Klaus Eylmann

Bachkantaten

Sie glichen dem Bild einer Ansichtskarte. Blitze flackerten, und sekundenlang waren sie zu erkennen, die Johann Sebastian Bach-Kirche und die alten Bürgerhäuser um den Marktplatz herum. Ein graues Monstrum aus fremden Zeiten. So hob sich die Universitätsklinik gegen das Netz flammend zuckender Entladungen ab, dann ward Vandersheim wieder von der Nacht verschluckt.
Während ein Orkan über die Dächer fegte und Regen auf das Kopfsteinpflaster prasselte, blickte Jan Vilmer aus dem Fenster seiner Dachkammer. Krachend schlug ein Blitz in eine Linde, einer der wuchtigen Bäume, die den Marktplatz säumten. Jan sah, wie der Stamm zersplitterte, und ein Teil von ihm mit Krone, Ästen und Zweigen zu Boden fiel, die Sicht auf eine Fahne vor dem Rathaus freigab. Sie stand auf Halbmast, erinnerte an das Grubenunglück vor einer Woche, welches das Städtchen heimgesucht und elf Menschen das Leben gekostet hatte.
Es war spät. Jan fühlte sich ausgebrannt, fand keinen Schlaf. Er wandte sich vom Fenster, setzte sich wieder an seinen Schreibtisch, blätterte lustlos im Lehrbuch. Nervös justierte er den Schirm der Tischlampe, versuchte sich zu konzentrieren. Das Heulen des Sturmes, das Trommeln des Regens, das Klappern der Fensterläden machten jeden Ansatz zunichte. Wieder blickte er zum Fenster hinaus und dachte an den nächsten Morgen. Seit ungefähr einem Monat arbeitete er in der neurologischen Abteilung der Universitätsklinik und wusste immer noch nicht, was er von seinem Chef zu halten hatte…

“Auf welcher Seite ist das Hämatom?” Jan studierte das Röntgenbild auf dem Leuchtschirm und ging zum OP-Tisch, drehte den glattrasierten, mit Jod eingeriebenen Kopf des Patienten zur Seite. Der Mann war bereits unter Narkose. Das EKG fiepte vertrauenerweckend, der Anästhesist blickte gelassen auf den Blutdruckanzeiger.
Im ersten Jahr durfte Jan assistieren, ab dem zweiten operieren, und was einen gekonnten Auftritt anging… Die Tür schwang auf und Professor Stammheimer stand mit erhobenen Händen im Saal. Schwestern eilten herbei, zogen ihm Kittel und Handschuhe über.
“Was haben wir denn hier?” Er blickte auf das Röntgenbild. “Subdurales Hämatom? Vilmer, das müssten Sie im Schlaf können.”
Jan antwortete nicht. Er war der Provokationen müde.
“Sagen Sie nichts. Ich weiss, Vilmer. Machen Sie sich nichts draus. Sie kommen noch früh genug dran. Wo wir gerade am subduralen Hämatom arbeiten, Vilmer, wir unterhalten uns nächste Woche über die anderen. Bereiten Sie sich darauf vor. - Skalpell!

Wie schön leuchtet der Morgenstern voll Gnad und Wahrheit von dem Herrn.”

Stammheimers Gesang liess das Personal erschauern, dann fiel Doktor Frankengeist in den Gesang mit ein.

“Die süße Wurzel Jesse! Du Sohn David aus Jakobs Stamm, Mein König und mein Bräutigam”.

Vor einer Woche hatte es begonnen, dass sie Stammheimer ‘die Singende Säge’ oder ‘Doktor Bach’ nannten. Jan zog mit den anderen den Kopf ein. Es nützte nichts, alle, bis auf den Patienten in Narkose, der Glückliche, waren sie Stammheimers und Frankengeists falschen Tönen ausgeliefert.
Ein rascher Schnitt, Stammheimer klappte die Kopfhaut zurück, fixierte sie mit mehreren Kopfschwarten-Clips. Die Schädelfraktur wurde sichtbar.

