Sven Später

Paladin

 

„Halt, du Hund! Zieh dein Schwert, und wir bringen es hinter uns!“

Jesir blieb stehen als er die Stimme in seinem Rücken hörte. Eigentlich hätten sämtliche Gegner tot sein müssen, aber einer war wohl doch noch übrig. Nun, das würde ihn nur ein müdes Lächeln und einige gut gezielte Hiebe kosten. Dann war endlich Schluss mit dieser Seuche, das Land war wieder gesäubert.

Mit metallenem Kreischen, das in Jesirs Ohren wie Musik klang, glitt seine Klinge aus der Scheide. Er drehte sich mit einem breiten Grinsen auf seinem Gesicht um. Mehr Blutvergießen bedeutete schließlich einen zusätzlichen Ruhmespunkt. Doch sobald Jesir in das Antlitz seines letzten Feindes blickte, weiteten sich seine Augen. Auch das Grinsen verschwand und machte einer Grimasse puren Ekels Platz. Mit allem hatte er gerechnet, nicht aber mit etwas derart Abstoßendem. Sein Magen rebellierte aufs Heftigste. Fast hätte Jesir die gute Hammelkeule, die er am Morgen verspeist hatte, wieder von sich geben müssen. Doch der Krieger hielt dem Würgereiz stand.

Sein Vater hatte keinen Feigling großgezogen, der beim erstbesten Anblick des Grauens kneift. Also spuckte Jesir aus und nahm Kampfstellung ein. Der Gegner sollte den ersten Schritt machen.

Vor Jesir richtete sich ein hoch gewachsener Mann auf und ließ in der offenen Handfläche seiner linken Hand eine leuchtend blaue Kugel aus magischer Energie erscheinen. Rüstung und Schwert glänzten im schönsten Silber, waren derart gut poliert, dass man sich darin spiegeln konnte. Nicht ein Kratzer verunstaltete die Oberfläche, kein Schmutz, kein getrocknetes Blut. Aufgebläht vom leichten Sommerwind flatterte ein rubinfarbener Umhang um die Schultern des Kämpfers. Auf dem Schild, das er neben sich auf den Boden gelegt hatte, prangte ein weißes Doppelkreuz.

„Nun verlässt dich der Mut, du Mörder“, sagte der Paladin und reckte dabei sein breites Kinn nach vorne.

„Mein Name ist Sir Richard von den Sonnenhügeln, Paladin des Ordens der Heiligen Isabell, Schutzpatronin aller guten und gerechten Dinge, Göttin der Rechtschaffenen, Herrin über die Kunst der Heilenden Hand.“

Während der Paladin seine Rede hielt, bei der er beinahe jedes Wort voller Stolz und Ehrgefühl in die Welt donnerte, konnte Jesir seinen Blick nicht von dem fein säuberlich gestutzten Schnurrbart abwenden. Immer wieder wippten die gezwirbelten Enden fröhlich als winkten sie ihm zu. Wenn er nicht aufpasste, würde ihn dieser Verfechter der Ordnung einfach aufspießen.

Es hieß, ein Paladin sei schwer zu bezwingen, aber da es nur mehr wenige von ihnen gab, konnten sie ja nicht unbesiegbar sein. Wenn normale Fußtruppen in der Lage waren, eine Armee dieser grässlichen Gutmenschen zu vernichten, sollte es dem ersten Krieger des gehörnten Kaisers erst Recht möglich sein als Sieger aus dem bevorstehenden Duell hervorzugehen.

„Los, kommt zum Ende und kämpft. Ich habe heute noch etwas zu erledigen“, knurrte Jesir und zog dabei seine Lefzen hoch. Scharfe Reißzähne wurden sichtbar, die mühelos Fleisch und Knochen durchtrennen konnten. Sein Fell sträubte sich angesichts des unverfälschten Guten, dass sich ihm in den Weg stellte.

Schlimm an der Sache war vor allen Dingen, dass Paladine keine Furcht vor den Kreaturen des Chaos kannten. Jesir war es gewohnt, dass Menschen, Elfen und Zwerge weiche Knie bekamen, wenn sie ihm oder einem anderen Vertreter seiner Art gegenüberstanden. Die mutigsten Krieger all dieser Völker ängstigten sich vor den Wolfsmenschen. Ja, sogar in den eigenen Reihen gingen Orks und Oger ihren haarigen Mitstreitern lieber aus dem Weg. Wölfe waren streitlustig, rauften für ihr Leben gern und wenn es zu Streitigkeiten kam, wurden sie nicht selten erst mit dem Tod eines der Kontrahenten beigelegt.

