Ernandez Ferrera

Auf der Flucht


 
Ich stand schon auf der Türschwelle, doch ich warf noch
einen letzten Blick auf die Adressbücher und die Fotoalben. Sie begannen zu
qualmen, wie im Übrigem auch der Rest des Hauses. Ich ließ das Bild vor meinen
Augen noch einen Moment wirken, der letzte ruhige Moment vor einer langen
Periode der Hast. Das Zimmer füllte sich anmutig mit vereinzelten dunklen
Rauchschwaden und die ersten Flammen bedienten sich an den seidenen Gardinen. Ich
bin kein Pyromane, aber der Anblick war durchaus befriedigend. Ich sah es
vielleicht durch die Augen eines Malers, der soeben ein wunderbares Werk
vollendet hatte und sich am liebsten selbst auf die Schulter geklopft hätte.
 
Aber mein Werk war noch nicht perfekt. Ich öffnete umgehend die
hölzerne Haustür und vergewisserte mich mit einem kurzen Blick, dass mich
niemand beobachten würde – Nein, niemand.
Ich hastete geduckt durch den Vorgarten, bis zu meinem Wagen, der scheinbar
unscheinbar unter einer defekten Straßenlaterne bewusst von mir geparkt wurde.
Meine Lunge drückte gnadenlos, meine Hände zitterten und immer wieder diese
stechenden Kopfschmerzen. Irgendein Arschloch hatte seine Karre vor mich
gestellt. Das war so nicht geplant! Aber wer könnte auch ahnen, dass so ein
Vollpfosten seinen Mercedes Cabrio mitten in der Nacht unter der einzigen
defekten Laterne im ganzen Viertel parken würde. Ich schauderte bei dem
Gedanken… an ihn. Also fuhr ich meinen Wagen rückwärts, obwohl es nun
eigentlich gar kein Zurück mehr gab.
 
Das Auto war neu und mir unvertraut, aber das war auch ganz
gut so, denn Vertrautheit machte mir Angst. Ich bin wohl fidophob, aber ich befand
mich auch gerade in einer radikalen Therapie. Aus demselben Grund musste ich
die Straßen meiner Heimatstadt verlassen. Hier würden sie mich finden, oder ich
sie. Ich blickte immer wieder in den Rückspiegel und versuchte dabei alles
hinter mir zu lassen. Als ich dann auf die Landstraße abbog hörte ich weit
hinter mir Sirenen. Die Straße war leer. Vor mir fuhr nur Dunkelheit und auch
sie machte allmählich Anstalten die Straße zu verlassen. Ich schaute auf die
Uhr: 4:58. Vielleicht sollte man zu der Zeit schlafen, mein Arzt jedoch hatte
mir vorerst vom Schlafen abgeraten, so war ich nunmehr seit 53 Stunden auf den
Beinen. Vielleicht konnte ich gerade deswegen lediglich darüber nachdenken, was
ich als nächstes tat. Aber dieser Zustand fühlte sich echt gut an, ähnlich wie
der nach einer Meditation oder beim Orgasmus. Jetzt grade war der einzige,
isolierte Gedanke meines Zustandes, den Zustand aufrecht zu erhalten und er formte
sich mühselig zu der Vokabel: KAFFEE.
 
Da kam mir ein Gastronomiebetrieb mit dem frohlockenden
Namen „Ingrids WesternImbiss“ gerade richtig. Ich parkte halbherzig ein,
während ein stechender Schmerz den vorderen Teil meines Hirnes durchzog. Der
Arzt hatte mich davor gewarnt, aber noch viel besser war, dass er mir Morphiumtabletten
verschrieben hatte. Kurz schlich sich bei mir der Impuls ein die ganze Packung
einzuschmeißen, aber dafür wäre immer noch Zeit, falls ich scheitern würde.
Also beließ ich es bei einer Pastille. Ich betrat die Räumlichkeiten von
Ingrids WesternImbiss durch eine saloonartige Schwingtür. Es war stickig und
bis auf eine handvoll Leute, die wie Dekoration für die Barhocker wirkten, war
nichts mehr los. Eine große, halbrunde Theke nahm fast den ganzen Raum ein, die
Wände waren zugekleistert mit wenig aussagenden Fotos und Schriftstücken. Die
vermeintliche Ingrid hinter der Theke wechselte grade den Radiosender und es ertönte
Heimatmusik aus den Boxen. Sie begrüßte mich mit den Worten:“ Wir schließen
gleich, man!“ „Okay, ist ja kein Problem, Madame. Ich hätte nur gerne ’nen
Kaffee!“ Madame, das war der unangebrachteste Begriff für diese unansehnliche,
untersetzte und alles andere als unterernährte Person mit dem lächerlichen
Cowboyhut. Aber der Kaffee schmeckte so, wie sie aussah und das machte
zumindest wach.
 