“Hast mir mein Herz besessen, lieblich, freundlich, schön und herrlich, groß und ehrlich, reich von Gaben, hoch und sehr prächtig erhaben. - Irrigation und Bohrer.”

Eine Schwester richtete den Irrigator auf die Fraktur. Wasser sprühte auf die Stelle, wo sich der Bohrer in den Schädelknochen frass. Blut sickerte aus der Öffnung.
“Knochenwachs.”
Widerlich, der Frankengeist, dachte Jan. Stammheimers Assistent sang aus voller Kehle mit, während er das Bohrloch mit Knochenwachs abrieb.
“Skalpell!” Stammheimer machte einen Schnitt im Bohrloch.

“Erfüllet, ihr himmlischen göttlichen Flammen, die nach euch verlangende gläubige Brust! - Sauger!”

Mit einem Ballonsauger pumpte er das gestaute Blut ab.

“Die Seelen empfinden die kräftigsten Triebe der brünstigsten Liebe - Drainage.”

Die Schwester reichte ihm einen dünnen Schlauch, dessen Ende er in das Loch schob.

“Und schmecken auf Erden die himmlische Lust. - Nähzeug!”

Stammheimer löste die Clips, ließ den zurückgeschobenen Hautlappen über den Drainageschlauch an seinen Platz fallen und nähte die Wunde zu.
“War das alles, Herrschaften?”
Stammheimer sah zu Jan hinüber, während ihm eine Schwester den Kittel auszog. “Vilmer, Visite in einer Stunde.”

“Guten Morgen Herr Doktor.”
Max, der Pfleger grinste ihn freundlich an und verschwand in der Geschlossenen Abteilung. Stammheimers Domäne, wo er auch seine Privatpraxis unterhielt. Jan verstand nicht, warum er, Jan, so selten zu den Visiten in der Geschlossenen Abteilung hinzugezogen wurde, wo doch gerade dort die interessantesten Fälle untergebracht waren.

Eine ältliche Krankenschwester ordnete die Instrumente im Ambulatorium.
“Na, Schwester Hildegard, haben wir Neuzugänge?”
“Zwei Patienten, Dr. Vilmer.”
Sie legte die Aufnahmeformulare auf seinen Schreibtisch.
Doris Klee, Alter: 54, unfähig, linke Hand zu bewegen.
Das zweite Formular stammte aus der Notaufnahme:
Gerda Stromberg, Alter: 32, klagt über Lähmung und Gefühlsstörung des rechten Armes, des rechten Beines und über Taubheit im rechten Ohr.
“Bitten Sie Frau Klee herein.”
Die Schwester rief die Frau ins Sprechzimmer. Diagnose war Routine. Jan prüfte die Reaktion der Pupillen bei Lichteinfall, die Bewegung der Augen, unterhielt sich mit der Frau. Mit seinem Gummihämmerchen testete er die Reflexe, mit einer Nadel die Schmerzempfindlichkeit ihrer Arme und Beine.
“Neuropathie, Schwester. Schreiben Sie das auf.”
Jan wandte sich an die Patientin.

“Frau Klee, ein Nerv Ihres Armes hat sich entzündet. Es ist nichts Ernstes. Ich schreibe Ihnen ein paar Übungen für Ihren Arm auf.”
Bei Gerda Stromberg diagnostizierte Jan Hysterie. Nichts deutete auf eine organische Krankheit. Die Frau war verängstigt und liess sich nicht von dem Gedanken abbringen, dass ihr Mann, der mit zehn anderen vor einer Woche in den Kohlengruben umgekommen war, noch lebe.
“Frau Stromberg. Ich fühle mit Ihnen. Sie machen eine schwere Zeit durch.” Jan sah, wie sich der ängstliche Ausdruck im Gesicht der jungen Frau auflöste. Sie ist auf psychiatrische Behandlung angewiesen, dachte Jan. Etwas, von dem Stammheimer überhaupt nichts hielt. Er betrachtete ihr streng zurückgekämmtes, zu einem Knoten gebundenes dunkles Haar, ihren zarten Teint, ihr süsses Gesicht und seufzte.

