Henry hat einige Wochen im Krankenhaus verbracht und muß sich jetzt gründlich davon erholen, weshalb er von seiner Krankenkasse zur Kur geschickt wird. Die Bilder in den Prospekten der zuständigen Kurverwaltung sehen wirklich sehr vielversprechend aus, so daß sich Henry zunächst einmal sehr zufrieden auf den Weg ins Harzvorland macht. Die ersten Stunden seiner Anreise verbringt Henry in einem dann doch eher gemächlich durch die Landschaft rollenden Eilzug, während einer weiteren Stunde darf sich Henry von einem Postbus durch die Gegend schaukeln lassen, und die letzte halbe Stunde seiner Reise verbringt unser Henry dann schließlich zwischen Kohlköpfen und Runkelrüben auf einem alten Bauernfuhrwerk.
Henry ist ein sehr umtriebiges und tatendurstiges Menschenkind, und so nimmt seine Munterkeit auch während der holprigen Fahrt auf dem alten Bauernfuhrwerk noch keinen wirklichen Schaden – ein wenig erstaunt ist unser Henry dann allerdings doch, weil auch am Ende seiner weiten Reise ins Harzvorland nichts sichtbar werden will, was auch nur irgendwie an eine Kurklinik erinnert. Henrys Reiseziel erweist sich schließlich als ein schon etwas traurig in einem herbstlich dunstigen, abgelegenen, kleinen Tal herumstehendes Fachwerkhaus, von dessen kleinen Fenstern und angedeuteter Terrasse aus wirklich nur die durchnäßten Wiesen des Talgrundes, sowie die herbstlich tristen (und ebenfalls gründlich gewässerten), dunklen Nadelwälder an den beiderseitigen Hängen zu sehen sind.
Nachdem er mitsamt seiner Reisetasche von dem alten Bauernwagen herabgestiegen ist, bleibt Henry erst einmal nichts anderes übrig, als zu warten, bis sich in dieser zunächst scheinbar völlig menschenleeren, regendunstigen Abgeschiedenheit irgend jemand zeigt. Nachdem dann auch einige Minuten mit Regentröpfeln und dem Glockenläuten einer weiter entfernt liegenden Dorfkirche vergangen sind, wird schließlich die knarrend-quietschende Holztür eines kleinen, an das Fachwerkhaus angebauten, ehemaligen Hühnerstalles geöffnet, aus welchem die Besitzerin dieses abgeschiedenen Refugiums hervortritt:
Antonia Schwaderlapp (Antonias einfältige Eltern hatten Großes mit ihrer Tochter vor, sie wußten allerdings nicht, wie man so etwas macht!) verläßt watschelnden Schrittes den kleinen Anbau ihres Hauses, der ihr als Abstellraum für allen möglichen Krempel dient, und wird einigermaßen erstaunt eines Stadtmenschen ansichtig, der ihr völlig unbekannt ist und auf ihrer selten gemähten Wiese auch gar nichts zu suchen hat – Henry betrachtet seinerseits Antonia, die mit ihrer beträchtlichen Leibesfülle, ihren großen Plattfüßen, dem alten geblümten Arbeitskittel, den ausgelatschten Gesundheitssandalen und den vergessenen Lockenwicklern auf ihrem Kopf ein wirklich sehr rustikales Bild bietet und damit zumindest sehr gut zum dem ein wenig morbiden Charme ihres Fachwerkhauses paßt.
Antonia erkundigt sich mit ihrem ländlich-rustikalen Tonfall nach dem Grund für Henrys Hiersein, wobei sie den so plötzlich aufgetauchten Stadtmenschen mißtrauisch von oben bis unten mustert und Henry durch ihr gesamtes Verhalten zu verstehen gibt, daß ihr unterwartete, fremde Besucher (auch zahlende) vor allem einigermaßen lästig sind! Es gelingt Henry schließlich, Antonia zu verdeutlichen, daß er ein Kurgast und von der Krankenkasse angekündigt sei, woraufhin Antonia grummelnd und kopfschütteln in ihre Küche watschelt, um in verschiedenen Schubladen ihres großen, abgeschrammten Küchenschrankes nach einem lange vergessenen Brief zu suchen, den sie halblaut schimpfend und lamentierend schließlich auch zu Tage fördert.
