Rico Graf

Dialog unter der Sonne

Dialog unter der Sonne

oder

Über die Philosophie und das Absonderliche

 

 

 

Eine ganz und gar wundersame Begegnung blieb mir bis zum heutigen Tage im Sinne. Ich hatte gerade meinen ersehnten Feierabend gemacht und ging, da die pralle Sonne so heftig und voll vom Himmel herabschien, noch ein wenig im nahe zu meiner Wohnung gelegenen Park spazieren. Die weiten Wiesen grünten bereits, buntes Blumen- und Blütenleben trieb und spross aus dem satten Grün hervor, als wollte es die strahlende Sonne küssen, ein laues Lüftlein pfiff durch die Halme und bat die Blätter zum frohen Frühlingstanze.  Überall her summte, zwitscherte und sang das faunische Gedeihen und auch die Menschen erquickten sich unter den wärmenden Strahlen des orange- farbenen Balles. Unweit lag ein blaues Wasser dar, brach murmelnd das kraftvoll einstrahlende Licht und trug seine schwimmenden Funken sanft heran bis an ein seichtes Ufer, vor dem einige schlichte Banken aufgestellt waren.

Ich lief diesen entgegen und erfreute mich an den Anblick eines dort sitzenden jungen Mannes, welcher ein Büchlein in der Hand hielt und darin las. Das Bild von jenem jungen Manne auf der Bank unter der Sonne mit dem Buche in der Hand hatte für mich etwas Pittoreskes und Klassisches, ja, fast Naiv-romantisches. Ich wusste nicht, wann ich das letzte Mal selbst ein schönes Buch an der Luft und am Wasser gelesen hatte, in diesem frühen Jahr jedenfalls noch nicht.

So setzte ich mich, gesellig wohl und zugleich neugierig, zu dem Lesenden  bei, betrachtete aufmerksam den Rücken des braunen Buches, las den in goldenen Lettern bedruckten Titel „Sein und Zeit“ und zudem den Namen des Autors: Martin Heidegger.

Noch vor einem Gedanken übermannte mich mein Wille reflexartig zum Treiben von Konversation und ich fragte den jungen Mann, ohne mir der  möglichen Schädlichkeit jener malerischen Szene durch diesen plötzlichen  Vorgang im Augenblicke gewahr gewesen zu sein: „Ein wunderschöner Frühlingstag, nicht wahr?“

Der junge Mann mit dem Buch sah auf und lächelte: „Ja, da hast du recht. Hier im Park und am Wasser macht es Spaß, sich den Buchstaben hinzugeben.“

Der Lesende hatte nichts Besonderes an sich, wie ich bemerkte. Sein Gesicht war weder sehr schön noch sehr hässlich. Ich musterte auch seine Kleidung. Simple Jeans, ein blaues T-Shirt, weiße Schuhe. Ich hingegen war im schwarzen Anzug, weißes Hemd und hellblauer Krawatte. Wie das Bild wohl von der Ferne wirkte? Sicherlich unbedenklicher, als ich es in diesem Moment empfand.

„Liest du denn viel?“, fragte ich.

„Oh ja, Lesen ist für mich einfach auch Leben.“

Ich konnte diese Meinung nicht teilen. Ungehindert dessen schauten wir  beide zum Wasser, horchten der Natur ihre Stimme und genossen das kurze Schweigen, bis ich es erneut zu brechen wagte: „Ich lese Zeitung, Magazine, selten mal ein Buch, höchstens ein Sachbuch, das ich für die Arbeit benötige.“

„Jedem das seine. Dies hier ist auch ein sachliches Buch.“

„Heidegger? War der Mann nicht ein Philosoph?“

„Genau, das war er“, meinte der Buchlesende und lächelte noch immer ohne veränderte Physiognomie.

„Ist Philosophie nicht etwas Absonderliches?“

„Was soll daran absonderlich sein?“

„Ist sie es etwa nicht? So fernab vom Leben, vom Sein, von der Wirklichkeit?“

„Erklär mir das? Nur wer schon versteht, kann zuhören.

„Philosophie ist weltfremd. Was hat sie mit der Realität denn zu tun? Warum solch komplizierte Bücher lesen, die nur schwer in der Hand liegen, wenn die Zeitungen jeden Tag hinreichend berichten, was die Welt bewegt?“

„Was die Welt bewegt?“

„Oder besser“, berichtigte ich mich, meinem offensichtlich aufbrausenden Gemüt nicht Herr seiend, „wie die Welt sich bewegt – mit all dem Politischen, dem Wirtschaftlichen, dem Gesellschaftlichen, dem Wissenschaftlichen, dem Kulturellen, dem Guten wie auch dem Bösen.“

Der junge Mann schaute mich aus seinen großen Augen an. Dann blickte er zum Wasser. Es reflektierte wie zuvor die Sonne und war ein wellender, glitzernder Spiegel des Gestirns.

Das Wesen des Daseins liegt in seiner Existenz. Dein Verstehen von Sein ist daher ein begrenztes Verstehen. Kein eigentliches Seinsverständnis. Wenn überhaupt, sprichst du vom Dasein. Darf ich deine eben genannte Aufzählung mal ordnen?“, fragte er mich.

„Nur zu“, sagte ich, mich unbeirrt gebend, es aber zunehmend werdend.

„Ich glaube, dass alle von dir aufgezählten Kategorien dem Gesellschaftlichen unterzuordnen sind. Es ließe sich jedoch darüber streiten, ob dem Kulturellen nicht der Platz an der Sonne zugetan werden sollte, aber das Zeitungskulturelle meint eher nicht das, was ich meinte. Bleiben wir beim Gesellschaftlichen. Dein Verständnis der Wirklichkeit ist eine Mischung aus deinem persönlichen Alltag, ergo der Alltäglichkeit des Seins als Seinsmodus des Daseins als erkennender Mensch, und den medial transportierten Weltfragmenten. Das Gesellschaftliche bedingt dich bzw. du bist das Gesellschaftliche. Welt ist aber Bedeutungsganzheit, nicht einzelne Bedeutungsfragmente. Und Philosophie ist unbegrenzte Welt- und Seinsdeutung.“

„Willst du sagen, ich lebe in einer anderen Realität als du? In einer fragmentarischen?“

„Wie du sie definieren möchtest… Ein metaphysischer Realismus würde meinen: die Welt ist wie sie ist; ob mit dir oder mit mir oder mit uns beiden, ob ohne dich, ohne mich oder ohne uns beiden.“

„Was hilft dir denn die Philosophie im Alltag? Ich bin doch wohl eher Realist als du!“

„Meinst du?“

„Wer arbeitet – wer die Welt bereist – wer mit Freunden feiert – wer liebt – der braucht keine Philosophie.“

Mein Gesprächspartner lachte. „Lage des Menschen: Unbeständigkeit, Langeweile, Ruhelosigkeit. Pascal.“, meinte er und fuhr fort: „Richtig, diese Tätigkeiten brauchen weder hinreichend noch notwendig Philosophie. Jedoch wenn sie diese nicht brauchen, so brauchen wir doch diese im Sinne von besorgen des Seienden. Bei dir passt das: Die durchschnittliche Alltäglichkeit des Besorgens wird möglichkeitsblind und beruhigt sich bei dem nur ‚Wirklichen’. Besorgen ist sorgen. Sein ist Sorge um-zu… Du sagst, Philosophie sei weltfremd und unreal. Eben absonderlich. Denn deine Realität ist die gesellschaftliche Realität. Dein Sein ist ein gesellschaftliches Sein. Dein Leben ist ein gesellschaftliches Leben. Mein Sein ist es auch notwendigerweise, aber das wahre Sein ist alles – nicht etwa ohne dem gesellschaftlichen Sein, sondern mit ihm, aber nicht als Beisein, sondern als Mitsein im In-Sein.