Zwei Stunden später fand sich Jan im Gefolge des Professors, der mit wehendem weissen Kittel von Saal zu Saal eilte.
“Na, wen haben wir denn da?” Stammheimers imposante Statur, sein rundes Gesicht strahlten Vertrauen aus, als er vor Frau Stromberg stand, die ängstlich von ihrem Bett zu ihm hochblickte. Er lächelte gütig. ‘EST’, tippte Jan und wartete.
“Wir machen eine EST, danach geht es Ihnen wieder besser, Frau Stromberg.”
Stammheimer legte das Krankenblatt auf das Bett zurück.
EST, Elektroschocktherapie. Jan hatte das vorausgesehen. Hier war Psychotherapie angesagt. Doch er wusste, es hatte keinen Sinn, mit Stammheimer zu diskutieren. Die Neurochirurgie warf lange Schatten, unter denen Psychotherapie nicht gedeihen konnte. Stammheimer liess nicht mit sich reden, war davon überzeugt, wenn eine EST nicht zum erwünschten Resultat führte, sei eine Lobotomie unvermeidlich. Als Gerda Stromberg noch am Vormittag ins Ambulatorium gebracht wurde, nahm Jan sich vor, sie zu befragen, bevor sie nach der EST für kurze Zeit ihr Gedächtnis verlieren würde.
“Frau Stromberg, wie geht es Ihnen?”
Die Frau lächelte resigniert.
“Können Sie sich bewegen?”
Vergeblich versuchte sie vom Rollstuhl hochzukommen.
“Es geht nicht.”
“Wieso meinen Sie, lebt Ihr Mann noch?”
“Manchmal höre ich seine Stimme in meinem Kopf.”
“Was sagt sie?”
“Gerda, wo bist du? Hilf mir, ich brauche dich! Hier sind nur Verrückte.”
“Was meint er damit, Frau Stromberg?”
Die Frau schluckte nervös. In ihrem Gesicht arbeitete es, sie begann zu schluchzen.
“Ich weiss es nicht,” dann fasste sie sich wieder.
“Mein Mann ist sehr religiös. Er hat im Kirchenchor gesungen und kennt sämtliche Bach Kantaten. Wie wird er das vermissen!”
“Frau Stromberg, entspannen Sie sich.” Seltsam. Jan dachte an Stammheimer
und seinen grauenhaften Gesang im OP. Wann hatte e r damit angefangen?
Schwester Hildegard befestigte die beiden Elektroden an Frau Strombergs Stirn. Jan injizierte Succinylcholin, um zu verhindern, dass die Konvulsion auf ihren Körper übergriff.
Warum betraute Stammheimer gerade ihn mit der EST? Er wusste, dass ihr Jan skeptisch gegenüber stand. Er wolle, so sagte er, Jan die Erfolge der EST miterleben lassen. Nun stand Jan da und jagte der Frau zwei Sekunden lang Strom durch das Gehirn.
“Frau Stromberg, wie fühlen Sie sich?”
Die Frau blickte ihn verwirrt an.
“Was ist? Wo bin ich?”
Jan nahm vor ihr Platz.
“Ich bin Doktor Vilmer, und Sie sind Gertrud Stromberg. Wir haben Sie einer Elektroschocktherapie unterzogen.
Wie fühlen Sie sich?” Jan zog die Elektroden von ihrer Stirn.
“Ich weiss nicht. Wieso bin ich hier?”
“Sie hatten ein psychisches Problem und konnten sich nicht bewegen. Versuchen Sie mal, aus dem Rollstuhl zu steigen.”
Frau Stromberg stemmte sich hoch.
“Wunderbar, mit dem Arm klappt es. Nun gehen Sie ein paar Schritte.”
Die Frau versuchte einen Schritt nach vorn zu machen. Sie stiess einen spitzen Schrei aus, als sie auf Jan fiel und ihn von seinem Sitz riss. Sie lagen auf dem Linoleum. Fast berührten sich ihre Gesichter.
Was für schöne Augen sie hat. Jan blickte auf ihren Mund, auf die zart geschwungenen Lippen. Ich möchte sie küssen, dachte Jan und erschrak, als die Tür aufging. Jan hob seinen Kopf und blickte auf ein paar braune Schuhe.
“Vilmer, was machen Sie denn da unten? Kommen Sie, Frau Stromberg.”
Stammheimer zog die Frau empor und setzte sie in den Rollstuhl zurück.
“Hat die EST gewirkt? Können Sie ihre Beine bewegen?”
“Nein.”
“Dann machen wir noch eine.” Stammheimer setzte die Elektroden auf die Stirn der Frau, gab ihr einen Gummiknochen.
“Den stecken Sie sich in ihren Mund, damit Sie sich nicht auf die Zunge beissen.”
Stammheimer drehte die Spannung höher und legte den Schalter um.

“Was mir behagt, ist nur die muntre Jagd! Eh’ noch Aurora pranget, eh’ sie sich an den Himmel wagt….”

Schwester Hildegard blickte Stammheimer entgeistert an. Noch nie hatten sie Stammheimer bei einer EST singen hören.

“… hat dieser Pfeil schon angenehme Beute erlanget.”

Heftige Konvulsionen schüttelten die Frau. Ihre Hände umkrampften die Lehnen des Rollstuhles. Das Succinylcholin wirkte nicht mehr.
Stammheimer legte den Schalter zurück.
“Versuchen Sie jetzt, Ihr rechtes Bein zu bewegen.”
“Wo ist mein rechtes Bein?” fragte Frau Stromberg verwirrt.
“Hier,” meinte Stammheimer und tippte mit dem Finger darauf.
Es ging nicht. Das Bein war nach wie vor gelähmt.

“Jagen ist die Lust der Götter.” Stammheimer erhöhte die Spannung. Ein neuer Stromstoss schoss durch das Gehirn der Frau. Alle Neuronen feuerten zugleich. Schwester Hildegard und Jan wirkten wie versteinert, als sie sahen, wie der Kopf der Frau zuckte und unter den Entladungen hin und her pendelte. Die Spasmen breiteten sich über ihren Körper aus. Jan sah, wie ihre Augen aus den Höhlen traten. Es roch nach verbranntem Fleisch.
“Professor, halten Sie ein,” schrie Jan und stiess Stammheimer von dem Apparat weg. Jan schaltete ihn ab. Frau Stromberg lag bewusstlos im Rollstuhl. Stammheimer riss der Frau die Elektroden von der Stirn. Ein paar Hautfetzen blieben an den Anschlüssen hängen.
“Hm.” Interessiert betrachtete er die verschmorte Haut, dann liess er die Anschlüsse fallen, ging zur Tür, blieb dort stehen und wandte sich noch einmal um.
“Prüfen Sie, ob es gewirkt hat. Mehr konnte ich wirklich nicht tun. Wenn das nicht hilft, machen wir die Lobotomie.”
Jan sah, wie Schwester Hildegard Stammheimer kopfschüttelnd nachblickte, dann sah er auf die Patientin. Während die Schwester die Brandwunden auf der Stirn versorgte und der Patientin ein Schmerzmittel spritzte, schlug diese die Augen auf.
“Wo bin ich? Wer sind Sie?”
Wie oft sollte er es noch sagen? “Ich bin Doktor Vilmer, und Sie sind Gertrud Stromberg. Wir haben Sie einer Elektroschocktherapie unterzogen. Schwester Hildegard wird Sie zu ihrem Bett zurückbringen. Wir sehen uns heute abend.”
Er sah auf seine Uhr. Zeit nach Hause zu gehen, den Nachmittag hatte er frei.