Aus diesem Grund und auch wegen ihren Qualitäten als Jäger und Frontkämpfer zählten sie zu den Elitetruppen des gehörnten Kaisers. Im Gegenzug dienten sie ihrem Herren loyal bis zum Ende. Nichts ließ sie wanken, sie beteiligten sich nie an Intrigen oder ähnlichen Dingen. Sie machten bei jeder Schlacht reiche Beute, durften ihre Feinde verspeisen und mit ihnen spielen. Was brauchten die Rudel mehr.

Der Paladin lachte auf. In seiner Hand zerplatzte die Energiekugel und hüllte den Kämpfer in bläuliches Licht. Vermutlich handelte es sich um einen Zauber, der den Harnisch unempfindlich gegen Angriffe machen sollte.

Hinderlich, aber nicht unmöglich zu knacken, überlegte Jesir. Jeder hatte eine Schwachstelle, man musste sie nur finden.

Nachdem das Licht einem leichten Schimmern gewichen war, nahm der Paladin seinen Schild auf, hob das Schwert und schritt dem Wolfsmenschen entgegen. Der Tanz begann. Hiebe wurden ausgeteilt und abgewehrt. Es folgten Ausweichmanöver, Tritte und Schläge – Etikette waren hier fehl am Platz. Allein das Überleben musste gesichert werden. In wildem Taumel droschen die Feinde aufeinander ein, hin und wieder wurden Beschimpfungen und Beleidigungen ausgespien, die den Gegner moralisch schwächen sollten, aber sie bewirkten nichts. Zwei Profis der Schlacht waren am Werk.

Minuten vergingen, bald war eine ganze Stunde verstrichen und keiner der beiden wollte nachgeben. Jesir genoss es einem ebenbürtigen Gegner die Stirn bieten zu dürfen. In den Schlachten war er auf gut geschulte Ritter losgegangen, doch niemand hatte es bisher geschafft, ihn bis zur Erschöpfung zu fordern. Der Paladin hingegen kämpfte gleich einer ganzen Armee. Für Jesir eine echte Herausforderung, die sein Blut in Wallung brachte. Wenn er eines Tages sterben musste, wünschte er sich von einem Krieger wie diesem Paladin erschlagen zu werden. Aber noch war es nicht an der Zeit. Er wollte den Triumph des Bösen miterleben. Der dunkle Herrscher hatte bereits weite Teile des Landes erobert und es stellten sich lediglich noch drei Königreiche ihrem unausweichlichen Schicksal entgegen. Diese sollten aber bis zum nächsten Jahr vernichtet sein. Sie hatten kaum etwas an kampfbereiten Truppen zu bieten.

Hin und wieder versuchte der Paladin einen Zauber zu wirken, aber Jesir ließ es nicht zu. Trotzdem schaffte es der Wolfsmensch nicht, seinen Kontrahenten zu verwunden oder gar zu töten. Sir Richard erging es nicht anders. Klinge traf auf Klinge, prallte von Rüstungen ab und schrammte zuweilen den Stein der Burgmauer.

Mit der Zeit wich Jesirs Müdigkeit einem unbändigen Verlangen nach Blut. So erging es allen Halbwölfen, wenn sie sich erschöpft fühlten, aber dennoch kämpfen mussten. Es machte sie zu wahren Berserkern. Ein weiterer Grund, der sie zu den besten Kriegern der Dunkelheit machte.

Rasend schlug Jesir auf den Paladin ein. Seine Deckung vernachlässigte er vollends und setzte neben seinem Schwert auch Klauen und Fänge ein. Nun war alles erlaubt, was den Gegner vernichten konnte. Sir Richard wusste der Raserei nicht zu entkommen. Immer mehr trieb ihn die Bestie in die Enge. Zwar traf er den Wolfsmenschen ein- oder zweimal, aber es waren nur Fleischwunden, die nicht tief genug waren, ihn zu schwächen. Die Wunden des Paladins hingegen konnte keine Magie mehr verhindern. Blut befleckte die glänzende Rüstung, das so stolze Gesicht wirkte verzerrt.