Nach ihrer Rückkehr zu Henry – der immer noch vor ihrer Haustür im nassen Gras steht und unterdessen die Maserung der uralten Holzbalken des Fachwerkhauses betrachtet hat – bestätigt Antonia ihm schließlich, daß er der angekündigte Kurgast aus dem Ruhrgebiet sei, wobei sie den „Stadtmenschen“ Henry allerdings mit einem nur wenig geminderten Ausdruck des Mißtrauens und des allemal doch lieber Alleinseinwollens anschaut. Weiterhin grummelnd und ihren Gast immer wieder unwillig betrachtend, führt Antonia Henry schließlich in sein Zimmer, das klein und mit altersdunklen, einfachen Möbeln ausgestattet ist, wobei auf dem Nachttisch – als einziger Gruß aus halbwegs modernen Zeiten – eine kleine Leselampe steht.
Nachdem Henry in dem einfachen kleinen Zimmer seine Tasche ausgepackt und seine Reiseutensilien in dem altersdunklen Kleiderschrank mit seinen quietschenden Türen sowie der nicht weniger alten Kommonde mit ihren klemmenden Schubladen verstaut hat, möchte er jetzt auch so schnell wie möglich mit seiner Kur beginnen, weshalb er zu Antonia geht, die er in ihrer Küche findet, wo sie mit einem Schüreisen gemächlich in der Feuerung ihres großen, alten Kohlenherdes herumstochert.
Henry zeigt Antonia den Prospekt des angeblichen Kurhotels, den Antonia noch nie zuvor gesehen hat und fragt sie unverzagt, was es denn jetzt mit den so vollmundig versprochenen, modernen Kureinrichtungen auf sich hätte – Antonia betrachtet Henry daraufhin mit einem Ausdruck, aus dem zunächst absolutes Unverständnis spricht, danach grummelt sie wieder einmal in der bereits bekannten, despektierlichen Weise vor sich hin und watschelt dann mit Henry im Schlepptau zu ihrem ehemaligen Hühnerstall, um aus dessen Innerem einen klapperigen hölzernen Liegestuhl hervorzuzerren, der seinen letzten Anstrich vor mindestens 10 Jahren erlebt hat.
Antonia hilft Henry, den alten Liegestuhl auf die regennasse Wiese vor ihrem Haus zu tragen und verschwindet dann grummelnd wieder in ihre Küche, um weiter in der Glut ihres Kohlenherdes herumzustochern; Obwohl der gebrechliche alte Liegestuhl, die durchnäßte Wiese, die regenfeuchte Spätherbstluft und das renovierungsbedürftige Fachwerkhaus mit seiner wortkargen, grummelnden Besitzerin nicht gerade Henrys Vorstellungen von einem gelungenen Kuraufenthalt entspricht, will sich Henry doch nicht davon abhalten lassen, hier auf jeden Fall wieder so gesund wie möglich zu werden, weshalb er sich nun mit besonderer Entschlossenheit in seinem Liegestuhl zurücklehnt und das feuchtkühle Herbstwetter nach bestem Können und Wissen ignoriert!
Henry verbringt mehrere Wochen bei Antonia Schwaderlapp, wahrend derer sich beide in wirklich ausreichendem Maße übereinander wundern können: Henry gibt es – trotz aller dagegen sprechenden Tatsachen – durchaus noch nicht auf, seine Vorstellung von einem gelungenen Kuraufenthalt bei Antonia Schwaderlapp zumindest teilweise zu verwirklichen, weshalb er seine Zimmervermieterin immer wieder mit Wünschen traktiert, die Antonia teilweise noch nicht einmal von ihrem Wortlaut her richtig versteht: Auf Henrys verwegene Frage nach einem Espresso antwortet Antonia beispielsweise mit dem Hinweis, daß sie hier nicht in Köln sei und keinen Zeitungskiosk betreibe, weshalb er sich seinen „Express“ (eine bekannte Kölner Boulevardzeitung) schon woanders besorgen müßte!
An einem der ersten Tage seines „Kuraufenthaltes“ fragt Henry Antonia, wo er denn einmal telephonieren könne – als Antwort auf seine Frage schaut Antonia ihren „Kurgast“ zuerst einmal wieder ziemlich verständnislos an, um ihm nach einem Augenblick des angestrengten Nachsinnens schließlich zu erklären, daß das Postauto einmal in der Woche hier vorbeikäme (Henry schließt aus alldem ein wenig verdrossen, daß er seinen Lieben zuhause wohl allenfalls einmal in jeder Woche einen Brief schicken kann!); Auf Henrys Frage, wo er denn abends ein wenig fernsehen könne, zeigt ihm Antonia in ihrer „guten Stube“ ein altes Röhrenradio mit „magischem Auge“, vor dem er sich dann – von Entzugserscheinungen geplagt – hin und wieder für eine halbe Stunde einrichtet.
Henry gibt sich also standhaft seiner Kur hin, was bedeutet, daß er sich während mehrerer Stunden am Tag vor Antonias Fachwerkhaus in seinem altersschwachen Liegestuhl einrichtet und den Dunstschwaden zuschaut, die nach den hier sehr häufigen, herbstlichen Regengüssen aus den durchtränkten Wiesen steigen. Im Dorf spricht sich allmählich herum, daß sich in Antonias einsam gelegenem Haus ein neuer Kurgast mit wohl etwas seltsamen Angewohnheiten und Vorstellungen eingemietet hat, und so dauert es nicht lange, bis Henry beim Erwachen aus einem ausgiebigen Schlaf in der unbestreitbar frischen, herbstlichen Landluft zwei Kinder vor sich sieht, die ihn mit unschuldiger Neugierde eingehend betrachten.
Der noch etwas schlaftrunkene Henry fragt die beiden Kinder, was sie denn von ihm möchten, woraufhin das kleine Mädchen mit entwaffnender Naivität und Arglosigkeit zu ihm sagt: „Wir wollten uns einmal den spinnerten Zimmermieter von Tante Antonia anschauen! Bist du das?“ Henry – der oft viele Stunde in seinem altersschwachen Liegestuhl auf der zotteligen Wiese vor Antonias Haus verschläft – hat beim Aufwachen auch noch manches andere seltsame Erlebnis: Einmal wird er dadurch geweckt, daß ihn irgend jemand beständig an den Füßen stupst – beim Hinschauen sieht er unmittelbar vor sich eine ausgewachsene Kuh, die das Gras der Wiese abweidet und wohl meint, daß das Gras an derjenigen Stelle, an welcher Henrys Liegestuhl steht, ganz besonders gut schmeckt!
Die Geschichte von Antonia Schwaderlapps eigenwilligem Zimmermieter macht in der Gemeinde auch weiterhin ihre Runde, weshalb Henry bald noch von anderen Dorfbewohnern besucht wird; Eine Tages findet sich zum Beispiel auch der Gemeindepfarrer vor Antonias Haus ein, der mit Henry – welcher von den naiven Dorfleutchen als eine Art von verrücktem Künstler angesehen wird – dann auch in der hier üblichen arglos-naiven Wiese ein Gespräch über die Geschichte der Kirchenmalerei führen möchte. Bevor er sich verabschiedet, fragt der Pfarrer Henry – von dem man inzwischen weiß, daß er aus dem Ruhrgebiet stammt – auch noch, ob er nicht froh wäre, jetzt endlich mal für einige Zeit von seinen vielen Briketts wegzukommen!
Nachdem Henry einige Wochen später aus Antonias Waldeinsamkeit wieder nachhause zurückgekehrt ist, kann er jedenfalls zu Recht behaupten, daß er sich gut erholt hat!
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.03.2009.
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