleutchen – die ihren geliebten Heini mit seiner harmlos-freundlichen Vorstellung vom Christentum und seinen ebenso harmlosen Schrulligkeiten auf keinen Fall durch einen anderen Pfarrer ersetzt sehen mochten – taten dann auch gerne ihr Bestes, um Heini eventuelle Peinlichkeiten beim Besuch seines Amtsbruders möglichst schon im Voraus zu ersparen: Sie versammelten sich also gleich mehrmals mit Heini an verschiedenen Stellen des Dorfes, um mit ihm immer wieder entscheidende Augenblicke des „Besuchs“ durchzuspielen, wobei der besuchende Amtsbruder jedesmal von einem anderen, entsprechend vorbereiteten Dorfbewohner so gut, wie es ihm eben gelang, dargestellt wurde.

Am Tag des tatsächlichen Besuches war Heini – aller gründlichen Vorbereitung zum Trotz – immer noch einigermaßen nervös und aufgeregt, weshalb seine „Schäfchen“ durchaus um sein Wohlbefinden besorgt waren und ihrem „Seelenhirten“ moralisch und auch praktisch so gut, wie sie es eben konnten, den Rücken stärken wollten: Tatsächlich wurde Heini während des Besuches seines höhergestellten Amtsbruders nahezu von der gesamten Dorfbevölkerung begleitet, weshalb ihm sein wohlwollender Besucher seiner so sehr anhängliche Gemeinde wegen auch bald seine Bewunderung aussprach.

Was Heinis Amtsbruder aus der fernen Kreisstadt für einfache Anhänglichkeit der Gemeinde hielt, war allerdings schlichte Notwendigkeit, weil der nervöse und sich ständig vor einem baldigen Mißgeschick fürchtenden Heini nicht nur um den moralischen Rückhalt seiner Gemeinde froh war, sondern auch ständig damit rechnete, daß er den nächsten Teil seiner mühsam auswendiggelernten Rede nicht mehr parat haben könnte – aus ebendiesem Grund wollt Heini auch immer jemanden direkt hinter sich wissen, der den Zettel mit Heinis Redetext heimlich in Bereitschaft hielt, um Heini im Notfall soufflieren zu können.

Es blieb Heinis Besucher durchaus nicht verborgen, daß Heini seine Rolle als gastgebender Gemeindepfarrer letzten Endes mit der wirkungsvollen Unterstützung seiner „Schäfchen“ spielte – dieser Umstand störte Heinis Amtsbruder jedoch keineswegs; es freute ihn vielmehr, daß ein solcher Zusammenhalt eines Geistlichen und seiner „Schäfchen“ in einer Pfarrgemeinde überhaupt noch zu finden war.

Obwohl der Besuch seines Amtsbruders in einer denkbar günstigen Weise verlaufen war, war Heini – der nichts anderes sosehr schätzt, wie den regelmäßigen, gewohnten Verlauf der Dorfangelegenheiten – doch sehr erleichtert, als sein Besucher an der außerhalb des Dorfes an der Bundesstraße gelegenen Haltestelle in den Bus eingestiegen und definitiv abgefahren war; Heinis besorgte „Schäfchen“ hatten ihren Gemeindepfarrer dann abschließend noch bis zu seinem Pfarrhaus begleitet, damit ihr noch immer nicht ganz beruhigter Heini auch wirklich sicher nach Hause kam.

Beim ersten Gottesdienst am nächsten Tag hatte sich Heini noch immer nicht ganz von den ungewöhnlichen Ereignissen des Vortages erholt, weshalb er seine Predigt aus Versehren zuerst mit den Worten „Mein lieber Amtsbruder …“ begann, woraufhin ihm eines seiner „Schäflein“ leicht vorgebeugt und mit vorgehaltener Hand halblaut zurief: „Heini, das ist der Text von gestern!“ Heini hob daraufhin – wie immer in solchen Fällen – um Entschuldigung und ein wenig Geduld bittend eine Hand, woraufhin ihn seine „Schäfchen“ einmal mehr dahingehend beruhigten, daß sich Heini ruhig genug Zeit lassen solle, weil das alles kein Problem sei!