Während ich meinen Kaffee genoss, betraten zwei weitere
Männer die Kneipe. Sie wirkten in ihren grauen Maßanzügen allerdings extrem
deplaziert und weckten damit meine Aufmerksamkeit. Sie waren beide so
breitschultrig, dass sie hintereinander durch die großzügig breite Schwingtür
eintreten mussten. Bevor sie auf die Theke zusteuerten musterten sie erst einen
Augenblick den gesamten Raum. Sie setzten sich schräg gegenüber von mir an die
Theke. Während der Jüngere der beiden zwei Kaffee bestellte, sah ich kurz direkt
in seine Augen. Meine leicht benebelte Auffassungsgabe war grade in dem Stadium
seine Gesichtszüge mit etwas in Verbindung zu bringen, als plötzlich ein stechender
Schmerz meine Stirn durchbohrte. Fuck! Ich musste die Augen zusammenkneifen und
meine Hände fassten reflexartig an meinen Kopf. Die verdammten Tabletten ließen
immer schneller in ihrer Wirkung nach, aber ich hatte es fast geschafft. Es
würde nicht mehr lange dauern und ich war auf dem besten Weg. Aber was war das
eben für ein derber Schmerz. Ich hatte ja diese Kopfschmerzen jetzt schon fast
seit 4 Wochen, ungefähr seit dem ich zu dem Arzt ging. Aber so stark waren sie
seit Langem nicht mehr. Ich blickte wieder auf. Der Andere der beiden Männer
schaute mich kurz fragend an, wandte sich aber im nächsten Moment wieder zu
seiner Begleitung.
 
Die Plörre, die vor mir stand war mittlerweile kalt aber ich
trank sie aus Prinzip doch noch leer. Ich legte drei Euro auf die Theke und
klopfte danach zur Verabschiedung auf Selbige. Als ich mich zum Ausgang drehte
schweifte mein Blick erneut an dem jungen Mann im Anzug vorbei und plötzlich
schoss es mir durch den Kopf. Ich kannte den Mann von irgendwo her! Ich versuchte
instinktiv mich zu erinnern und den Mann einzuordnen, doch mein
Kopfschmerzpegel machte das unmöglich. Er sah zu mir rüber und sein
Gesichtsausdruck veränderte sich auf einmalruckartig, es schien als würde er
mich auch gerade in diesem Moment wieder erkennen. Je mehr ich mich
konzentrierte desto stärker wurde mein Schmerz, es wurde fast unerträglich. Ich
griff hastig nach meiner Tablettenschachtel, doch verlor in der Bewegung die
Balance und prallte mit dem Rücken gegen die Wand. Alle Meine Sinne waren wie betäubt,
als hätte eine hermetisch abgeriegelte Wolke mich einverleibt. Ich konnte mich
gerade noch auf den Beinen halten. Der Mann war jetzt aufgestanden und ging gemächlich
auf mich zu, er rief etwas. Doch ich war so benebelt, dass mich seine Stimme nicht
erreichte. Ich schaffte es endlich mir eine Tablette einzuschmeißen und mich
wieder aufzurichten. Klar sehen oder denken. konnte ich immer noch nicht, doch
nahm ich war, dass der Mann mir einen schwarzen, viereckigen Gegenstand
entgegenhielt.
 
Ich brauchte frische Luft und der Mann wurde mir mit der
Zeit viel zu aufdringlich, als würde er mir im nächsten Moment seine Dienste
kniend in einer Bahnhofstoilette anbieten. Also hechtete ich grazil durch die
Schwingtür und klatschte draußen elegant mit dem Bauch auf den Asphalt. Batsch!
Zum Glück hatte ich direkt neben dem Eingang geparkt und konnte mich ins Auto
schleifen. Nach ein paar Sekunden auf dem Fahrersitz, bei geöffnetem Fenster,
erholte ich mich leicht. Ich legte den ersten Gang ein und sah dann, wie der
Mann aus dem Lokal trat. Das, für mich immer noch nichts sagende Gesicht, sagte
nun zumindest aus, dass der Mann aufgebracht war. Ich verstand jetzt auch, was
er rief: „Halt! Sie dürfen nicht wegfahren!“ Meine Antwort auf die Forderung
war eher von destruktiver Natur, denn ich trat das Gaspedal durch und raste
knapp an dem Typen vorbei auf die Straße.
 
