Karin Schmidt

Herzklopfen

Der frisch gefallene Schnee knirschte unter meinen Schuhsohlen, die mit jedem Schritt eine Spur auf meinem Weg hinterließen, einem Weg, den ich schweren Herzens ging. Vor den Gaslaternen tänzelten Schneeflocken, die dann in Zeitlupengeschwindigkeit zu Boden fielen, um dort, noch unberührt, eine Decke aus glitzerndem Puderzucker vorzugaukeln. Vielleicht würde es ja aufhören zu schneien, dann würde ich mir wieder begegnen, meinen Schritten und meiner Vergangenheit, die jetzt noch in der Zukunft lag.

Wie ein Theaterstück hatte ich die Worte, die ich sagen wollte, geprobt, um sie wieder zu verwerfen und neue Formulierungen zu finden. Dieses Einmann-Stück, das mich die letzten Tage und Nächte verfolgt hatte, konnte mir nur eigene Antworten liefern, Antworten, die ich so nicht erwarten konnte.

Jens war mir ein paar Monate zuvor in einer Buchhandlung über den Weg gelaufen, ja buchstäblich über den Weg gelaufen.

Ich hatte ein Geburtstagsgeschenk für meine Freundin gesucht, einen Bildband über Galicien. Als ich auf dem Weg zur Kasse war und bereits nach meiner Geldbörse kramte, stieß ich mit ihm zusammen, wobei mir der Bildband, den ich unter den Arm geklemmt hatte, zu Boden fiel.

Während ich irgendwelche Entschuldigungsfloskeln murmelte, hatte er den Bildband bereits aufgehoben und überreichte ihn mir mit den Worten, "das ist aber nicht das Beste, was es über Galicien gibt, ich denke, ich kann dir da helfen, wenn du magst."

Natürlich ließ ich mir helfen und als ich dann das Buch, das er mir empfohlen hatte, bezahlt hatte, verließen wir gemeinsam die Buchhandlung und gingen einen Kaffee trinken. Ich mochte Jens vom ersten Moment an, mochte seine großen, neugierigen Kinderaugen, das Knubbelnäschen und den ausgeprägten Mund, um den ein sorgfältig gepflegter Bart wuchs, dessen tägliche Rasur sicher länger dauerte, als so manche meiner Schminkprozeduren. Jens wohnte erst seit ein paar Tagen in Berlin und würde auch nur für ein Jahr bleiben, da er im Rahmen eines Volontariats für diesen Zeitraum eine Fortbildung in der Stadt machte. Es ergab sich einfach so, dass wir uns von diesem ersten Zufallstreffen an, fast täglich sahen und dabei immer mehr Gemeinsamkeiten entdeckten.

Schon nach kurzer Zeit benötigten wir für viele Dinge keine Worte mehr, es reichte ein Blick, um zu wissen, was der andere dachte. Ich genoss jede Sekunde mit ihm, weil ich einen derartigen Gleichklang mit einem anderen Menschen noch nie erlebt hatte.

Und ich schien all das zu erfüllen, was Jens sich immer gewünscht hatte, nämlich eine Frau zu finden, deren Seele, Geist und Körper eine Einheit mit ihm bilden konnte. Er betete mich an, das merkte ich sehr schnell und obwohl sich bei mir keinerlei Vorboten von Verliebtheit einstellen wollten, wurden Jens und ich nach einer Woche ein Paar. Es schien ja alles zu passen, ich war gerne in seiner Nähe, hatte Verlangen nach seiner Wärme, fühlte mich geborgen.

Doch es wollte sich kein Herzklopfen einstellen, nicht das Herzklopfen, das ich sonst hatte, wenn ich verliebt war. Ich wünschte mir nichts mehr, als ein Heer von Schmetterlingen unruhig in meinem Bauch umherflattern zu fühlen und meinen schneller werdenden Herzschlag zu spüren, als bestünde ich nur aus diesem einen Organ.

Doch nichts geschah, wenn ich mit Jens zusammen war, nichts von alledem, außer einer nie zuvor gekannten Vertrautheit, die mich erfüllte aber nicht zufrieden stellte.

Musste Verliebtheit nicht zwangsläufig mit solchen körperlichen Reaktionen einher gehen?

Man durfte das doch nicht einfach überspringen, es würde immer fehlen, worauf sollte man zurück blicken.

"Weißt du noch, damals, als wir verliebt waren?"

Was sollte man auf eine solche Frage antworten, wenn man es nie gefühlt hatte?

Zum ersten Mal stand ich nicht atemlos vor dieser Türe im 5. Stock. Ich war die Treppen nie langsamer gegangen, als an diesem Abend. Als ich den Code an der Türe eingetippt hatte, surrte es leise, bevor sich das Schloss mit einem leisem Klicken öffnete.

Wohlige Wärme strömte mir entgegen, der Bewegungsmelder aktivierte schon bei meinem erstem Schritt in den Flur die Beleuchtung, und aus dem Gemeinschaftsraum drangen Gitarrenklänge, alles war, wie es immer war.