Jou-Jou:

In dem kleinen südmünsterländischen Provinzdorf, in welchem Heini als Gemeindepfarrer tätig ist, gibt es auch einen sehr eigenbrötlerischen Bauern, bei dem sich seine Nachbarn immer noch nicht einig sind, ob sie Jou-Jou – wie der besagte Landwirt von den anderen Dorfbewohnern inzwischen nur noch genannt wird – für etwas einfältig oder einfach nur für sehr redefaul halten sollen, weil Jou-Jou auf fast alles, was man zu ihm sagt, eben einfach nur mit den beiden Worten „Jou-Jou“ antwortet!

Es gibt eine Beschäftigung, mit der Jou-Jou gerne sehr viel Zeit verbringt, nämlich mit dem Traktorfahren: Wenn man von Jou-Jou in einer anderen Gegend vielleicht auch sagen würde, daß er eine „Meise“ oder „eine Schraube locker hat“, sieht man hier jedenfalls, daß Jou-Jou auf seinem Acker so gut wie jeder andere Bauer „eine gerade Furche ziehen kann“, wie man hier anerkennend gerne sagt. Jou-Jous zweite Lieblingsbeschäftigung ist das möglichst ständige Futtern von Stullen, weshalb man Jou-Jou – von seinem scheinbar unerschöpflichen Stullenvorrat zehrend und dabei doch erstaunlich sicher und unbeirrbar seinen Traktor steuernd – auf Landstraßen und Fahrwegen tagtäglich zwischen Äckern und Wiesen beobachten kann.

Jou-Jous ganzer Stolz ist dann auch tatsächlich der große Traktor, den er sich – wie den BMW oder Mercedes irgendeines Stadtmenschen – mit dem stärksten Motor und allen verfügbaren technischen Raffinessen bestellt hat und mit dem er oft bis weit in die Nacht hinein unterwegs ist, um im hellen Licht der Scheinwerferbatterie – die sich Jou-Jou noch extra auf die Fahrerkabine setzten ließ – seine Felder zu bearbeiten oder – wenn sonst nichts mehr zu tun bleibt – auch einfach nur einige Zeit lang spazieren zu fahren, wobei er sich aus dem Radio das Nachtprogramm anhört.

Eines der eindrucksvollsten Bilder, die man in unserem münsterländischen Landkreis nachts zu sehen bekommen kann, bietet deshalb auch Jou-Jou´s Traktor, wenn Jou-Jou mit voll eingeschalteter Scheinwerferbatterie; kreisendem, gelbem Drehblitzlicht und dudelndem Radio über eine nahezu leere Bundesstraße kutschiert, wobei er immer wieder genußvoll in seine große Stulle beißt und schließlich zufrieden das Gaspedal durchtritt, damit der leistungsstarke Dieselmotor laut röhrend sein Bestes gibt und eine große, rußige Abgaswolke in den tiefdunklen Himmel schickt. – Und dann geht es dem Jou-Jou so richtig gut!

Heinis Traum von der Ehe:

Vor noch nicht allzu langer Zeit hat Heini etwas im Traum erlebt, was ihm im echten Leben wohl erspart bleiben wird: Heini war in seinem Traum mit seiner Haushälterin Annemarie verheiratet! Heini saß in jenem Traum in seinem Pfarrhaus mit seiner Ehefrau morgens am Küchentisch, wobei er sich – wie er es so oft auch im echten Leben tut – nicht so sehr auf das Frühstück als solches konzentrierte, sondern einmal mehr schon wieder mit der Lektüre eines Textes für seine nächste Predigt oder sein seit langem geplantes Buch über die Geschichte seines heimatlichen Landkreises beschäftigt war.