Nach ein paar Kilometern Fahrt zündete ich mir eine
Zigarette an. Ich hielt den ersten Zug lange tief unten in meinen Lungen, bevor
ich ihn hinaus blies und mich langsam entspannte. Die Kopfschmerzen waren auch
deutlich erträglicher geworden. Der Arzt hatte mir bei unserem letzten Treffen ein
Ziel ins Navigationssystem eingespeichert. Außerdem sagte er mir, ich sollte
ein paar Monate am Zielort bleiben und überreichte mir einen Haustürschlüssel.
Zuletzt vergewisserte er sich noch, dass ich nie zuvor an diesem Ort gewesen
bin und gab mir seine Handynummer für Notfälle mit. Ja, er bemutterte mich! Vor
circa fünf Minuten kontaktierte er mich zuletzt und zwar mit einer
Hiopsbotschaft in Form einer Sms, in der er nüchtern formulierte, dass ich nur noch
wenige Stunden hätte, wenn sich an meinem Zustand nicht ändern würde. Ich
schaute auf die Uhr: 5:36. Allmählich wurde ich wieder müde.
 
Es war leicht neblig auf der Landstraße, als die ersten
Sonnenstrahlen die Straße beleuchteten.
Ich hatte schon lange kein Auto mehr gesehen, als ob jeder
hier diesen schäbigen Landstrich absichtlich meiden würde. Doch jetzt erblickte
ich im Rückspiegel hinter mir einen Wagen der sich langsam näherte. Ein
mulmiges Gefühl breitete sich in meinem Magen aus. Nachdem der Wagen nur noch
zwei Wagenlängen entfernt war, identifizierte ich ihn endlich als Polizeiwagen.
Mir blieb der Atem kurz stehen und ich hoffte unvermittelt, dass sie einfach an
mir vorbeifahren würden. Doch es war schon zu spät. Ich hörte eine, durch einen
Lautsprecher verzehrte Stimme, die mir mit ihrem ganzen Maß an Autorität anordnete,
dass ich rechts ranfahren sollte.
 
Diesmal kooperierte ich, mir blieb nichts anderes übrig.
Außerdem steigerten die Pillen nicht gerade mein Reaktionsvermögen so dermaßen,
dass ich bei einer Verfolgungsjagd die Bullen locker abgehängt hätte. Der
Streifenwagen hielt direkt hinter mir an und einer der Polizisten stieg aus.
Außer den beiden Wagen und deren Insassen war die Straße vollständig unbelebt
und die Situation ähnelte einer abgedroschenen Filmszene. Der Beamte trat neben
mein präventiv heruntergekurbeltes Fenster. Ich redete mir ständig ein, dass
ich ruhig bleiben muss. Nach der obligatorischen Frage nach meinen Papieren,
steckte der Polizist sein vorbildlich geschultes Riechorgan in den Wagen und
sog plakativ tief Luft aus meinem Wagen in die Nase. Er hauchte mir ein
fadenscheiniges „soso“ ins Ohr, während er mit einer routiniert schwungvollen Bewegung
sein Notizbuch aufschlug und mir die alles entscheidende Frage stellte:„ Wohl
was getrunken, wie?“ Mein Herz schlug heftig gegen den Brustkorb und sämtliche
Nerven verkrampften sich, zugleich merkte ich auch, wie sich meine Augen vor
Verwunderung weiteten. Alkohol? Wohl der einzige Stoff, der sich grade nicht in
meinem Körper befand. Ich verneinte seine Frage zögernd mit einem
Kopfschütteln. Währenddessen trat der zweite Beamte mit einem Alkoholschnelltestgerät
neben uns und hielt es mir triumphierend zum Hineinblasen hin. Nach dem Akt des
Blasens starrten die beiden erwartungsvoll auf das Display des Gerätes, als
würde es ihnen gleich den Sinn ihres beschissenen Lebens verraten.
 