Als er am späten Abend im Ambulatorium auftauchte, prasselte der Regen gegen das Fenster. Erneut entlud sich ein Gewitter. Jan zog sein Lehrbuch aus der Aktentasche, setzte sich an seinen Tisch und schlug das Kapitel über Intrazerebrale Hämatome auf, als es an der Tür klopfte. Max, der Pfleger, stand im Gang und trat aufgeregt von einem Bein aufs andere.
“Herr Doktor, kommen Sie. Unsere Patienten sind vollkommen ausser sich. Ich kann es mir nicht erklären.”
“Max, was ist denn, sind sie wahnsinnig geworden?” Jan lachte laut über seinen Scherz, doch Max verzog keine Miene.
“Kommen Sie, Doktor.” Max öffnete die schwere Eisentür, welche die Geschlossene Abteilung von der Allgemeinen Neurologie trennte. Sie stürmten durch den leeren Aufenthaltsraum in den Gang hinein. Das Licht flackerte im Korridor. Pfleger standen vor den Türen und sahen durch die Fenster.
“Sehen Sie hier!” Max deutete auf das Fenster der ersten Tür. Jan blickte hindurch. Männer lagen festgeschnallt in ihren Betten. Krampfartig zuckten ihre Körper hin und her, ihre Münder waren karpfenartig geöffnet, sie schienen zu brüllen. Max rannte weiter. “Und hier!” rief er, deutete auf eine andere Tür.
Jan sah durch das Fenster. Ein Mann tobte in seiner gepolsterten Zelle, versuchte wiederholt die Wand hochzulaufen und fiel jedes Mal wieder auf den Boden zurück.
Eine Tür öffnete sich. Doktor Frankengeist stürzte heraus.
“Stammheimer spielt Orgel!” rief er ihnen zu. Gemeinsam rannten sie auf das Ende des Ganges zu. Plötzlich ging das Licht aus. Das Gewitter. Jan riss die Tür zu Stammheimers Privatpraxis auf. Wie angewurzelt blieben sie stehen.
Orgelklänge füllten den Raum, grauenvoller Gesang marterte ihre Ohren.

“Mein Kummer nimmet zu und raubt mir alle Ruh.
Mein Jammerkrug ist ganz mit Tränen angefüllet,
und diese Not wird nicht gestillet…”.

Unter dem Licht der flackernden Blitze sahen sie die dunklen Umrisse eines Mannes, der mit weit ausgreifenden Bewegungen die Orgel bearbeitete.

“so mich ganz unempfindlich macht. Der Sorgen Kummernacht
drückt mein beklemmtes Herz darnieder, drum sing ich lauter Jammerlieder.”