Heinis Frau Annemarie hatte sich während ihrer bisherigen Ehe mit Heini schon oft genug über seine häufige Zerstreutheit sowie seine Fähigkeit, sich bis zur völligen Nichtansprechbarkeit in eine Lektüre zu versenken, in lebhaftester Weise aufgeregt – an dem Morgen, der hier beschrieben wird, war Annemarie mit ihrer Geduld allerdings einmal mehr wirklich am Ende: Heini saß Annemarie gegenüber mit einer Kaffeetasse, einem hartgekochten Ei und einer Brotscheibe vor sich, hatte aber noch keinen Schluck oder Bissen zu sich genommen, sonder war schon wieder in ein hochkompliziertes kirchengeschichtliches Fachbuch vertieft.

Annemarie sprach Heini dann auf irgendeine Haushaltsangelegenheit an, worauf der in seine Lektüre vertiefte Heini zunächst allerdings überhaupt nicht reagierte, weshalb Annemarie ihn ein zweites Mal und diesmal noch etwas lauter ansprach; Heini – der wieder einmal sosehr in seine Lektüre vertieft war, daß er seine Umgebung kaum mehr wahrnahm und auf dem halben Weg zu seiner Tasse auch noch die Kaffeekanne in der Hand gehalten hatte – schreckte plötzlich auf und biß vor lauter Verwirrung in den Rand seiner Tasse, während er gleichzeitig Kaffe auf die vor ihm liegende Brotscheibe goß.

Annemarie – die sich während ihres Zusammenlebens mit Heini schon mit einigen Schusseligkeiten ihres Ehegatten abgefunden hatte – war nun doch am Ende ihrer Geduld, weshalb sie sich von ihrem Stuhl erhob, sich mit ihrer rechten Hand vor die Stirn schlug und mit erhobener Stimme die Worte „Heini, du machst mich noch wahnsinnig!“ ausrief – und danach war Heini aufgewacht! Am nächsten Nachmittag hat sich Heinis Haushälterin dann noch ein wenig gewundert, weil Heini seine Annemarie zuweilen so seltsam mißtrauisch betrachtet hat, wie man es von Heini sonst überhaupt nicht kennt!


Was Heini nach seinem „Feierabend“ gerne tut:

Wenn Heini seine täglichen Aufgaben im Dienste seiner kleinen Landgemeine erfüllt hat, begibt er sich in der Abenddunkelheit oft gerne noch einmal in seine Kirche, um hier seiner heimlichen Passion nachzugehen: Heini schaltet in dem ansonsten schon nachtdunklen Gotteshaus die Beleuchtung des Spieltisches seiner kleinen, aber gewissenhaft gepflegten Dorfkirchenorgel ein und nimmt sichtlich zufrieden vor den Manualen Platz. Annehmend, daß seine lieben Schäflein jetzt allesamt brav zuhause sind, fühlt sich unser Heini nun endlich gänzlich unbeobachtet – dies ist der Augenblick, in dem ein ganz anderer und gar nicht mehr nervöser oder unsicherer Mensch in dem freundlichen Dorfgeistlichen wach wird, weil in dem guten Heini tatsächlich auch ein begeisterter und geradezu virtuoser Organist steckt.

Heini weiß nicht, daß sich zu dieser Zeit schon wieder einige Dorfbewohner vor seiner Kirche eingefunden haben, um Heinis Orgelspiel in der ansonsten sehr ruhigen, münsterländischen Nacht mit stiller Begeisterung zuzuhören, wobei der enthusiastische Künstler natürlich in keinem Fall bei seinem Tun gestört werden darf; Heini beweist in solchen Nächten nämlich oft ein geradezu eindrucksvolles Repertoire, weil er sich durchaus nicht nur mit den gängigen Kirchenliedern begnügt, sondern auch andere Orgelwerke von Johann Sebastian Bach in gelungener Weise wiedergibt und – nach einem ersten gründlichen „Warmspielen“ – bald sogar munter improvisiert und zwischen verschiedenen Musikstilen – bis hin zum Jazz oder Swing – hin- und herwechselt!