Ergebnis: Negativ und das war durchaus positiv für mich. Der
Polizist entschuldigte sich zerknirscht für die Störung, nachdem ich auch die
Anfrage auf Waffen und illegale Substanzen verneinte. Ich entspannte mich
allmählich und er rechtfertigte sich. Ein Kneipenbesucher hatte die Polizei
verständigt, da es ihm selbst misslungen war einen scheinbar stark
angetrunkenen Mann vom Fahren abzuhalten. Das kam mir bekannt vor. Die
Kopfschmerzen lechzten erneut nach Aufmerksamkeit, was mir auch bekannt vorkam.
Plötzlich rauschte das Funkgerät des Polizisten und eine weibliche Stimme
verkündete: „Ihr müsst sofort kommen. Die Feuerwehr braucht unsere
Unterstützung. Es gab eine Brandstiftung an der Ecke Gartenstraße/ Parkweg.“
Mir wurde schwindelig und das Feuer hinter meiner Stirn begann wieder aufzulodern.
„Die genaue Adresse lautet: Gartenstraße 31 in 44799 Witten Herbede“ Jede Silbe
der restlichen Ansage prallte gegen meinen Kopf wie ein Vorschlaghammerschlag
und mir wurde kurzzeitig schwarz vor Augen. Mein Kopf fühlte sich an als würde
er jeden Moment zerplatzen, wie ein Luftballon, der zwischen einem Fakir und
seinem Nagelbrett eingeklemmt war. Ich schrie auf und tastete unwillkürlich
nach den Medis. Einer der beiden Polizisten, die schon auf dem Weg zum Fahrzeug
waren, blieb stehen und drehte sich ruckartig um. Er stürmte zu mir und rief
hastig: „Geht es ihnen gut?“ Geht es ihnen gut?! Würde ich vor Schmerzen
schreien wenn es mir gut geht? Ich gab gequält ein „Alles bestens“ von mir und
verlieh der Aussage noch mehr Glaubwürdigkeit, indem ich noch ein „habe bloß
Migräne“ anhängte. Der Polizist sah mich skeptisch an, folgte dann aber seinem
Kollegen ins Auto.
 
Das war verdammt knapp! Aber diese Adresse sagte mir noch
mehr, als nur die unausweichliche Tatsache, dass ich sie ausgelöscht hatte. Doch
ich konnte die Erinnerung im Nebel meiner stechenden Kopfschmerzen nicht klar
sehen. Ich blieb einen Moment unbewegt im Wagen sitzen und wartete auf die
Wirkung der Tabletten. Ich vermied es den Gedankengang mit der Hausnummer
weiterzuführen. Also legte ich kurzer Hand eine Entspannungs-CD ein, schloss
die Augen langsam und dachte lange Zeit an nichts als Nichts. Danach schaute
ich auf meine Uhr: 6:43. Ich war wohl kurz eingenickt. Die Kopfschmerzen und
der Nebel hatten sich gelegt. Ich fuhr endlich weiter und dachte an meinen Neuanfang
in der Vorstadt von Hagen. Die Fahrt verlief ereignisloser als ein
Sonntagnachmittag auf der Wohnzimmercouch und gegen viertel nach acht passierte
ich das Ortseingangsschild von Hagen. Weitere zehn Minuten später parkte ich
meinen Wagen vor der Eingangstür, der mir empfohlenen Absteige. Sie war von
außen gar nicht so heruntergekommen, wie ich es mir vorgestellt hatte und als
ich die Wohnung letztendlich betrat, empfing mich ein von Licht durchfluteter
Raum, der sogar einen Balkon hatte und halbwegs geschmackvoll eingerichtet war.
Zum ersten Mal seit fünf Stunden ging es mir gut und mein Kopf fühlte sich
regelrecht federleicht an. Ich schmiss mich aufs Sofa, schaltete den Fernseher
ein und wählte fast euphorisch die Nummer meines Arztes, so wie es abgesprochen
war.
 