In schierer Verzweiflung verlor Sir Richard jede Beherrschung. Er fürchtete nicht den Tod, denn der würde ihn nur Heim bringen, zur Heiligen Isabell. Nein, der Paladin fürchtete sich vor dem Versagen. Wenn er niedergestreckt wurde, gab es ein Ungeheuer mehr auf Erden, das er nicht hatte vernichten können, und das weiterhin mordend durch Dörfer und Städte ziehen würde.

Somit wäre er, der Verteidiger der Schwachen und Armen, ein Hüter der Ordnung und Beschützer des Lebens für den Tod von Unschuldigen verantwortlich. Isabell würde ihm die Einreise ins Sonnenreich verwehren, er wäre ein geächteter Geist. Vorbei der Traum vom Beisammensein mit den anderen Paladinen, die für ihre Überzeugung starben, den Gegner jedoch mit ins Grab nahmen.

Jesir amüsierten die verzweifelten Versuche seines Feindes, sich noch irgendwie aus der Affäre zu ziehen.

Ein Biss ins pelzige Ohr des Wolfsmenschen und ein kleiner Kratzer auf dessen Nase waren alles, was Sir Richard noch erreichen konnte, bevor ihn Jesirs Fänge aus dem Leben rissen.

Der Kampf war beendet.

Das Böse hatte ein weiteres Mal gesiegt.

Zufrieden ließ Jesir sein lautestes Heulen erklingen, das weit hinunter ins Dorf getragen wurde und die dort lebenden Menschen vor Schreck erstarren ließen. Sie wussten, dass der Paladin, der sie hätte retten sollen, tot bei den anderen Kriegern in der alten Burg lag. Nun war alles verloren. Für alle Zeit.

Als Jesir zur Festung des Kaisers zurückkehrte und seinen Bericht abgab, wie er im Alleingang die kleine Burg Donnerfels eingenommen hatte, wurde er für seinen Mut und seine Taten geehrt. Eine Prozedur, an die er sich längst gewöhnt hatte. Doch das Geschenk für den Kaiser wollte Jesir ihm persönlich überreichen. Niemand durfte in die beiden Bündel schauen, die der Wolfsmensch mitgebracht hatte. Wer es versuchte, wurde mit einem warnenden Knurren davon abgehalten.

Jesir verlangte eine Audienz, und sie wurde ihm gewährt.

Keine der Leibwachen des Kaisers wagte, sich dem Wolfsmenschen in den Weg zu stellen. Man kannte ihn, man wusste, dass er gefährlich war. Vor allem dann, wenn er gereizt wurde.

Durch die Königshalle schritt der Wolfsmensch dem gigantischen Thron aus schwarzem Ebenholz entgegen. Schatten huschten zwischen den Säulen umher. Sie beobachteten Jesir, waren bereit, ihn sofort anzugreifen, sollte er den Herrscher der Dunkelheit gefährden. Diese verdammten Seelen eigneten sich hervorragend als Wächter, denn ihnen lag nichts am höfischen Spiel um mehr Macht. Sie standen unter dem Bann des Kaisers, der sie aus den Tiefen der Unterwelt heraufbeschworen hatte. Wenn er starb, mussten auch sie wieder in das unendliche Nichts eintauchen, in Ewigkeit zur Untätigkeit verurteilt. Langeweile hatte viele der Seelen in den Wahnsinn getrieben, aber selbst der verschwand nach einigen tausend Jahren. Übrig blieb dann nur ein trostloses Nichts, durch das sie schweben mussten.

Sah man sich dem Kaiser gegenüber, so wurde einem bewusst, dass die Wächterseelen nur dazu da waren, dem Herrscher Arbeit zu ersparen. Wenn es hart auf hart kam, konnte er sich sehr gut selbst verteidigen. Er trug eine schwere Rüstung aus schwarzem Metall, die über und über mit Stacheln bestückt war. An seiner Seite stand ein gigantisches Schwert, das wohl außer dem Kaiser selbst niemand zu führen vermochte.

