Daniel Siegele

Der Miezekater

 

In einer gepflegten Eigenheimsiedlung am Rande einer bekannten, südwestdeutschen Großstadt lebt zusammen mit seiner ihm sehr zugetanen, menschlichen Freundin der Miezekater. Dieser außergewöhnlich große und schwere Kater – den sein dichtes, weiches und sehr langhaariges, cremefarbenes Fell noch wohlgenährter erscheinen läßt, als er es ohnehin schon ist – führt im Geheimen ein genußerfülltes Doppelleben:

Während er seiner ihn liebenden Isabella tagsüber meisterhaft schauspielernd das Bild eines einfältig-freundlichen, ganze Tage verschlafenden, und fast nur zur Essenszeit wirklich munter werdenden Hausgenossen vermittelt, verwandelt sich der Miezekater bei vollständig hereingebrochener, abendlicher Dunkelheit – von Isabella bisher unbemerkt – jedoch oft in einen stillen Wanderer und Jäger, um bald lustvoll in dunklen Gärten, auf nächtlich stillen Siedlungsstraßen oder nahen, mondbeschienen Wiesen umherzustreifen. Erst im fahlen Licht der beginnenden Morgendämmerung kehrt der Miezekater dann müde, aber sehr zufrieden durch die Katzenklappe der Küchenhoftür wieder in sein Heim zurück, um sich hier auf seinem Tagesschlafplatz auf der bequemen, breiten Wohnzimmercouch einzurichten.

Zu den bemerkenswertesten Eigenheiten des Miezekaters gehört – als wesentliche Ursache seiner beträchtlichen Leibesfülle – sein meist nur für relativ kurze Zeit zu stillender Appetit, der seinen Magen in den nicht seltenen Fällen besonders drängengenden Hungers – sozusagen anstelle seines Gehirns – zum Leidwesen seiner menschlichen Freundin Isabella einer vielbegehrten, großen, dunkelblonden und kulturversierten Besitzerin einer gutgehenden Edel-Boutique in gehobener Einkaufslage der eingangs erwähnten Metropole – gewissermaßen das Denken übernehmen läßt:

Es ist Isabella nahezu unmöglich, eine Speise zuzubereiten, ohne hierbei von ihrem geliebten und zuweilen maßlos verwöhnten Miezekater behelligt zu werden, da sich Jonas bei ersten entsprechenden Anzeichen bald in der komfortablen Einbauküche einfindet, um entschlossen die Arbeitsfläche zu erklimmen; hier strebt der Miezekater – seiner „Tagesrolle“ entsprechend und daher anscheinend von jeglicher „doch nur aufhaltender“ Vorsicht und Vernunft unbelastet – sogleich dem brodelnden Kochtopf, der fettzischenden Bratpfanne oder dem verheißungsvoll duftenden, von einem scharfen Messer geschnitten werdenden Fleisch zu.

Isabella sieht sich nun gezwungen, sich zu gleicher Zeit der Bereitung ihres Mahles und der Bändigung ihres eßfreudigen, vierpfotigen Hausgenossen zu widmen, welcher – von ihren warnenden Worten und Abwehrbewegungen gänzlich unbeeindruckt – jetzt beinahe schon im Begriff ist, die ersten Fleischstückchen mit spitzen Krallen aus Topf oder Pfanne zu angeln.

Während sie ihren Jonas – der auf der glatten Arbeitsfläche mit durchrutschenden Pfoten kraftvoll (und scheinbar ohne jede Einsicht) der werden Speise zustrebt – angestrengt, aber so sanft wie nur möglich vor dem drohendem Verbrühen oder Anbraten seiner Nase bewahrt, gelingt es der ebenfalls willensstarken Isabella letzten Endes (und zu ihrer eigenen gelegentlichen Verwunderung) jedoch stets, ihre kulinarischen Vorhaben ohne Schäden an Kater, Küche und Köchin auszuführen. Leider mißlingt es Isabella hingegen sehr oft, ihren Miezekater vor den unangenehmeren Folgen seiner Eßlust zu bewahren, die ihm in Abständen von etwa zwei Monaten vorübergehend jede Freude am Leben nehmen.

Wenn Jonas von seiner ihn sanft streichelnden Isabella als gepeinigtes, den erlösenden Tod herbeisehnendes, zitterndes, schweres Fellbündel zum benachbarten Tierarzt getragen wird, der ihn mit einer zutiefst verabscheuten und gefürchteten Spritze von seinen Schmerzen befreit, schwört der Miezekater jedesmal vorübergehend allen kulinarischen Genüssen ab; Wissend, daß die Wirkung solcher Schwüre jedoch selten lange anhält, begnügt sich der mit Isabella befreundete, junge Tiermediziner jedoch nicht mit der Verabreichung des erlösenden Medikaments:

Seitdem er erkannt hat, daß der – trotz aller Eßfreude und vorgetäuschter Naivität – doch ziemlich intelligente Miezekater seine Gesten und Worte sehr wohl versteht, schaut der Tierarzt seinem hierdurch zutiefst beleidigten Patienten nach jeder Behandlung noch einmal in die großen gelben Kateraugen, um ihn mit den leise gesprochenen Worten: „Wir wissen doch beide ganz genau, daß du mich verstehst!“ zusammen mit seiner Isabella zu verabschieden, der er bezüglich ihres von ihr geliebten und verwöhnten, genußfreudigen, vierpfotigen Hausgenossen zuvor noch einmal in aller Freundschaft in Gewissen geredet hat.