Er meldete sich nach dem zweiten Freizeichen: „Jensen! Wer
ist da?“ „Eckmann hier. Ich bin da.“ „Aah Joe! Schön von dir zu hören.
Großartig du hast es fast geschafft! Okay, okay, hör mir jetzt genau zu: Was
ist mit den Kopfschmerzen und wann hast du die letzte Tablette geschluckt?“ „So
gut wie im Moment, ging es mir den ganzen letzten Monat nicht mehr. Die letzte
Tablette…“ Ich schaute auf die Uhr: 8:59. im Lokalfernsehen wurden gerade die
Nachrichten angekündigt. „ist knapp zweieinhalb Stunden her!“ „Wunderbar, ich
glaub wir schaffen den Durchbruch. Ich hätte nie gedacht, dass das Experiment
auch nur halb so gut funktioniert.“ Der Doc lachte und fuhr dann fort: „ Du
darfst keinen Fehler machen, verhalte dich in den nächsten Wochen ruhig und
lies nicht so viel Zeitung, hörst du?“ Doch ich hörte ihm grade nicht zu, denn
in den Nachrichten weckte ein Pressesprecher der örtlichen Feuerwehr mein
Interesse. „Was machst du da gerade? Guckst du Fernsehen?“ fragte der Doc
nervös. Hätte ich nicht geistesabwesend den Hörer zur Seite gelegt, hätte ich
noch gehört wie er fast schrie: „ Sind das die Nachrichten? Mach sofort den
Scheiß Fernseher aus, Joe!“ Der Feuerwehrmann im TV kam nun zum Punkt, er
bedauerte es sehr, dass bei einem Brand in Witten eine Frau ums Leben gekommen
sei. Plötzlich wieder ein Stich im Kopf, ich griff nach der Pillenpackung, es
waren noch zehn Stück drin. Doch ich wollte diesmal ohne Morphium gegen den
Kopfschmerz ankämpfen. Im Fernsehen zeigten sie nun eine Videoaufzeichnung des Geschehens
in Witten. Mein Schädel knackte beunruhigend und es kribbelte. Mir wurde im
selben Moment noch schlecht und ich kotzte auf den Couchtisch. Sie blendeten
das Foto der Verstorbenen ein. Ein Assoziationschaos wütete auf einmal in
meinem Hirn. Mir lief plötzlich Blut aus den Ohren und der Nase und die
Schmerzen waren extremer als je zuvor. Aber ich ließ meine Augen starr auf den
Röhrenbildschirm gerichtet. Die Redaktion gab zu guter letzt jetzt den Namen
der Frau unter dem Foto an: Jennifer Eckmann. Auf einmal stand die Zeit um mich
herum still und in diesem klaren Moment fiel es mir wieder ein. Alles! Der Mann
im Imbiss, er war früher in meiner Schulklasse und hieß Ingo. Doch viel heikler
war, dass ich ihn in letzter Zeit öfters aus meinem Haus herausgehen sah. Das
Haus an der Gartenstraße in Witten, das ich vor ein paar Stunden niedergebrannt
hatte, das war verdammt noch mal mein Haus. Nein, es war unser Haus. Das Haus
von mir und Jenny. Meiner Frau. Ich verlor das Bewusstsein.
 
Ich hörte von weither eine Stimme, die meinen Namen rief.
Als ich zu mir kam lag mein Kopf direkt neben dem Hörer und der Doc war noch
dran. „Doc! Ich habe es nicht geschafft. Sie sind alle zurückgekommen.“
Flüsterte ich benommen. Am anderen Ende der Leitung war es nicht so ruhig:
Fuck! Joe, verdammt! Oh man was habe ich mir nur dabei gedacht. War ja klar,                                                  dass es nicht klappt! Joe rühre dich nicht. Ich komm dich sofort abholen.“                                                               „Nein Doc, es ist zu spät! Ich habe sie umgebracht… meine eigene Frau.                                                                Ich kann nicht mehr weitermachen, die Therapie ist zu Ende und ich bin es auch!“                                                   Mit den Worten schmiss ich den Telefonhörer in gegen den Fernseher. Etwa einen halben
Meter neben mir lagen die Tabletten. Ich griff sie mir direkt, um meinen Plan
bloß nicht wieder zu verwerfen. Eine Art Déjà vu überkam mich. Ich zog mir ein
Kissen von der Couch runter und legte es unter meinen Kopf. Überhastet nahm ich
die letzten zehn Pillen in die Hand, schmiss sie mir in den Rachen und spülte
sie mit Mineralwasser herunter, wovon noch eine Flasche halb bekotzt auf dem
Couchtisch stand. Ich ließ mich fallen und zündete mir eine Zigarette an. Jeder
Raucher, der sich schon mal vorgenommen hatte aufzuhören, hätte mich in diesem
Moment beneidet, denn ich war mir todsicher, dass es die aller letzte Kippe
war. Bei dem Gedanken musste ich grinsen, vielleicht lag es aber auch an der
euphorisierenden Wirkung des Morphiums, dass ich lächelte. Ich dachte an das
wunderschöne Lächeln meiner Frau Jenny und schlief langsam und friedlich ein.

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Ernandez Ferrera).
Der Beitrag wurde von Ernandez Ferrera auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.03.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Ernandez Ferrera als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Alles ist Windhauch: Ein Protokoll Gedichte und Worte - Trauer Abschied Erinnerung von Regina Elfryda Braunsdorf



Es ist ein - wirklich nicht verändertes - lyrisches Protokoll, entstanden im ersten Vierteljahr nach der plötzlichen Abwesenheit des besten Freundes und Seelenverwandten. Ein schmerzverbundenes Aufschreiben für die Erinnerung.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (1)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Absurd" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Ernandez Ferrera

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

SigmundF, – ist noch Platz auf deiner Chautsch…1teSitzung von Egbert Schmitt (Absurd)
Wir sind ihm nicht egal! von Heidemarie Rottermanner (Schule)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen