Sylvia Kopsch

Der letzte Job


Es ist Mittag und wir machen uns zum Ausgehen bereit.
Das Wetter an diesem Junimittwoch paßt gut zu meinem Vorhaben.
Die erste sommerliche Hitzewelle ist gerade abgeklungen; vorgestern brachte ein Gewitter die ersehnte Abkühlung und reichlich Regen.
Obwohl es mich längst kaltläßt, was für Wetter gerade herrscht, kommt mir der Wechsel von Regen und Sonne diesmal sehr gelegen. Mein Sommermantel verdeckt das Holster, anderenfalls müßte ich die Beretta in der Handtasche mit mir herumschleppen; äußerst unpraktisch. Außerdem rechtfertigt das Wetter meine Sonnenbrille mit den verspiegelten Gläsern.

Bis vor kurzem nahm ich die Kleine nur selten mit zur Arbeit. Doch seit sie mir neulich unerwarteterweise zu Hilfe gekommen ist, habe ich beschlossen, daß sie mich künftig begleiten soll. Eine junge Frau mit Kind wirkt viel unverdächtiger.
Der Schein täuscht mitunter. In ihren achtzehn Lebensjahren hat sie bereits mehr als einen Menschen sterben sehen. Es schreckt sie ebensowenig wie mich. Niemand würde bei diesem geistig und körperlich unterentwickelten Wesen mit dem Aussehen einer Zehnjährigen auf das wahre Alter schließen oder gar darauf, daß sie selbst schon einmal getötet hat. Aus Notwehr.

Während wir uns zurechtmachen und die Kleine ihr 4,5 mm-Damenspielzeug in der Schultertasche verstaut, sitzt Vater schon wieder abgefüllt im Sessel und schnarcht den laufenden Fernseher an. Ich drücke die Austaste und sehe mich angewidert in dem unaufgeräumten Zimmer um. Jemand müßte mal wieder staubwischen, die Fensterscheiben sind trübe und die letzte Topfpflanze läßt vertrocknet ihre braunen Zweige hängen.
Ich frage mich, ob wir nicht schon längst genauso vertrocknet und abgestorben sind.

Ich schüttle die philosophischen Anwandlungen aus meinem Kopf. In letzter Zeit passiert mir das öfter...
Als ich Wohnungstür hinter uns zuziehe, reißt das Geschnarche des Alten ab.

In der Tiefgarage prickelt mir der Nacken. Wovor habe ich Angst? Was habe ich zu verlieren? Wer sollte mir etwas anhaben wollen? Schlechtes Gewissen hatte ich nicht mal als Anfängerin.
Meine Auftraggeber wissen saubere Arbeit zu schätzen; sie bezahlen mich anständig, obwohl ich kaum weiß, was ich mit dem Geld anfangen soll. Meine Seele habe ich längst verkauft und meine Bedürfnisse sind fast ganz auf das Körperliche reduziert. Wir drei leben spartanisch. Das Appartement in bester Wohnlage ist der einzige Luxus, den ich uns erlaube. Vater ist zufrieden, solange er genug Schnaps bekommt. Er verläßt die Wohnung kaum noch, weil er den Heimweg nicht finden würde. Ich vermeide es so oft wie möglich, mit ihm zusammen zu sein und vertreibe mir die Zeit mit Kinobesuchen und Herumbummeln. Damit die Kleine ihm nicht ausgesetzt ist, schleppe ich sie mit. Wenigstens ist sie einigermaßen gelehrig - wie ein dressiertes Hündchen.

Diesen Auftrag erhielt ich, wie alle anderen auch, verschlüsselt per Fax. Meist erfahre ich so nur Zeitpunkt und Ort, an dem ich von einem Kurier mündliche Informationen bekomme.
Heute soll ich mich Punkt 13 Uhr im “Biergarten“, einem billigen Ausflugslokal am Rand des Stadtwaldes, einfinden. Mein Klient ißt dort täglich zu Mittag. Der Kellner wurde von der Firma als Aushilfe eingeschmuggelt und wird dafür sorgen, daß ich ungestört arbeiten kann.