Das Licht flammte wieder auf.
“Der Gesang macht die Patienten verrückt!”, schrie Frankengeist aufgebracht über das Orgelspiel hinweg.
“Das sind sie doch schon!”, meinte Max.
“Wieso denn das?”, fragte Jan konsterniert.
“Der Gesang dringt durch das Kommunikationssystem!”, rief Frankengeist. “Er muss damit aufhören!” Er lief zu Stammheimer, riss ihn von der Orgel weg. Mit einem Missklang fiel der Deckel auf die Tasten. Keuchend rangen die Männer miteinander. Stammheimers Hände umschlossen Frankengeists Hals. Mit letzter Kraft fuhr dessen Hand über das Instrument, griff nach einem Leuchterständer und liess ihn auf Stammheimers Schädel niedersausen. Polternd schlug dessen Körper auf den Boden. Schwer atmend stand Frankengeist über ihm, beugte sich hinab und tastete nach seiner Halsschlagader, dann drehte er sich zu ihnen hin.
“Er ist tot.”
Stumm blickten sie sich an, dann fiel Jans Blick auf einen roten Schalter.
“Wofür wird der benutzt?”
“Das ist der Schalter für das Kommunikationssystem.”
Gedankenverloren verharrten sie in der Stille, die durch ein anhaltend glucksendes Geräusch unterbrochen wurde. Jans Blicke richteten sich auf ein grosses Aquarium. Wo waren die Fische?
“Max, sehen Sie!,” schrie Jan und zeigte auf ein Gehirn in dem gläsernen Tank, das in der bräunlich trüben Flüssigkeit kaum zu sehen war. Ebenso schwer waren die Luftblasen zu erkennen, die in unregelmässigen Abständen zu ihm hochstiegen.
“Frankengeist, wer ist das?”
“Heinrich Stromberg, einer der Verunglückten.”
“Wieso ist er hier?”
“Es war Stammheimers Idee. Er versuchte Stromberg am Leben zu erhalten.”
“Und, lebt er?”
“Sicher, die Nährflüssigkeit war Stammheimers Erfindung. Er hat ein grosses Geheimnis daraus gemacht, doch,” Frankengeist schob den Aquariumdeckel etwas zu Seite und tunkte einen Finger in die Flüssigkeit, steckte ihn in den Mund. “Probieren Sie mal. Schmeckt wie Maggi.”
Jan machte es ihm nach. “Es ist schon seltsam, die Grösse einer Erfindung liegt in ihrer Einfachheit. Woran hat man erkannt, dass Stromberg lebt?”
“Er hat mit Stammheimer kommuniziert, Ideen und Gedanken ausgetauscht.”
“Und lässt ihn Bach Kantaten singen,” stellte Jan fest.
“Vilmer, woher wissen Sie das?”
Max ging zum Aquarium.
“Doktor Frankengeist. Warum haben Sie nicht das Gehirn entsorgt? Professor Stammheimer wäre wieder normal geworden und die Marter mit den Kantaten wäre uns erspart geblieben. Nun, das hole ich jetzt nach.” Er zog den Deckel weg und griff in die Flüssigkeit hinein.
“Vorsicht, Max!” schrie Frankengeist. Zu spät, Max bewegte sich nicht mehr.
“Stromberg hat ihn gelähmt!” Entsetzt starrten sie auf das Gehirn, wagten nicht, näher an das Aquarium heranzugehen.
“Wartet einen Augenblick!”
Jan stürzte aus dem Raum, rannte den Gang entlang, jagte durch den Aufenthaltsraum, den Gang der Neurologie, ergriff einen Rollstuhl und fuhr ihn in den Saal, in dem Gerda Stromberg lag. Würde sie sich erinnern können? Er musste es wagen.
“Frau Stromberg,” keuchte er. “Ich habe eine gute Nachricht für Sie, Ihr Mann lebt! Kommen Sie,” und er postierte den Rollstuhl neben ihr Bett, “ich bringe Sie zu ihm.”
Die Frau war ausser sich vor Freude. Jubelnd schlang sie ihre Arme um Jans Hals, als er sie aus dem Bett hob und in den Rollstuhl setzte.
In aller Hast schob Jan den Rollstuhl Richtung Stammheimers Studio, riss die Tür auf und schob Frau Stromberg hinein. Freudig sprang sie vom Rollstuhl hoch und ging einige Schritte vorwärts. Sie konnte gehen! Sie konnte gehen!
“Wo ist mein Mann?”
Mit glänzenden, tränenfeuchten Augen blickte sie um sich.
Stammheimer lag vor der Orgel ausgestreckt auf dem Boden. Ein glucksendes Geräusch durchbrach die Stille. Im grossen Aquarium stiegen Luftblasen empor. Frau Stromberg ging näher an den Behälter heran.
“Was ist das?”
Max hatte die Frage gehört, schüttelte den Kopf, als sei er aus einem bösen Traum erwacht. Er konnte sich wieder bewegen und deutete mit dem Kopf zum Aquarium.
“Ihr Mann, Frau Stromberg!”
Als die Frau laut klagend in sich zusammenfiel, schlug sie mit dem Kopf gegen die Tischkante und polterte auf den Boden.
Jan beugte sich zu ihr hinab. Ihr Kopf war seltsam abgeknickt.
“Max, helfen Sie mir!” schrie er.
Das Licht erlosch, während Jan und Max versuchten, die Frau ins Leben zurückzuholen.
Heftig atmend erhoben sie sich und gingen für einen Augenblick zum Fenster, sahen, wie Blitze gleich leuchtenden Netzen in den Wolken flackerten.
“Nichts zu machen,” sprach Jan mehr zu sich selbst.
Wie konnte er dem Gehirn sein Beileid aussprechen?
Beklommen stellten sie fest, dass es grün phosphoreszierte und zu pulsieren begann.
“So sieht er aus, wenn er wütend wird!,” schrie Frankengeist. “Bringen wir uns in Sicherheit!”
“Wann wird er aktiv?” fragte Jan.
“Wenn seine Farbe von grün auf rot wechselt!”
“Seine Reichweite?”
“Die halbe Stadt! Ich verschwinde.” Frankengeist lief aus dem Raum. Von weitem hörten sie ihn noch rufen: “Seht doch, was er mit Stammheimer angestellt hatte!”
Jan schüttelte den Kopf. “Ich werde nicht so einfach davonrennen. Irgendjemand muss die Stellung halten! Max, ich brauche die beiden Toten im OP.”
Gemeinsam wuchteten sie Frau Strombergs und Stammheimers Leichen auf den Rollstuhl.
Während Max sich auf den Weg machte, durchsuchte Jan die Teeküche der Abteilung. Eine Suppenkelle, zwei Bowleschüsseln vom letzten Betriebsausflug, das musste gehen. Er stellte sie auf einen Servicewagen und fuhr ihn zum Aquarium.
Furchtsam blickte er auf das Gehirn, als er mit der Suppenkelle Nährflüssigkeit aus dem Aquarium in die Schüsseln füllte. Schnellen Schrittes schob Jan den Servicewagen in den OP.
“Was machen wir jetzt?” Jan sah Max fragend an. Hier half kein Lehrbuch. Er gab sich einen Ruck. Wat mutt, dat mutt. Sie legten Frau Stromberg auf den OP-Tisch und Jan setzte die handliche Kreissäge in Betrieb. Es war, als mache ihm jemand Mut, und plötzlich schien alles so einfach.

