Günter Kanese

Wandertag

Der Frühling ist da. Und mit ihm auch wieder diese kleinen, etwas merkwürdig anmutenden Menschenscharen, die in einer Art Trachtenlook daherkommen, kleine Säckchen auf dem Rücken tragen und mit Stöcken bewaffnet sind. Man begegnet ihnen überall. Sie tauchen auf in zoologischen und botanischen Gärten, an den Ufern von Flüssen und Seen, im Mittel- und Hochgebirge, an den Stränden der Meere, auf Inseln und Halligen. Bei Regen, Wind und Sonnenschein sind sie in Feld, Wald und Flur und gern auch auf der Heide unterwegs, um ihrem festen Schuhwerk und sich selbst den härtesten Belastungstest auszusetzen. Jedem sind sie schon einmal, im wahrsten Sinn des Wortes, über den Weg gelaufen, die Wandergruppen... 
 
Kennt man eine, dann kennt man alle. Irgendwie. Denn irgendwie ähneln sie sich, die Damen und Herren, die auf Schusters Rappen in schöner Eintracht die Botanik durchstreifen. Besonders ähnlich übrigens sind sich die Gruppenwanderer, wenn sie sich, gegen den Regen gewappnet, ihre Jackenkragen hochgestellt und ihre wasserundurchlässigen Kopfbedeckungen aufgesetzt haben. Dann erinneren sie mich an "Fräulein Go", meine Grundschullehrerin, die an regnerischen Schulwandertagen ihren Jackenkragen hochzustellen und ihre Frisur mit einem durchsichtigen Plastikkopftuch zu bedecken pflegte.
 
Ja, so wie "Fräulein Go", meine Grundschullehrerin, sehen sie für mich aus, die Wandersleute beiderlei Geschlechts, die, Hitze, Wind und Regen tapfer trotzend, ihrem Steckenpferd an fast jedem Wochenende die Sporen geben. Und wenn sie dann, exakt nach Wanderplan, irgendwo am Wegesrand eine Rast einlegen und ihren Proviant auspacken, dann darf man getrost darauf wetten, dass sie aus ihren niedlichen, kleinen Rucksäckchen allesamt die gleiche Mahlzeit hervorziehen. Genau die gleiche, die auch schon "Fräulein Go", meine Grundschullehrerin, am Schulwandertag aus ihrer großen, braunen, ledernen Umhängetasche herauskramte.
 
Die selbst gemachten Frikadellen, die hart gekochten Eier, die Mettwurst- und Käsebrote gehören neben dem Tee aus der Thermosflasche ganz offensichtlich zum Wanderer-Normverzehr. Mag sein, dass diese Standardverpflegung sogar mitführpflichtig ist auf der Gruppenwanderschaft. Als Einheitsnahrungsmittel sozusagen. Verbindlich vorgeschrieben von der "Allgemeinen Gruppenwanderer-Vereinigung. Und von dort können die "Fresspakete", wetterfest verpackt wie die Bundeswehr-Überlebensrationen, wahrscheinlich auch in größeren Mengen und entsprechendem  Wanderergruppenrabatt bezogen werden.
 
Obligatorisch für jedes Wandergruppenmitglied ist inzwischen ja auch der so beliebte und so überaus deutsche Bestätigungsvermerk, der an der Endstation jeder ordentlichen Gruppenwanderung in den mitgeführten Wanderpass gestempelt wird. Wie auch sonst sollten Wandersmann und Wandersfrau und Wanderskind den Beweis dafür erbringen, dass sie tatsächlich den "Brocken" erklommen, das Wattenmeer durchlaufen oder den brünftigen Hirschen im Wildpark ihren Besuch abgestattet haben? Alles so ähnlich, wie bei "Fräulein Go", meiner Grundschullehrerin. Nur, dass wir Kinder bei ihr keinen Stempel in den Pass bekamen, sondern eine mehr oder weniger gute Zensur für den Erlebnisaufsatz, der dem Schulwandertag so sicher folgte, wie, Sie wissen schon, das "Amen" in der Kirche. 
 
Laut singend erlebt man die modernen Gruppenwanderer nur selten auf ihren Exkursionen, denn längst ist die Gruppenwanderei ja so etwas wie eine Leistungssportart geworden. "Auf, du junger Wandersmann", das war gestern. Das war "Fräulein Go", meine Grundschullehrerin, die uns am Schulwandertag singen ließ, was unsere jungen Kehlen nur herzugeben vermochten. Heute tragen die gruppenwandernden Zeitgenossen statt eines Liederbuchs im Rucksack, Marathonläufern gleich, einen elektronischen Schrittzähler am Fußgelenk, um die erfolgreich zurückgelegten Tourkilometer zu Hause penibel überprüfen und stolz in ins Gruppenwanderbuch eintragen zu können.
 
Nie, der geneigte Leser hat es bereits bemerkt, wäre es mir in den Sinn gekommen, mich einer Wandergruppe anzuschließen. Und sei das Wandern auch noch so gesund, das Gemeinschaftserlebnis auch noch so stark, die Kommunikation auch noch so anregend und die Natur auch noch so nah. Wandern. Schon das Wort allein macht mich krank, erzeugt Schweißausbrüche und treibt mir grüne Pickel auf die Haut. Wandern, ein Schreckensszenario - dank "Fräulein Go", meiner Grundschullehrerin...
 
Sie schaffte es, den Schulwandertag nicht als fröhlichen Ausflug zu gestalten, sondern betrachtete denselben als eine willkommene Möglichkeit, uns unter freiem Himmel in Heimatkunde und Biologie zu unterrichten. Noch heute höre ich sie dozieren über all das, was wir im Verlauf unserer Klassenwanderung so zu sehen bekamen: über jedes Blümchen, über jeden Froschtümpel, über jedes alte Scheunentor und über jedes nur halbwegs historische Gebäude wusste "Fräulein Go", meine Grundschullehrerin, eine Geschichte zu erzählen. Wandertag? Leidenstag!
 
Und am Ende eines solchen Leidenstages, der dazu noch kalt und regnerisch gewesen war, beschloss ein kleiner, frierender, zehnjähriger Schüler der "4a", angesichts von "Fräulein Go", seiner unverdrossen plappernden Grundschullehrerin, die den Jackenkragen hochgestellt und ihr durchsichtiges Plastikkopftuch über die Frisur gestülpt hatte, niemals mehr in seinem Leben an einer Gruppenwanderung teilzunehmen. 
Doch als ich am ersten Frühlingssonntag wieder einmal auf diese kleine, irgendwie merkwüdig anmutende Menschenschar traf, die in einer Art Trachtenlook daherkam, kleine Säckchen auf dem Rücken trug und mit Stöcken bewaffnet war, da überfiel mich für einen winzigen Augenblick ein Gedanke: "Wenn Fräulein Go, meine Grundschullehrerin, nicht gewesen wäre, wer weiß ..."
gueka2009

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.04.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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