Heike Wenig

Der alte Mann

 

Heike Wenig

 

Der alte Mann.

 

Vor einigen Jahren hatten wir uns endlich zu unserer Polenreise entschlossen. Wir waren auf dem Weg von Breslau nach Warschau. In Breslau war Andrej, unser polnischer Freund, zu uns gestoßen, um uns die Sehens-würdigkeiten seiner Heimat zu zeigen. Wir übernachteten in Krakau und waren stark beeindruckt von den zahlreichen alten Gebäuden, die baufällig waren, aber immer noch Zeugen einer einstmal bedeutungsvollen, wohlhabenden Periode. Die verschnörkelten Erker und Balkone sahen immer noch interessant aus, wenn sie auch verbarrikadiert waren und mit Balken abgestützt werden mußten, um nicht vorbeigehende Fußgänger mit herab-fallenden Gesteinsbrocken zu erschlagen. Um dies alles zu erhalten und bewahren, müßte schleunigst mit viel Geld die Sanierung betrieben werden.

        Nach der Stadtbesichtigung fanden wir nach längerem Suchen eine Gaststätte, wo wir einigermaßen gut essen konnten. Beide Männer hatten sich lange nicht mehr gesehen und schon während des Abendessens mit Fachsimpeln über physikalische Dinge angefangen, was sie anscheinend auch noch lange in den Abend auszudehnen gedachten. "Ich werde mir noch ein bißchen die Beine an der frischen Luft vertreten", sagte ich zu ihnen, was sie aber kaum registrierten.

        Draußen vor dem Hotel ging ich nach rechts Richtung Marktplatz. Ich hatte nachmittags eine Straße gesehen, wo es zwischen den alten, abrißgefährdeten Häusern schon zwei völlig erneuerte Gebäude gab, die deutlich die Schönheit und Würde dieser alten Häuser erstrahlen ließen. Das interessierte mich sehr, fand ich doch den modernen Baustil unserer letzten dreißig Jahre kalt und lieblos. Ich mußte mehrere sich verzweigende Straßenzüge absuchen, ehe ich die von nachmittags her bekannte endlich wiederfand. Das war gar nicht so einfach, da der Abend langsam einbrach und das Abendrot immer mehr von der Dunkelheit gebrochen wurde.

        Die Straßen, die nachmittags noch sehr belebt waren, wirkten durch ihre Menschenleere sehr gespenstig. Ich schauderte zusammen, hoffte nur, anschließend den Weg zum Hotel auch wieder zurück zu finden. Fragen konnte ich keinen; selbst, wenn ich jemandem begegnet wäre, hätte ich mich doch nicht in Polnisch verständlich machen können. Ich schob den Anflug von Angst beiseite und ging schneller in die Straße hinein, wo ich die zwei restaurierten Häuser gesehen hatte. Ich blieb vor dem Ersten stehen und betrachtete es voller Interesse. Das Haus zeichnete sich deutlich von der Umgebung ab; in der Dunkelheit fiel der hellgelbe Putz stark auf. Die verschnörkelten Fenstersimse und Erker waren grün angestrichen; die Fenster waren dunkel, das Haus anscheinend noch nicht bewohnt. Rechts und links davon standen die gleichen Häusertypen, die gleichen Verschnörkelungen waren zu ahnen. Am linken Haus waren die Fenster verbarrikadiert, die Balkone teilweise bereits herabgestürzt; ein kleiner Haufen zerbröckelter Ziegelsteine lagen noch vor dem Haus, ein anderer war in den großen Torbogen hineingeworfen. In dem Torbogen erahnte ich einen großen Durchgang; dahinter schien ein zweites Gebäude zu stehen. Ich wurde sehr neugierig, durch den Bogen hindurchzugehen, zögerte aber, da es etwas zu gespenstig wirkte und ich ja auch befürchten mußte, daß durch die Baufälligkeit des Hauses ein Eindringen sehr leichtsinnig sein würde. Ich verharrte in meine Gedanken versunken. Wer mochte wohl früher hier gelebt haben ?