Das Gesicht des Herrschers lag unter einer Totenkopfmaske verborgen. Keiner seiner Untertanen wusste, wie er aussah. Man erzählte sich, dass jeder, der in das wahre Antlitz des Kaisers blickte, auf der Stelle tot umfallen würde. Sein Kopf über der Maske war frei, da ihm der Kranz seiner großen und kleinen Hörner genügend Schutz bot.

„Du hast mir ein Geschenk mitgebracht, mein treuer Jesir“, erklang des Kaisers tiefe Stimme. Jedes seiner Worte wurde von einem Knurr- und einem Zischlaut begleitet. So sprach kein Wesen dieser Welt. Es musste sich um einen Abtrünnigen Dämonen handeln.

Aber Jesir wollte nicht weiter darüber nachdenken. Ihm war es gleich, was der Kaiser war. Er stand für das Chaos und ermöglichte den Kreaturen der Dunkelheit ein herrliches Leben. Einige Geheimnisse sollten da besser geheim bleiben.

„Ja, mein Meister“, erwiderte der Wolfsmensch, ohne dabei zu unterwürfig zu klingen. Kriechen wurde als Zeichen der Schwäche gewertet.

„Ich habe einen der mächtigsten Gegner des Kaiserreichs bezwungen.“

Jesir öffnete die Beutel. Zuerst den großen, aus dem eine mit Blut befleckte Rüstung scheppernd zu Boden fiel. Dann zog er an dem Seil des kleineren Beutels, steckte eine Klaue hinein und hielt schließlich den Kopf des Paladins in die Höhe.

„Rüstung, Schwert und Haupt eines Paladins, Meister. Es ist mir eine Ehre, Euch dies zu überreichen – und es war mir eine Freude, diesen Streiter für Euch zu erlegen.“

Beinahe glaubte Jesir eine Art bewunderndes Stöhnen vernommen zu haben, aber er war sich nicht sicher. Seinen Untergebenen durfte der Kaiser nur selten eine Art Bewunderung entgegenbringen. Das gesamte Reich, die Herrschaft unter seiner Führung - alles beruhte auf Furcht und Macht. Kam dieses Gebilde ins Wanken, siegte am Ende das Gute. Dunkelheit wurde viel zu leicht vom Licht verdrängt und musste sich ungleich stärker durchsetzen.

„Du hast mir und unserer Sache einen sehr guten Dienst erwiesen“, sagte der Kaiser ohne die Spur einer Emotion. „Damit du siehst, dass solche großen Taten von mir belohnt werden, soll heute ein Fest stattfinden. Dich soll man heute ehren und preisen. Und ich werde dich zum General meiner ersten Armee ernennen. Die Elitetruppen der Wölfe sollen meine siegreiche Streitmacht zum endgültigen Sieg über das Licht führen. Ohne einen Paladin steht uns nichts mehr im Weg.“

Er machte eine Pause und überlegte.

„Dies müsste sogar der letzte Paladin gewesen sein. Damit ist das Schicksal der Welt besiegelt. In spätestens einem halben Jahr wird sich die Sonne für immer verdunkeln. Geh nun, treuer Jesir. Genieße dein Fest und danach – vernichte die Ordnung in meinem Namen. Im Namen der Finsternis.“

Jesir nickte kurz und verließ den Königssaal. Insgeheim freute er sich gleich einem Welpen über die Ernennung zum General, doch durfte er diese Freude nicht zu deutlich werden lassen. Krieger nahmen solche Ehrungen hin, kosteten den Ruhm in anderer Weise aus.

Gegen Morgen erwachte Jesir durch die gellenden Alarmrufe. Er setzte sich schwerfällig auf und hielt seinen dröhnenden Schädel. Das Fest war herrlich gewesen. Alle hatten ihm zugejubelt, einige verehrten ihn nun sogar als Gott. Zudem gab es Fressen und Bier in rauen Mengen, ganz zu schweigen von dem lebendem Nachtisch: einer Gruppe Menschen, die er und die anderen durch die Festung gejagt und mit ihnen gespielt hatten.