„Ich bin nicht sicher, ob ich dich verstehe.“

„Das gesellschaftliche Sein bestimmt sich aus dem Unwirklichen als Wirkung. Mein Sein bestimmt sich aus dem Natürlichen als Ursache. Oder vielmehr: es will sich aus dem Natürlichen bestimmen. Sich aus etwas Unwirklichem zu bestimmen, bedeutet letztlich Entfremdung vom Wirklichen, vom wirklichen Selbst als seiendes Selbst, ergo Selbstentfremdung“, er hielt inne, blickte zum Gewässer und forderte mich auf: „Komm, lass uns ans Wasser gehen!“

Ich nickte, wir standen auf und gingen zum Ufer. Der junge Mann hielt gerade noch kurz vor dem Ende des heranfließenden Nass und blickte darin hinein. Ich tat es ihm gleich. Es vergingen scheinbar einige Minuten, so empfand ich. Alsdann sprach er: „Das Wasser ist wie die Wahrheit. Du siehst hinein und glaubst, den Boden zu erkennen, aber je tiefer du vordringst mit deinem Blick, deiner ganzen Augenlust, umso weniger erkennst du. Alles wird mystisch.“

„Meinst du, dass ich nur die Oberfläche sehe?“

„Mein Versuch zu deuten und zu verstehen, mein Philosophieren“, sagte er, „ist vielleicht hoffnungsloser, als deine womöglich endliche Vorstellung vom Sein in der Welt, aber ich bin mit meinem Versuch der Wirklichkeit des In-der-Welt-seins so viel näher als du es je sein wirst.“

Ich blieb stumm. Ich musste nachdenken, über das, was er gesagt hatte. „Die Entfremdung war historisch gesehen vielleicht notwendig“, führte er fort, „Aber Ent-Entfremdung liegt in unserem Willen, weiter in unserer Hand.  Vielleicht anfangs nur in Form einiger schwerer Bücher. Durch sie fließt das Blut der alten Gedanken in unseren Geist hinein. Ein Wieder, ein Immerwieder. Die Wider- und Immerwiederbelebung der Bücher bereitet vielleicht den Weg des Zurweltkommens und zum wahren Sein.“

„Womöglich…“, flüsterte ich und starrte ins Leere, „Was ist wahres Sein, was ist Wahrheit? Kann man sie beweisen?“

 Wahrheit lässt sich in ihrer Notwendigkeit nicht beweisen, weil das Dasein für es selbst nicht erst unter Beweis gestellt werden kann“, erwiderte mein Gesprächspartner, doch dann endete er unseren Dialog mit: „Ich muss los“.

„Schade“, meinte ich fast etwas enttäuscht.

„Genieß die Sonne. Sie ist schön“, lachte er und winkte beim Gehen, „Wir sehen uns.“

Und damit ließ er mich viel zu abrupt zurück. Die Sonne neigte sich, wollte verschwinden, mich verlassen… Ich gerate heute noch in Wallung in der Erinnerung an dieses Gespräch. Fragen stelle ich mir, viele Fragen, wie: Ist der Philosoph der gar wahre Realist? Ist nicht er, sondern ich der Absonderliche in dieser Welt? Und überhaupt, was ist dieses ist?

 

Ich konnte kürzlich erst die Feststellung machen, dass Nietzsche im "Also sprach Zarathustra" eine ganz ähnliche Formulierung zum Lesen (Abschnitt: "Vom Lesen und Schreiben") getroffen hat: "Von allem Geschriebenen liebe ich nur Das, was Einer mit seinem Blute schreibt. Schreibe mit Blut: und du wirst erfahren, dass Blut Geist ist."

Das ich auf eine Parallele stieß, ist Zufall. Dennoch stimmt es mich schmunzelnd.
Rico Graf, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.04.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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