        Da, plötzlich schien dort innen nicht ein Lichtpunkt zu sein, der sich hin und her bewegte ? Ich ging ein paar Schritte näher. Das Licht wurde deutlicher, es schien auf mich zu zukommen. Was konnte das bloß sein ? Meine Neugierde wurde größer und ich vergaß meine Angst. Mutig ging ich in die Toröffnung hinein und mußte aufpassen, daß ich nicht über die Steine fiel. "Hallo", rief ich, "ist da wer?", ganz vergessend, daß ich nur deutsch sprach. Eine kleine dunkle Gestalt kam auf mich zu. Ich erkannte einen alten Mann, der sich mit schlurfenden Schritten mir näherte. Sein genaues Alter konnte ich nicht abschätzen, aber er war mit Sicherheit weit über achtzig; sein gebeugter Rücken schien schwer an der Last der vielen Lebensjahre zu tragen. Er trug einen schwarzen, abgewetzten Mantel, kaftanähnlich; unter einem schwarzen Käppi, das den Kopf bedeckte, lugte hinten ein Schwänzchen schütterer, grauer Haare hervor. Tiefe Runzeln zerfurchten sein Gesicht, gaben ihm aber ein freundliches Aussehen, so daß meine letzten Bedenken verschwanden und ich weiter auf ihn zu ging. "Guten Abend" begrüßte ich ihn. Er schien mich zu verstehen und antwortete in einer Sprache, die bei näherem Hinhören wie ein holpriger deutscher Dialekt klang. Nach dem Austausch einiger höflicher Rede-wendungen sagte ich ihm ,daß ich gerade vor seinem Auftauchen mir Gedanken gemacht hatte, wer wohl in diesem Haus gelebt hatte. "Ich," antwortete er, "ich wohne hier schon mein Leben lang." Er hatte eine eigentümliche Art zu sprechen, zwischen den kurzen Sätzen, die ich irgend-wie verstehen konnte, murmelte er lange Passagen in einer mir unbekannten Sprache. Nach Polnisch klang es nicht. Den Wortklang dieser Sprache lag mir im Ohr, auch wenn ich sie nicht sprechen konnte. Ich ermunterte ihn, weiter zu sprechen und mehr von sich zu erzählen, da meine Neugierde gewachsen war. "Ich wohne immer noch hier in dieser Parterrewohnung, obwohl die (hier folgte wieder etwas Unverständliches). Ich habe hier schon immer gewohnt mit meiner Frau, auch nach dem Tod unserer Kinder; das war im Krieg. Dann, als meine Frau verstarb vor einigen Jahren, da wollten Die mich hier heraussetzen. Sie wollten das Haus renovieren, genau so wie das nebenan. Da konnten sie keine Mieter mehr gebrauchen. Ich habe mich aber geweigert. Ganz raffiniert habe ich mich verhalten, so getan, als sei ich nicht mehr da, abends nie Licht angemacht. Elektrizität gibt es in diesem Haus so wie so nicht mehr, aber auch mit dem Kerzenlicht bin ich vorsichtig umgegangen. Irgendwann haben sie es aufgegeben, sie haben wohl vergessen, daß es mich noch gibt. Das Geld zum Renovieren war wohl auch nicht genug da. So habe ich weiter hier gelebt, ganz ruhig mit meinem Kater Mirko, das ist mein einziger Gefährte. Mit einem Menschen habe ich mich schon lange nicht mehr unterhalten so wie mit Dir, mein Mädchen !"

        "Jetzt aber suche ich meinen treuen Mirko. Vor drei Nächten habe ich ihn rausgelassen und dieses Mal ist er nicht wieder gekommen. Jede Nacht habe ich ihn mit meiner Kerze gesucht. Im Hof dahinten steht noch ein viel älteres Haus. Da drin hat er sich bestimmt verirrt. Komm. mein Mädchen, ich will es Dir zeigen. Komm. Zu dem Haus gehören viele Kellergänge, bis ganz tief unter der Erde. Da sollst Du mir suchen helfen, mein Mädchen. Komm mit. Mit meinen alten Beinen bin ich zu unsicher, ich will mich auf Dich stützen." Schon während seiner langen Rede, die wieder mit langen unverständlichen Wortpassagen durchsetzt waren, wurde mir immer unheimlicher zumute, ich konnte nicht sagen, warum, aber etwas Kaltes, Bedrohliches schien sich auf meine Schultern legen zu wollen. Als der Alte dann seinen Arm erhob und mich zu sich ziehen wollte, wehrte ich ihn ab und zog mich zurück Richtung Straße. Ich versuchte, ruhig zu sprechen und sagte einigermaßen freundlich: "Ich helfe Ihnen gern, Ihren Kater zu suchen, aber morgen, im Hellen, heute abend ist es selbst mit der Kerze viel zu dunkel. Morgen komme ich ganz bestimmt zurück und dann suchen wir gemeinsam. Das ist versprochen !" Nach diesen Worten kehrte ich dem alten Mann schnell den Rücken zu und hastete aus dem Torbogen auf die Straße, schlug in der Aufregung noch die falsche Richtung ein und rannte durch viele Straßen, ohne das Hotel sofort wieder zu finden. Mein Herz schlug rasend schnell, wobei ich nicht wußte, ob vor Angst oder vor Erschöpfung durch das Rennen. Schließlich blieb ich stehen und drehte mich um. Gott sei Dank. Mein Gefühl, der alte Mann hätte mich verfolgt und sei hinter mir, hatte mich getrogen. Ich beruhigte mich und mit klarem Kopf war ich nun auch bald in der Lage, den Weg zum Hotel zurückzufinden.