Als zunächst zufälliger Zeuge seiner nächtlichen Unternehmungen kennt der Tierarzt im Gegensatz zu Isabella inzwischen auch den „nächtlichen Miezekater“, der es liebt, stundenlang in der dann recht stillen Eigenheimsiedlung und ihrer näheren Umgebung umherzuwandern, mit unerwartetem Geschick Kleintiere zu erjagen, oder in einer versteckten Ecke des penibel gepflegten „Mustergartens“ der pensionierten Oberstudienrätin Doktor Mathilde Spießerburg deren sorgfältig gepflanzte und gehegte Blumen äußerst gewissenhaft wieder auszugraben – ein Talent, mit dem er den einfältigen, „halbwilden“ Dackel Waldi (ein freundlicher, kleiner Hund mit nicht allzuviel „störender“ Intelligenz, der sich seinerseits gerne nächtlicherweise auf den Siedlungsstraßen und in den umgebenden Gärten herumtreibt) bereits einmal erheblich erstaunt und beschämt hat.

Als – ohne jede miezekaterische Verstellungskunst – tatsächlich recht naiver und nicht eben schnell denkender Angehöriger seiner Art, war Waldi von seiner Mutter schon früh über das für Dackel und andere Tiere ihrer kleinen Erfahrungswelt gehörige Verhalten aufgeklärt worden: Ihren Belehrungen zufolge grüben Katzen ungern und ohne jedes Geschick, Hunde trieben diesen Sport hingegen um so lieber und ausdauernder – eine Sichtweise, für die sich der lieber in der Umgebung herumlaufende als Löcher grabende (und Katzen überdies eher aus dem Wege gehende) Waldi allerdings nie begeistern konnte.

An einem fortgeschrittenen milden, dunklen Spätsommerabend lief unser Waldi also nichts Böses ahnend an Mathilde Spießerburgs akkurat geschnittener, hoher Gartenhecke entlang; An der schmiedeeisernen Gittertür vorbeikommend, wurde Waldi mehr als erstaunt des Miezekaters ansichtig, der hier lustvoll und routiniert mit seinen kräftigen Pfoten Mathildes Lieblingsblumen ausbuddelte – die Erde hinter sich bereits zu einem ansehnlichen Haufen aufgeworfen habend. Der arme, schockierte Waldi – den seine gute Mutter auf solch einen Anblick gewiß nicht vorbereitet hatte – zweifelte angesichts des beleibten, emsig grabenden, cremefarbenen Wuschelkaters (Mein Gott, woher kommen so große Katzen??) zunächst ernsthaft an seinem eigenen Verstand und blieb – von dem unterwarteten, schockierend-faszinierenden, skurrilen Bild gefesselt – wie angewurzelt vor der geschlossenen Gittertür stehen.

Obwohl ihn sein genußvoll-verwerfliches Tun sehr in Anspruch nahm, bemerkte der Miezekater doch recht bald, daß ihm jemand aus der stillen Dunkelheit der ihn umgebenden Nacht heraus zuschaute und wendete sich mit einem „Ist was?“ fragenden Blick dem verstört-faszinierten Waldi zu, welcher – dem Blick des selbstsicheren, entschlossenen Kater nicht lange standhaltend – bald seinen Beobachtungsposten räumte und sich die leere, nächtliche Siedlungsstraße entlang trollte, wobei er sich selbst mit den mehrfach wiederholten Worten „Es geht mir gut, es ist alles in Ordnung! – Es geht mir gut, es ist alles in Ordnung!“ zu beruhigen suchte.

Waldi nahm sich fest vor, während des nächsten Gesprächsabends in der „Therapiegruppe für verunsicherte junge Hunde“ von seiner äußerst irritierenden, abendlichen Begegnung mit dem lustvoll und routiniert Löcher grabenden Miezekater Jonas zu erzählen, wobei er die wahrscheinlichen Reaktionen seiner Leidensgenossen (denen vom urtümlichen Mut ihrer wölfischen Vorfahren nur noch wenig oder gar nichts geblieben war!) bereits vor sich sah: Entweder würde ihm niemand glauben, oder es würden alle anderen zuhörenden Therapieteilnehmer wieder so sehr ergriffen sein, daß sie sich nur beruhigen konnten, indem sie einmal mehr recht ausdauernd ihre eigenen Schweife streichelten (während besonders gefühlsgeladener Therapiesitzungen passierte es nicht selten, daß so mancher sehr aufgeregte junge Hund versehentlich nicht seinen eigenen Schweif, sondern denjenigen seines Nachbarn zu beruhigen suchte!).

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.03.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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