So ließ es sich leben. Bald schon würde man die anderen Völker nur noch züchten, um etwas Zerstreuung zu finden. Jesir selbst durfte sich dann ganz sicher über ein großes Stück Jagdrevier mit eigener Burg freuen und sein Dasein genießen. Kriege würde es immer geben, also war auch hierfür gesorgt. Irgendwann stellte sich einer der Dämonenfürsten gegen den Kaiser oder die Kreaturen bekämpften sich gegenseitig. Kein Grund, sich vor dem Müßiggang zu fürchten. Wenn nichts geschah, konnte Jesir selbst dazu beitragen, dass der Kampf niemals ganz aufhörte.

„Alarm! Alarm! Der Erzmagier wurde ermordet! Schützt den Kaiser, ein Mörder befindet sich in der Festung! Alarm!“

Die Stimme eines wachhabenden Orks war es, die Jesir aus seinen Träumen gerissen hatte. Der Erzmagier. Tot? Wie hatte das passieren können? Nur ein Paladin war in der Lage, den höchsten Zauberer der Dunkelheit zu vernichten. Aber Jesir hatte doch den letzten von ihnen erledigt – oder gab es noch einen weiteren?

Er versuchte aufzustehen, doch ein Gefühl, das er nie gekannt hatte, ließ ihn wieder zu Boden sinken. Etwas stimmte nicht mit ihm, und es konnte nicht am Alkohol liegen. Tief in seinem Herzen verspürte er etwas, eine Art der Genugtuung, die falsch war. Der Wolf freute sich darüber, dass man diesen boshaften Magier, dessen Lebensinhalt allein darin bestand hatte, Unschuldige zu quälen, endlich seiner gerechten Strafe zugeführt hatte.

Gerecht.

Seit wann interessierte es Jesir, ob etwas gerecht war oder nicht? Scheinbar hatte ihm die Begegnung mit dem Paladin allerhand Unsinn in den Kopf gesetzt.

Mehr Gedanken konnte sich der Wolfsmensch nicht machen, denn Fäuste hämmerten wild gegen seine Tür. Stimmen von Ork-Wächtern wurden laut: „Jesir! Man hat dich gesehen als du aus den Gemächern des Erzmagiers geschlichen kamst. Niemand anderes als du kann der Mörder sein. Stell dich deiner Strafe, der Kaiser verlangt deinen Kopf!“

Sie mussten mit etlichen Kriegern vor der Tür seines Zimmers stehen. Vermutlich waren auch Schützen und Zauberer anwesend, denn sie wussten, dass Jesir sich nicht kampflos ergeben würde. Und sie wussten auch, dass er alles andere als leicht zu überwältigen war.

Jesir konnte sich nicht vorstellen, wie man ihn hatte beobachten wollen. Gleich nach dem Fest hatte er sich zur Ruhe gelegt und war sofort eingeschlafen. Außerdem machte es keinen Sinn, den Erzmagier zu beseitigen. Niemand hatte etwas davon, schon gar nicht der Wolfsmensch. Ihm waren Streitigkeiten um einen Posten gleichgültig. Zudem verfügte er über keinerlei magische Befähigung. Warum sollte er so etwas getan haben?

Mit Worten ließen sich die geifernden Kämpfer dort draußen nicht beruhigen. Sie wollten seinen Tod und würden alles daran setzen, dieses Ziel zu erreichen. Auch die Gunst des Kaisers hatte er verloren. Bei den Anhängern des Chaos gab es keine Gerichtsbarkeit, keine Verhandlungen. Töten oder getötet werden. Ein einfaches Prinzip, und dieses Prinzip funktionierte hervorragend.

Im Zimmer gab es außer der Tür nur noch das Fenster, das zur Steilwand des Felsens führte, auf der die Festung stand. Schon hämmerten die ersten Orkschultern gegen das schwere Holz. Jesir blieb nicht mehr viel Zeit zur Flucht, bald würden sie den Widerstand überwunden haben.

Zu den Fähigkeiten der Wölfe gehörte nicht allein ihr Kampfgeist sondern auch das Wissen, wann eine Schlacht als verloren galt. Dann war Rückzug besser als sich blind in den eigenen Tod zu stürzen.

Mit etwas Geschick konnte er die Felsen hinunter klettern und dann im Wald untertauchen. Seine Artgenossen würden ihn nicht verraten und versorgen konnte er sich selbst. Er brauchte einen klaren Kopf um die Geschehnisse ordnen zu können. Auf der einen Seite schien es die Fakten zu geben, dass man den Erzmagier getötet und Jesir angeblich gesehen hatte. Andererseits fehlte dem Wolfsmenschen jeglicher Grund, eine solche Tat zu begehen.