        Dort traf ich auf zwei besorgte Männer und mußte ihre wohlgemeinten Vorwürfe geduldig über mich ergehen lassen. Im Inneren gab ich ihnen sogar Recht. In aller Ruhe erzählte ich ihnen mein Erlebnis und bat Andrej, mit mir am nächsten Morgen dorthin zurückzugehen. Irgendwie fühlte ich mich an das Versprechen, das ich dem alten Mann gegeben hatte, gebunden und vielleicht konnte ihn Andrej doch besser verstehen, vielleicht war es doch Polnisch gewesen, was der Alte ständig gemurmelt hatte.

        Nach dem Frühstück am nächsten Morgen gingen wir zu dritt in die bewußte Straße zurück. Bei Tageslicht gesehen wirkte sie hell und freundlich. Wir traten in den Torbogen des alten Hauses, konnten durch die zerbröckelnden Wände erkennen, daß hier keiner mehr gewohnt haben konnte und Andrej fragte mich zweifelnd. "Bist Du sicher, daß Du gestern hier den alten Mann getroffen hast ?" "Natürlich," antwortete ich, "genau hier. Und hier unten rechts sei seine Wohnung, hat er mir gestern gezeigt. Da bin ich ganz sicher." "Aber Du mußt zugeben," sagte Andrej, "daß hier wirklich keiner wohnt. Eine sonderbare Geschichte !"

        Als wir unschlüssig stehen blieben, rief jemand etwas auf Polnisch uns zu. Andrej antwortete und führte uns dann wieder auf die Straße zurück. Dort unterhielt er sich mit dem Mann, der uns zugerufen hatte, längere Zeit auf Polnisch. Schließlich kam er zu uns zurück und schaute mich mit einem merkwürdigen Blick an. Als er lange geschwiegen hatte, wurde ich ungeduldig. "Was ist nun, " fragte ich ihn, "hast Du Dich nach dem alten Mann erkundigt ? Erzähl doch. " "Ja," sagte er, "ich habe mich nach ihm erkundigt. Es gibt keinen alten Mann, der hier lebt. Schon lange nicht mehr. Es gab vor dem Krieg einen alten, jüdischen Mann, der das Haus mit seiner Familie bewohnte. Seine Töchter wurden verhaftet und abtransportiert, wohin ,weiß man nicht. Seine Frau starb bald danach, aus Kummer um die Töchter. Dann lebte nur noch der alte Mann mit seinem Kater dort, einsiedlerhaft. Man ließ ihn in Ruhe. Er war schon sehr alt. Er tauchte nur am Abend auf und ließ den Kater in den Innenhof. Wann genau es war, daß man ihn nicht mehr gesehen hatte, konnte hinterher keiner mehr genauer sagen. Erst nach dem Krieg, als neue Leute in die Häuser einzogen, fanden diese in den tiefen Kellergewölben des Hinterhauses, die fast wie Katakomben gebaut waren, die sterblichen Überreste eines Menschen, von einem schwarzen, zerfallenen Mantel umschlossen. Das Gerippe eines Tieres, wahrscheinlich von einer Katze, lag daneben."

        Andrej verstummte und auch ich brachte keinen Ton mehr über meine Lippen.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.03.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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