Der Weg durch den langen Flur erschien mir endlos, und wie immer standen die Türen zu den drei Zimmern, die vom Flur abgingen, offen. Zum ersten mal seit Monaten warf ich einen Blick in diese Zimmer, sah überladene Schreibtische, Matratzen, auf denen sich scheinbar unendlich viele Bettdecken türmten, kunterbunt zusammengewürfelte Möbel, die so gar nicht passen wollten und gerade deshalb wieder passten.

Im Gemeinschaftsraum saßen fünf Personen, von denen ich nur drei kannte, was hier aber keinen davon abhielt, mich auf das Herzlichste zu begrüßen.

"Hi, schön dass du da bist, er ist in seinem Zimmer. Du gehst am Besten gleich durch", grinste mich einer der Mitbewohner augenzwinkernd an. Natürlich ging ich weiter, was hätte ich auch sonst tun sollen, jetzt wo er, nicht erwartungsgemäß, in seinem Zimmer war, in dem er nie war, wenn ich kam.

Aber was hätte sich schon geändert, wenn er hier im Gemeinschaftsraum auf mich gewartet hätte, wie fast immer, mit einer Gitarre im Arm, um mit den anderen den Stapel Notenblätter durchzuspielen, so wie sie es fast jeden Abend machten.

Ich öffnete seine Zimmertüre, nachdem ich einmal angeklopft hatte und traute meinen Augen nicht.

Es mussten wohl Hunderte von Teelichtern sein, die mir entgegen leuchteten und ein unwirkliches Flimmern an die Wände projizierten.

"Nicht heute", ging es mir flehend durch den Kopf, "warum jetzt, warum ausgerechnet heute eine solche romantische Stimmung?".

Jens hatte einen Sinn für Romantik, das wusste ich ja, aber eine solche Atmosphäre hatte er mir noch nie geboten. Meine Augen brauchten eine Weile, bis sie sich an dieses Szenario gewöhnt hatten und ihn ausmachen konnten, zwischen all den Lichtern.

"Endlich bist du da", sagte er, während er mich in den Arm nahm, was ich, halb betäubt von den Eindrücken, zuließ.

"Was ist denn hier los?", fragte ich ihn, worauf er mich noch enger an sich zog und mir zuflüsterte: "Ich weiß nicht, aber ich freue mich schon den ganzen Tag so sehr auf dich, dass ich etwas machen wollte, was anders ist."

In meinem Hals formte sich ein Kloß, der meine Kehle zu erdrücken drohte, nur mit Mühe gelang es mir, die Tränen zurück zu halten.

"Ich muss es ihm sagen, ich darf es jetzt nicht aufschieben, es würde uns beiden nicht gut tun, wenn es weitergeht", hämmerte es in meinem Kopf.

Jens schob mich zu seiner Matratze, vor der er ein kleines Tischchen, auf dem zwei Gläser und eine Flasche Rotwein standen, aufgestellt hatte. Kurze Zeit später lagen wir eng umschlungen und schweigend auf der Matratze und ließen uns von der leisen Musik berieseln, die aus seinem Kassettenrecorder kam. Nach einer gefühlten Unendlichkeit fasste ich mir ein Herz und sagte: "Das ist unser Abschied".

Es dauerte lange, bis Jens etwas antwortete: "Unser Abschied?".

Trotz dieser Aussage ließ er mich nicht los, nein, ich hatte das Gefühl, als würden mich seine Arme noch stärker umschließen. Ich spürte seinen Atem, konnte seinen Herzschlag, der zu rasen schien, fühlen. Mein Hals schnürte sich mehr und mehr zu, was es mir nur schwer ermöglichte, weiterzusprechen.

"Es fehlt das Herzklopfen, die Schmetterlinge im Bauch, sonst ... sonst ist alles da, aber das fehlt".

Mein Kopf lag immer noch auf seiner Brust, seine Arme umschlossen mich immer noch, so als wäre nichts gewesen. Es erschien mir wieder eine unendlich lange Zeit zu vergehen, bis ich Jens flüstern hörte: "Dann musst du jetzt gehen, bitte geh, ich muss alleine sein. Kein Kontakt mehr, nie mehr, was du gesagt hast, ist endgültig. Du weißt, dass ich nicht kämpfen werde, du weißt es, weil du es selbst auch nicht könntest."

Ich hörte, dass er bemüht war, mich nicht hören zu lassen, dass er weinte.

Ich weiß nicht, wie ich die Wohnung verlassen habe, ob im Gemeinschaftsraum jemand saß oder nicht, ich lief wie durch eine Nebelwand nach draußen.

Als ich unten angekommen war, drehte ich mich noch mal um, wischte mir die Tränen aus den Augen und schaute hoch zu dem Fenster, hinter dem Jens wohnte. Er stand am Fenster, ich konnte den Umriss seines Körpers erkennen, hinter ihm flimmerte das Kerzenlicht und plötzlich schlug mein Herz bis zum Hals, laut und dröhnend, so als bestünde ich nur aus diesem Organ.

Der Schnee war geschmolzen, als ich den Weg zurück ging, meine Spuren waren längst zu Wasser geworden, so als wär ich diesen Weg nie gegangen.

Zu spät!

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.11.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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