Günter Kanese

Der Käse ist fürs Abendbrot ...

Hamburg, Februar 1992: Im Abfallbehälter, fest installiert im Fahrstuhl der Hauptverwaltung eines großen Finanzdienstleistungsunternehmens, lag neben Bonbonpapier und einer Zigarettenkippe ein kleines, flaches, in Alufolie gewickeltes  Päckchen. Als Redakteur der Mitarbeiterzeitschrift von Berufs wegen neugierig, nahm ich es heraus, während der Lift mich abwärts beförderte. In der Eingangshalle, in der an diesem Freitagabend bereits der Nachtpförtner seinen Dienst angetreten hatte, öffnete ich vorsichtig meinen silbrig glänzenden Fund und hielt eine Klappstulle in der Hand. Dick bestrichen mit Butter und üppig belegt mit drei sich überlappenden Käsescheiben. Edamer, wie ich sachkundig feststellte. Und weil all das zusammen nicht nur appetitlich aussah, sondern auch herrlich frisch duftete, konnte ich nicht anders: Herzhaft biss ich hinein in das Käsebrot.
"Wohl noch nichts gegessen heute", sagte der Nachtportier, der mich interessiert beobachtet hatte. Ich ließ den ahnungslosen Kollegen von der Hausverwaltung in seinem Glauben, schluckte den Rest meiner lecker schmeckenden Mahlzeit hinunter, murmelte "Schönes Wochenende" und machte mich auf den Heimweg. Während meiner Zugfahrt von Hamburg nach Schleswig-Holstein, die ich meist dazu nutzte, das "Abendblatt" zu lesen, ließ ich diesmal Zeitung Zeitung sein, schloss die Augen und dachte zurück an ein Ereignis aus Kindertagen, an das ich beim Verzehr der Klappstulle schlagartig erinnert worden war...

Eine Kleinstadt in Schleswig-Holstein, Juli 1954: Auf einer gleich hinter unserem Wohnblock gelegenen Pferdekoppel hatten meine Freunde und ich an einem hochsommerlich warmen Tag schon mehrere Stunden lang Fußball gespielt. Alle waren wir damals "Fritz Walter" oder "Jupp Posipal" oder "Toni Turek" oder "Helmut Rahn", denn mit diesen und den anderen "Helden von Bern" war Deutschland wenige Tage zuvor überraschend Fußballweltmeister geworden.
Ich war "Horst Eckel". Und genau wie mein Idol aus Kaiserslautern hatte ich mich beim Bolzen mächtig ins Zeug gelegt und dementsprechend mächtigen Hunger bekommen. Weil meine Mutter Waschtag hatte, war das Frühstück gleichzeitig das Mittagessen gewesen, was sich nun bemerkbar machte. Also lief ich den kurzen Weg nach Hause, um mir von Mutti schnell "ein Brot" schmieren zu lassen. Doch mein Läuten an der Wohnungstür war vergeblich. "Deine  Mutter ist in der Waschküche", sagte die Nachbarin, die gerade vom Einkaufen gekommen war. Zwar war ich kein für die damalige Zeit typisches "Schlüsselkind", das den ganzen Tag alleine zurechtkommen musste, weil die Eltern arbeiteten, doch meinen "eigenen Schlüssel" besaß ich seit meinem zehnten Geburtstag, den ich im März gefeiert hatte. Den Schlüssel verdankte ich der Fürsprache meiner Mutter: "Der Junge muss doch in die Wohnung können, wenn wir mal beide nicht da sind". "Das Ding", damit war der Schlüssel gemeint, "verliert er doch bei der erstbesten Gelegenheit", hatte mein Vater erwidert. Dann aber hatte er doch nachgegeben und mir den Haustürschlüssel "mit Kette" persönlich um den Hals gehängt.

So schloss ich die Tür auf, ging in die Küche und suchte im Schrank nach Brot und Margarine. Die karge Auswahl an Brotaufstrich, Oma Berthas selbstgemachtes Pflaumenmus und ein Becher mit Kunsthonig, war nicht gerade nach meinem Geschmack. Darum schaute ich in die zu ebener Erde gelegene kleine Kammer, die in die Küchenwand eingelassen war und als eine Art Vorratsraum diente. An einen Kühlschrank war damals noch nicht zu denken. Gerade mal 45 Mark in der Woche verdiente mein Vater, der erst Ende 1949 aus russischer Kriegsgefangenschaft nach Hause gekommen war, als Drechsler in einer Lederfabrik.
In der Kammer stand ein Teller mit Käsescheiben, säuberlich abgedeckt mit Pergamentpapier. Gerade wollte ich es entfernen, als ich hinter mir die Stimme meiner Mutter hörte. "Den Teller stell` mal wieder hin, der Käse ist fürs Abendbrot", sagte Mutti, die, von mir unbemerkt, aus der Waschküche gekommen war. Und dann schmierte sie mir eine dicke Scheibe Brot mit "Sanella" und "Butje-Kunsthonig", die ich gierig verschlang.

Auf halber Strecke zurück zu Pferdekoppel, Freunden und Fußball fiel mir ein, dass ich meinem besten Kumpel Hans-Otto, der "Werner Liebrich" war, sein Buch zurückgeben wollte. Es hieß, ich weiß es bis heute, "Sommertage im Försterhaus". Schnell lief ich zurück, hastete die Treppen bis in den dritten Stock hinauf. Mit meinem Schlüssel öffnete ich die Wohnungstür und hörte laute Schlagermusik aus dem Radio. Aha, Mutti war also noch da und nicht schon wieder im Keller am Waschbottich. Ich sah in die Küche. Vor der kleinen Vorratskammer hockte meine Mutter, hielt den Käseteller in der Hand und war gerade dabei, sich eine der Scheiben in den Mund zu stecken. "Der Käse ist fürs Abendbrot", rief ich laut. Meine Mutter, die mich nicht hatte kommen hören, drehte sich, zutiefst erschrocken, nach mir um: "Ich hatte plötzlich solchen Appetit auf Käse", sagte sie, und sah mich dabei entschuldigend an. Und urplötzlich, wie auf Kommando, begannen wir beide aus vollem Hals zu lachen. Wir lachten und lachten, und konnten fast nicht damit aufhören. Später, beim gemeinsamen Abendbrot, lachte mein Vater dann schallend mit über die Geschichte, die in unserer Familie noch Jahrzehnte lang immer wieder zum Besten gegeben wurde, wenn von unserem Leben in den "frühen Fünfzigern" die Rede war.
Eine Klappstulle, dick bestrichen mit Butter und üppig belegt mit drei sich überlappenden Käsescheiben; wie gern wohl hätte meine Mutter mir 1954, im Jahr als ich "Horst Eckel" war, eine solche Köstlichkeit in die Hand gedrückt ...

gueka2009

      

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.04.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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