Wie dem auch sei, tot konnte er dem Geheimnis nicht mehr auf die Spur kommen.

Beherzt kletterte Jesir aus dem Fenster und begann den Abstieg. Schnell wie der Wind huschte er den Glatten Stein nach unten. Kleinste Vorsprünge reichten ihm schon, sicheren Halt zu finden. Am Boden angelangt hörte er noch, wie die Holztür seines Zimmers in tausend Stücke zerbrach und kurz darauf wildes Schreien, Rufen und Fluchen. Dann verschmolz der Wolf mit den Schatten und steuerte auf den Wald zu. Dort würde er nachdenken können.

Die Tage vergingen, und Jesir fühlte sich mit jedem Sonnenaufgang schlechter. Sie suchten ihn, er konnte ihren Schritte auf dem Waldboden hören, aber hier war sein Reich. Wenn er es nicht wollte, würde ihn niemand finden. Irgendwo mussten auch einige Wölfe stecken, die ebenfalls nach ihm Ausschau hielten. Natürlich wollten die nur mit ihm reden, ihn fragen, warum er so ausgerastet war.

Was sollte er ihnen antworten? Wie sehr er sich auch anstrengte, die Geschehnisse zu rekonstruieren, die zu einem heimtückischen Mord führen konnte, dem Wolf erschloss sich nichts Neues. Nein, er hatte sich nichts vorzuwerfen.

Hin und wieder spürte er Augen, die ihn beobachteten, und er nahm Witterung eines Artgenossen auf. Die Wölfe beobachteten ihn, wussten nicht, wie sie sich ihm nähern sollten. Vermutlich glaubte auch seine ganze Familie, dass er, Jesir, schuldig war. Er sollte sich ihnen stellen und mit einem Schamanen sprechen.

Etwas hielt ihn zurück, das er nicht einordnen konnte. Sobald Jesir daran dachte, die Wölfe auf eigene Faust aufzusuchen, zog sich sein Magen zusammen. Sein Fell sträubte sich, und er begann am ganzen Leib zu zittern.

Sorge bereitete ihm auch sein Gesundheitszustand. Wenn er Rehe oder Eichhörnchen fing, fraß er sie nicht an Ort und Stelle. Jesir bereitete das Fleisch zu und briet es über einem kleinen Feuer. Biss der Wolf in rohes Fleisch, wurde ihm übel. Das war nicht normal. Dann kam noch hinzu, dass er allmählich kahl wurde. Er glaubte auch, seine Zähne und die Schnauze würden sich zurückbilden.

Schlimmer als all das war aber, dass Jesir damit begonnen hatte, seine früheren Taten zu bereuen. Das Schlachten und Töten unter den Völkern, die Überfälle auf Dörfer und Städte, denen kein Bewohner je lebendig entkommen war. Jesir stellte sein ganzes Leben in Frage. Auch das Fortbestehen der Finsternis schien ihm nicht länger am Herzen zu liegen. Im Gegenteil, hin und wieder ertappte sich der Wolf bei dem Gedanken, dass es besser wäre, den gehörnten Kaiser und die anderen Kreaturen des Chaos aus der Welt zu vertreiben. Das Böse vernichten – so etwas wäre rechtschaffen.

Kurz nach solchen Einfällen musste sich Jesir regelmäßig übergeben.

In manchen Nächten erwachte er an einem ganz anderem Ort als dem, den er sich zum Schlafen ausgesucht hatte. Schreckliche Träume plagten ihn. Manchmal wanderte er in ihnen zu den umliegenden Dörfern, um die Bewohner vor den Mächten der Finsternis zu schützen. Er erschlug Orks, Dämonen und andere Bestien, rettete Kinder, die ihn mit ihren großen Augen ansahen und ihm dankten. Und in jedem dieser Träumer trug er eine glänzende Rüstung, in der sich das Sonnenlicht brach.

Einfach nur schrecklich.

Erwachte Jesir mit diesem eigenartigen Gefühl der Güte in seinem Herzen, wollte er sich so liebend gern in sein eigenes Schwert stürzen, um das aufkeimende Gute in sich zu vertreiben.

