Der frisch gefallene Schnee knirschte unter meinen Schuhsohlen, die mit
jedem Schritt eine Spur auf meinem Weg hinterließen, einem Weg, den ich
schweren Herzens ging. Vor den Gaslaternen tänzelten Schneeflocken, die dann
in Zeitlupengeschwindigkeit zu Boden fielen, um dort, noch unberührt, eine
Decke aus glitzerndem Puderzucker vorzugaukeln. Vielleicht würde es ja
aufhören zu schneien, dann würde ich mir wieder begegnen, meinen Schritten
und meiner Vergangenheit, die jetzt noch in der Zukunft lag.
Wie
ein Theaterstück hatte ich die Worte, die ich sagen wollte, geprobt, um sie
wieder zu verwerfen und neue Formulierungen zu finden. Dieses Einmann-Stück,
das mich die letzten Tage und Nächte verfolgt hatte, konnte mir nur eigene
Antworten liefern, Antworten, die ich so nicht erwarten konnte.
Jens
war mir ein paar Monate zuvor in einer Buchhandlung über den Weg gelaufen,
ja buchstäblich über den Weg gelaufen.
Ich hatte ein
Geburtstagsgeschenk für meine Freundin gesucht, einen Bildband über
Galicien. Als ich auf dem Weg zur Kasse war und bereits nach meiner
Geldbörse kramte, stieß ich mit ihm zusammen, wobei mir der Bildband, den
ich unter den Arm geklemmt hatte, zu Boden fiel.
Während ich
irgendwelche Entschuldigungsfloskeln murmelte, hatte er den Bildband bereits
aufgehoben und überreichte ihn mir mit den Worten, "das ist aber nicht das
Beste, was es über Galicien gibt, ich denke, ich kann dir da helfen, wenn du
magst."
Natürlich ließ ich mir helfen und als ich dann das Buch,
das er mir empfohlen hatte, bezahlt hatte, verließen wir gemeinsam die
Buchhandlung und gingen einen Kaffee trinken. Ich mochte Jens vom ersten
Moment an, mochte seine großen, neugierigen Kinderaugen, das Knubbelnäschen
und den ausgeprägten Mund, um den ein sorgfältig gepflegter Bart wuchs,
dessen tägliche Rasur sicher länger dauerte, als so manche meiner
Schminkprozeduren. Jens wohnte erst seit ein paar Tagen in Berlin und würde
auch nur für ein Jahr bleiben, da er im Rahmen eines Volontariats für diesen
Zeitraum eine Fortbildung in der Stadt machte. Es ergab sich einfach so,
dass wir uns von diesem ersten Zufallstreffen an, fast täglich sahen und
dabei immer mehr Gemeinsamkeiten entdeckten.
Schon nach kurzer Zeit
benötigten wir für viele Dinge keine Worte mehr, es reichte ein Blick, um zu
wissen, was der andere dachte. Ich genoss jede Sekunde mit ihm, weil ich
einen derartigen Gleichklang mit einem anderen Menschen noch nie erlebt
hatte.
Und ich schien all das zu erfüllen, was Jens sich immer
gewünscht hatte, nämlich eine Frau zu finden, deren Seele, Geist und Körper
eine Einheit mit ihm bilden konnte. Er betete mich an, das merkte ich sehr
schnell und obwohl sich bei mir keinerlei Vorboten von Verliebtheit
einstellen wollten, wurden Jens und ich nach einer Woche ein Paar. Es schien
ja alles zu passen, ich war gerne in seiner Nähe, hatte Verlangen nach
seiner Wärme, fühlte mich geborgen.
Doch es wollte sich kein
Herzklopfen einstellen, nicht das Herzklopfen, das ich sonst hatte, wenn ich
verliebt war. Ich wünschte mir nichts mehr, als ein Heer von Schmetterlingen
unruhig in meinem Bauch umherflattern zu fühlen und meinen schneller
werdenden Herzschlag zu spüren, als bestünde ich nur aus diesem einen Organ.
Doch nichts geschah, wenn ich mit Jens zusammen war, nichts von
alledem, außer einer nie zuvor gekannten Vertrautheit, die mich erfüllte
aber nicht zufrieden stellte.
Musste Verliebtheit nicht zwangsläufig
mit solchen körperlichen Reaktionen einher gehen?
Man durfte das
doch nicht einfach überspringen, es würde immer fehlen, worauf sollte man
zurück blicken.
"Weißt du noch, damals, als wir verliebt waren?"
Was sollte man auf eine solche Frage antworten, wenn man es nie
gefühlt hatte?
Zum ersten Mal stand ich nicht atemlos vor dieser
Türe im 5. Stock. Ich war die Treppen nie langsamer gegangen, als an diesem
Abend. Als ich den Code an der Türe eingetippt hatte, surrte es leise, bevor
sich das Schloss mit einem leisem Klicken öffnete.
Wohlige Wärme
strömte mir entgegen, der Bewegungsmelder aktivierte schon bei meinem erstem
Schritt in den Flur die Beleuchtung, und aus dem Gemeinschaftsraum drangen
Gitarrenklänge, alles war, wie es immer war.