“Ächzen und erbärmlich weinen hilft der Sorgen Krankheit nicht.”

Das Kreischen der Säge wurde durch den Gesang übertönt, als Max kräftige Stimme mit einfiel.

“Aber wer gen Himmel siehet und sich da um Trost bemühet.”

Jan nahm die Schädelkalotte ab, dann sägte er an der hinteren seitlichen zur vorderen seitlichen Fontanelle entlang.

“Dem kann leicht ein Freudenlicht in der Trauerbrust erscheinen.”
Jan brach mit einer Knochenzange die restlichen Knochen weg. Das Gehirn lag frei. Er trennte Stammhirn vom Rückenmark und legte es in eine der Schüsseln.
“Max, bringen Sie Frau Stromberg zu ihrem Mann. Die beiden haben erst mal genug mit sich selbst zu tun. Ich kümmere mich inzwischen um Stammheimer.”
Während Max mit Frau Strombergs Gehirn verschwand, legte Jan Stammheimers Denkapparat frei, deponierte ihn in der zweiten Schüssel. Als er mit dem Servicewagen in Stammheimers Praxis ankam, stellte er fest, dass Strombergs Gehirn wieder seine natürliche graue Farbe angenommen hatte. Das Gehirn seiner Frau schien auch normal. Es schien, dass es sich in dem Milieu und in der Nähe ihres Mannes wohlfühlte. Es änderte sich auch nichts, als er Stammheimers Hirn in die Lösung lud.

Einige Monate waren verstrichen. Das Minenunglück war kein Gesprächsthema mehr, der Tod Professor Stammheimers und Frau Strombergs nie ein Thema gewesen. Dafür hatten die drei gesorgt, Stromberg, seine Frau und Stammheimer. Sie waren zufrieden. Stromberg, und seine Frau hatten sich, Stammheimer war und blieb der unsichtbare Chef der Neurologie. Jan hat seine Lehrbücher in die Ecke gefeuert. Er brauchte sie nicht mehr.

Im OP waren die Vorbereitungen in vollem Gange. Die Tür schwang auf, Doktor Vilmer stand mit erhobenen Händen im Saal. Schwestern eilten herbei, zogen ihm Kittel und Handschuhe über.
“Was haben wir denn hier?” Er blickte auf das Röntgenbild. “Posttraumatischer Hydrozephalus?” Er blickte den neuen Assistenzarzt an. “Schauen Sie zu und lernen Sie.

Skalpell! - Wie schön leuchtet der Morgenstern,” und das OP-Team fiel freudig ein: “voll Gnad und Wahrheit von dem Herrn.”






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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.11.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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