Wenn die Stille und Weite einer Nacht im tiefen Münsterland durch die Fenster der kleinen Kirche hereinschaut und Heini tief ins Spiel versunken an seiner Orgel sitzt, bemerkt dieser harmlos-freundliche Landpfarrer oft gar nicht mehr, daß er hier bereits mehrere Stunden verbracht hat – es passiert deshalb zuweilen, daß Heini die Eingangstür seiner kleinen Kirche erst während der ersten Stunden des neuen Tages wieder von außen verschließt, um sich im Pfarrhaus nun auch selbst müde aber sehr zufrieden zur verdienten Ruhe zu begeben.

Heinis kleine Dorfkirchenorgel ist mittlerweile schon einige Jahrzehnte alt und wohl auch ein wenig verschlissen – wie so manches andere Altvertraute, möchte unser Heini seine Orgel allerdings um keinen Preis durch etwas Neues ersetzen lassen; Daß am Ende seines nächtlichen Orgelspiels zunächst oft noch ein Ton weiterklingt, weil die eine oder andere Taste des Spieltisches zum Schluß doch wieder „hängengeblieben“ ist, stört unsere Heini auch nicht wirklich – es würde ihm sogar etwas Gewohntes fehlen, wenn er seine Orgel zum guten Schluß nicht noch mit dem Anstupsen der besagten Taste ganz zur Ruhe bringen könnte.

Wenn Heini an einem jener Vormittage nach einer langen Orgelnacht dann einmal mehr mit kaum geöffneten Augen und noch halb schlafend in seiner kleinen Küche am Frühstückstisch sitzt, zeigt seine sehr bodenständige, altgediente Haushälterin Annemarie allerdings meistens nur wenig Achtung vor Heinis nächtlichem Tun, denn ihr erster Satz lautet oft einfach nur: „Wenn der Herr Pfarrer nicht wieder während der ganzen Nacht an seiner Orgel gespielt hätte, müßte er jetzt nicht so traurig hier herumsitzen!“

„Getaufte“ Hühner:


Wenn unser Heini – ein hochwissenschaftliches, kirchliches Lehrwerk in der Hand haltend und in diesem sehr aufmerksam lesend – von einem Ende des Dorfes zum anderen und wieder zurück wandert, nimmt mit seiner zunehmenden Konzentration auf seine Lektüre üblicherweise auch Heinis Gehgeschwindigkeit immer mehr zu. Als Folge hiervon ist Heini mit einer besonders anspruchsvollen Lektüre nach einiger Zeit oft schon im Lauftempo unterwegs – die weiteren Auswirkungen von Heinis anspruchsvoller Lektüre bekommen hierbei bald unter anderem die Hühner zu spüren, die in unserem münsterländischen Provinzdorf in sonst sehr unaufgeregter Weise ihrem Hühnersein nachgehen.

Als oft unsicherer und bei wichtigen Dingen schnell nervös werdender Mensch, hat sich unser Heini für alle mehr oder weniger häufig wiederkehrenden, religiösen Handlungen in seiner kleinen Gemeinde eine Reihe von „Prozeduren“ zurechtgelegt und auf die schon bekannten, numerierten Zettel geschrieben, die Heini dann im Fall des Falles in seiner so eigenen Art und Weise aus den Taschen und Ärmeln seiner Pfarrersbekleidung zieht.

Wenn Heini – konzentriert lesend und dabei immer schneller Hin- und Herwandernd – also einmal mehr auf den Straßen und Höfen des Dorfes unterwegs ist und von einem empört gackernden Huhn erschreckt wird, das vor seinen eilenden Füßen plötzlich aufflattert, wird unser freundlicher Gemeindepfarrer allerdings nur kurz von seiner Lektüre abgelenkt: Weil Heini bei allem, was ihn irritiert, zuerst einmal auf eine seiner oft hilfreichen „Prozeduren“ verfällt, ist es ihm schon mehrmals passiert, daß er während des kurzen Erschreckens über ein aufflatterndes Huhn (immer noch weitgehend mit seinem Buch beschäftigt) zum Beispiel „Und so taufe ich dich auf den Namen Hans-Georg!“ gesagt hat.

Und deshalb laufen in unserem kleinen, münsterländischen Dorf unter Anderem auffallend viele „getaufte“ Hühner herum!


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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.03.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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