Der Weg durch den
langen Flur erschien mir endlos, und wie immer standen die Türen zu den drei
Zimmern, die vom Flur abgingen, offen. Zum ersten mal seit Monaten warf ich
einen Blick in diese Zimmer, sah überladene Schreibtische, Matratzen, auf
denen sich scheinbar unendlich viele Bettdecken türmten, kunterbunt
zusammengewürfelte Möbel, die so gar nicht passen wollten und gerade deshalb
wieder passten.
Im Gemeinschaftsraum saßen fünf Personen, von denen
ich nur drei kannte, was hier aber keinen davon abhielt, mich auf das
Herzlichste zu begrüßen.
"Hi, schön dass du da bist, er ist in
seinem Zimmer. Du gehst am Besten gleich durch", grinste mich einer der
Mitbewohner augenzwinkernd an. Natürlich ging ich weiter, was hätte ich auch
sonst tun sollen, jetzt wo er, nicht erwartungsgemäß, in seinem Zimmer war,
in dem er nie war, wenn ich kam.
Aber was hätte sich schon
geändert, wenn er hier im Gemeinschaftsraum auf mich gewartet hätte, wie
fast immer, mit einer Gitarre im Arm, um mit den anderen den Stapel
Notenblätter durchzuspielen, so wie sie es fast jeden Abend machten.
Ich öffnete seine Zimmertüre, nachdem ich einmal angeklopft hatte
und traute meinen Augen nicht.
Es mussten wohl Hunderte von
Teelichtern sein, die mir entgegen leuchteten und ein unwirkliches Flimmern
an die Wände projizierten.
"Nicht heute", ging es mir flehend
durch den Kopf, "warum jetzt, warum ausgerechnet heute eine solche
romantische Stimmung?".
Jens hatte einen Sinn für Romantik, das
wusste ich ja, aber eine solche Atmosphäre hatte er mir noch nie geboten.
Meine Augen brauchten eine Weile, bis sie sich an dieses Szenario gewöhnt
hatten und ihn ausmachen konnten, zwischen all den Lichtern.
"Endlich bist du da", sagte er, während er mich in den Arm nahm, was
ich, halb betäubt von den Eindrücken, zuließ.
"Was ist denn hier
los?", fragte ich ihn, worauf er mich noch enger an sich zog und mir
zuflüsterte: "Ich weiß nicht, aber ich freue mich schon den ganzen Tag so
sehr auf dich, dass ich etwas machen wollte, was anders ist."
In
meinem Hals formte sich ein Kloß, der meine Kehle zu erdrücken drohte, nur
mit Mühe gelang es mir, die Tränen zurück zu halten.
"Ich muss es
ihm sagen, ich darf es jetzt nicht aufschieben, es würde uns beiden nicht
gut tun, wenn es weitergeht", hämmerte es in meinem Kopf.
Jens
schob mich zu seiner Matratze, vor der er ein kleines Tischchen, auf dem
zwei Gläser und eine Flasche Rotwein standen, aufgestellt hatte. Kurze Zeit
später lagen wir eng umschlungen und schweigend auf der Matratze und ließen
uns von der leisen Musik berieseln, die aus seinem Kassettenrecorder kam.
Nach einer gefühlten Unendlichkeit fasste ich mir ein Herz und sagte: "Das
ist unser Abschied".
Es dauerte lange, bis Jens etwas antwortete:
"Unser Abschied?".
Trotz dieser Aussage ließ er mich nicht los,
nein, ich hatte das Gefühl, als würden mich seine Arme noch stärker
umschließen. Ich spürte seinen Atem, konnte seinen Herzschlag, der zu rasen
schien, fühlen. Mein Hals schnürte sich mehr und mehr zu, was es mir nur
schwer ermöglichte, weiterzusprechen.
"Es fehlt das Herzklopfen, die
Schmetterlinge im Bauch, sonst ... sonst ist alles da, aber das fehlt".
Mein Kopf lag immer noch auf seiner Brust, seine Arme umschlossen
mich immer noch, so als wäre nichts gewesen. Es erschien mir wieder eine
unendlich lange Zeit zu vergehen, bis ich Jens flüstern hörte: "Dann musst
du jetzt gehen, bitte geh, ich muss alleine sein. Kein Kontakt mehr, nie
mehr, was du gesagt hast, ist endgültig. Du weißt, dass ich nicht kämpfen
werde, du weißt es, weil du es selbst auch nicht könntest."
Ich
hörte, dass er bemüht war, mich nicht hören zu lassen, dass er weinte.
Ich weiß nicht, wie ich die Wohnung verlassen habe, ob im
Gemeinschaftsraum jemand saß oder nicht, ich lief wie durch eine Nebelwand
nach draußen.
Als ich unten angekommen war, drehte ich mich noch mal
um, wischte mir die Tränen aus den Augen und schaute hoch zu dem Fenster,
hinter dem Jens wohnte. Er stand am Fenster, ich konnte den Umriss seines
Körpers erkennen, hinter ihm flimmerte das Kerzenlicht und plötzlich schlug
mein Herz bis zum Hals, laut und dröhnend, so als bestünde ich nur aus
diesem Organ.
Der Schnee war geschmolzen, als ich den Weg zurück
ging, meine Spuren waren längst zu Wasser geworden, so als wär ich diesen
Weg nie gegangen.
Zu spät!
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.11.2002.
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