Über zwei Monate waren verstrichen, bis sich Jesir dazu entschloss, endlich einen Schamanen der Wolfsmenschen aufzusuchen. Also versuchte er mit seiner Nase den richtigen Weg zu finden. Keine leichte Sache, denn der überaus feine Geruchssinn verließ ihn mehr und mehr. Auch auf sein Gehör konnte sich Jesir nicht mehr ganz verlassen.

Mit beträchtlicher Mühe fand er das Rudel der Kurzschwänze und schritt hoch erhobenen Hauptes auf die Wachwölfe zu, die an der Höhle postiert waren. Sie sahen ihn mit einer Mischung aus Abscheu und höchster Alarmbereitschaft an. Einer der beiden jungen Wölfe richtete seine Hellebarde auf Jesir, während sich ihm der andere, wesentlich ältere Wolfsmensch, behutsam näherte.

„Jesir?“ fragte der ältere Wächter. „Bist du Jesir, der Feind des Kaisers?“

Jesir verstand nicht, was das zu bedeuten hatte. So eine Unverschämtheit, dachte er. Wenn ich nicht auf die Hilfe des Rudels angewiesen wäre, würde er dem alten Wolf die Kehle aufreißen. Statt dessen sagte er so ruhig, wie es ihm nur möglich war: „Ich bin Jesir, Bezwinger des letzten Paladins und treuer Krieger des gehörnten Kaisers.“

Die Wächter sahen einander an, ohne eine Mine zu verziehen. Wieder war es der Alte, der sprach: „Da wir Wölfe einen aus unseren Reihen niemals verraten, lassen wir dich eintreten. Unser Anführer ist der große Schamane Sorikos. Geh zu ihm und bitte, gehört zu werden.“

Mit gebleckten Zähnen fügte der alte Wächter hinzu: „Und wenn du Unsinn machst, werde ich dir persönlich das restliche Fell über die Ohren ziehen – auch wenn nicht mehr viel davon übrig ist. Jetzt geh!“

Zu gerne hätte Jesir den beiden Wächtern gezeigt, wer hier das Alpha-Männchen war, aber er war auf die Gnade des Rudels angewiesen. Zum Glück wussten sich Wölfe dann unterzuordnen, wenn es strategisch klug erschien. Ob es ihm gefiel oder nicht, er konnte nicht auf seine höhere Position beharren, da man sie ihm wohl auch innerhalb der Wolfsrudel aberkannt hatte.

Mit gesenktem Haupt betrat Jesir die Höhle. Jeder Wolfsmensch, dem er begegnete, starrte ihn stumm an, aber niemand sagte etwas zu ihm. Nur ein vorlauter Welpe fragte seine Mutter: „Ist das der Verräter?“

Das Weibchen schwieg, piekste aber ihrem Spross in unmissverständlicher Geste mit einer Kralle in die Nase.

Inmitten eines riesigen Höhlenabschnitts, in dem mehrere Bauten untergebracht waren, lag genau in der Mitte der Bau des Häuptlings. Um das kuppelartige Gebäude lagen hunderte verstreuter Knochen und vor dem Eingang standen mehrere Pfähle mit aufgespießten Schädeln. Über der Tür war das Symbol eines feuerspeienden Wolfskopf eingraviert worden, über dessen Haupt ein voller Mond schwebte.

Weitere Wachen waren im Inneren der Höhle nicht notwendig, die Wölfe standen zueinander und würden jeden Angreifer sofort niedermachen. Gegen ein ganzes Rudel konnte niemand allein ankommen, nicht einmal Jesir.

Im Innern des Hauptbaus wurde Jesir kühl empfangen. Man habe so einige Dinge über ihn gehört und einige des Rudels hätten sogar selbst mitangesehen, wie er Kreaturen der Finsternis gnadenlos abgeschlachtet hätte. Der Wolfsmensch hörte sich die Anschuldigungen an, die ihm vom Schamanen vorgeworfen wurden. Darauf erwidern konnte er nicht viel, nur den Umstand, dass er sich an all diese Taten nicht erinnerte.

„Hm“, gab der Schamane knapp zur Antwort und musterte Jesir von Kopf bis Fuß. „Du siehst schrecklich aus, Bruder. Wenn ich es mir recht überlege, dann bleibt für dein Verhalten nur eine Erklärung: Du wurdest verflucht.“

Diese Diagnose traf Jesir wie der Hammer eines Zwergenberserkers. Wie sollte das möglich sein? Er hatte vor der Veränderung mit keinem Magier gekämpft, und es gab seines Wissens nach auch keine Hexe, die ihm Schlechtes wünschte.

Der Schamane setzte sich auf seinen kleinen Thron und dachte nach. Dann fragte er: „Als du gegen diesen Paladin gekämpft hast ... sag, Bruder Jesir, wurdest du von ihm gebissen oder gekratzt?“

Jesir erinnerte sich an das Duell so genau als sei es erst gestern gewesen. Eifrig nickte er: „Ja, tatsächlich. Aber die Wunden waren lächerlich und sind auch sofort wieder verheilt. Warum fragst du, Schamane? Was soll das schon zu bedeuten haben?“

„Nun ... es ist nur eine Theorie, aber ...“

Es fiel dem Schamanen sichtlich schwer, die richtigen Worte zu finden. Doch schließlich überwand er sich: „Wenn einer der unsrigen ein Wesen beißt, das im Zeichen der Ordnung geboren wurde, wird es zu einem Werwolf. Ich weiß, es muss sich abenteuerlich anhören, aber ... vielleicht funktioniert dies in beide Richtungen.“

Jesir konnte nicht anders als laut aufzulachen: „Was soll das werden? Willst du mir sagen ich sei ein ... ein ... Wer-Paladin? Das ist lächerlich.“

„Die Anzeichen sprechen für sich. Wahrscheinlich verwandelst du dich an Tagen, auf die eine Vollmondnacht folgt, in einen Paladin und kämpfst verbissen für das Gute. Aber diese Veränderung wird dich mehr und mehr beherrschen. Du hast selbst gesagt, dass dich plötzlich Gefühle wie Mitleid und Gerechtigkeit überkommen, die von Tag zu Tag stärker werden. Vermutlich wirst du am Ende zu einem richtigen Paladin und bist fortan gezwungen, deine Brüder und Schwestern zu jagen und zu vernichten.“

Der Wolfsmensch fuhr auf und schlug heftig mit der Faust gegen eine der Holzsäulen, die das Dach des Hauptbaus schützten. Er senkte seinen Kopf und ließ seine Zähne sehen.

„Das kann nicht sein“, knurrte Jesir. „Das ist nicht gerecht.“

„Siehst du, Bruder des Rudels, du sehnst dich sogar schon nach Gerechtigkeit. Jesir, du hast dem Chaos immer gute Dienste erwiesen. Nur aus diesem Grund lasse ich dich jetzt ziehen. Geh und kehre niemals wieder – wir werden dich sonst töten müssen. Mag sein, dass wir uns einmal in einem Kampf gegenüberstehen werden, aber dann wirst du nicht mehr der Jesir sein, der dem gehörnten Kaiser zur Seite stand. Dann wirst du der Paladin Jesir sein, der unsere Art töten muss. Nun geh. Geh fort, weit fort.“

Jesir sträubte sich, den Worten des Schamanen Glauben zu schenken. Dennoch verließ er den Bau und verschwand wieder im Wald. Tief in seiner dunklen Seele, die immer heller zu werden schien, wusste der Wolfsmensch, dass es der Wahrheit entsprach. Er wusste, dass sich sein Körper und seine Gesinnung veränderten und er zu dem wurde, was er am meisten hasste. Einem Paladin.

In den kommenden Jahren wurde die Armee des Chaos aus weiten Teilen des Landes vertrieben. Das Erscheinen eines neuen Paladin, der seltsamer Weise sämtliche Schwächen des Feindes aus erster Hand zu kennen schien, gab den Völkern der Ordnung neuen Mut. Dieser Streiter für Gerechtigkeit und das Gute hatte hunderte Kreaturen erschlagen, die im Namen des Schlechten für den gehörnten Kaiser kämpften. Es hieß, er würde sogar einem Duell mit dem dunklen Kaiser selbst entgegensehen.

Man kannte ihn unter dem Namen Sir Jesir von den Wolfshügeln.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.03.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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