Ich fahre den Wagen in eine Seitenstraße. Links eine langgezogene Gartenkolonie, rechts der Wald. Wir laufen die letzten hundert Meter bis zum Lokal. Nicht mal die Hälfte der Plätze unter den Sonnenschirmen ist besetzt. Die meisten Gäste scheinen Kleingärtner zu sein, die hier billig zu Mittag essen wollen. In der winzigen Kneipe sitzen drei Typen am Stammtisch und spielen Skat, die übrigen vier Tische sind leer. Stinkiger Zigarrenqualm ballt sich unter der niedrigen Decke.
Der Kellner kommt herbei, kaum daß er mich erblickt. Ich sage den als Erkennungszeichen vereinbarten Satz: “Draußen ist es mir zu frisch.“
Er antwortet: “Nebenan ist es weniger verqualmt. Wenn Sie dort Platz nehmen möchten?“ Ich nicke.
Leise raunt er mir zu: “Außer ihm und seinem Begleiter ist noch eine Punkerin drin. Ich konnte sie schlecht rausekeln.“
An solche Ungelegenheiten bin ich gewöhnt; der Job muß ja nicht unbedingt hier erledigt werden - im Gegenteil.
Gerade will er die Tür zum Vereinszimmer öffnen, da fliegt sie bereits auf und ein dürrer Teenager in zerfledderter schwarzer Kleidung kommt herausgeschossen. Sie prallt gegen mich, tritt mir mit den groben Schnürstiefeln auf den rechten großen Zeh, faucht “Scheiße!“ und stürmt davon.
Na bitte, die sind wir schon mal los. Bleibt nur der lästige Begleiter.
Drinnen steht ein rechteckiger Tisch mit sechs nicht zueinander passenden Stühlen. Schmutziges Geschirr ist auf einer Seite übereinander gestapelt.
Am anderen Tischende sitzen über Eck die beiden Männer. Der ältere von ihnen sieht wie ein Orientale aus, ein leichter Akzent bestätigt seine fremde Herkunft. “Hast du gesehen, wie schnell die Schreckschraube davongerannt ist?“ meint er feixend zu seinem Nachbarn, der an der Stirnseite des Tisches Eis aus einer Glasschale löffelt. Der knurrt nur mißmutig und blickt zu uns auf.

Das also ist mein “Klient“.
Er ist noch jung, höchstens in meinem Alter. Mir fallen sofort seine kupferroten Haare auf, die ihm als Pferdeschwanz bis auf den Rücken reichen. Nicht mein Geschmack.
Eigentlich sollte es mir gleichgültig sein, wie mein Opfer aussieht; diesen Job kann man nur ohne Emotionen durchhalten. Doch obwohl ich noch nie einen attraktiven Rothaarigen gesehen habe, muß ich zugeben, daß der hier gar nicht übel aussieht.
Für einen Anführer von Terroristen, als den man ihn in meinem Auftrag bezeichnete, sieht er mir zu sanft aus. Sein markantes Gesicht erinnert mich an einen Indianer, allerdings mit einem Hauch von Melancholie.
Ganz im Gegensatz dazu sein Begleiter. Der grinst noch immer amüsiert und trinkt in großen Schlucken sein Bier. Als er mich erblickt, hebt er die dichten Brauen.
Ich setze mich ihm genau gegenüber. Für einen “Schutzengel“ wirkt er nicht professionell genug, trotzdem werde ich mich zuerst um ihn kümmern müssen.

Der Bursche taxiert mich ungeniert und grinst wieder, diesmal eher anzüglich. Dann mustert er abschätzig die Kleine, die sich wortlos neben mich gesetzt hat.
“Guten Tag“, grüßt er mit leicht provokantem Unterton. Ich greife zu dem Blättchen mit der Aufschrift “Speisekarte“ und entgegne beiläufig: “Danke, gleichfalls“.
Während ich scheinbar das Angebot studiere, schiele ich zu dem jüngeren Mann hinüber. Er sieht kurz auf, bemerkt meinen von der Brille kaum getarnten Blick, wird ein klein wenig rot und widmet sich wieder seinem Nachtisch.
“Ein Rasseweib, stimmt´s“, zischt der “Orientale“ ihm sehr leise, aber für mich gerade noch hörbar, zu. Dafür kassiert er einen Tritt unter dem Tisch, wie ich an den Bewegungen der beiden merke. Der Rothaarige schüttelt leicht den Kopf und murmelt peinlich berührt: “Laß das, Amir! Willst du heute alle vergraulen, die sich zu uns an den Tisch setzen?“ Amir macht sich nichts aus der Kritik. Er zieht erneut die Brauen hoch und widerspricht: “Gefiel dir etwa die knochige Hexe mit den lila Lippen?“ Dann stiert er auf meinen im halboffenen Mantel sichtbaren Ausschnitt. Ich bemerke, daß er es vermeidet, mir ins Gesicht zu sehen; die Spiegelbrille irritiert ihn. Trotzdem lächle ich ihm, ein wenig mokant, zu. Daraufhin schaut er aufmerksam in sein Bier. Jetzt grinse ich breit. Sein Benehmen ärgert mich, doch gleichzeitig kommt es mir gelegen.
Der Kellner tritt ein und fragt nach meinen Wünschen. Ich bestelle eine Pepsi für die Kleine und einen Gin-Tonic für mich. Unbemerkt von den beiden gebe ich ihm ein Zeichen. Er nickt knapp, laut entgegnet er: “Kommt sofort!“ Auf seiner Stirn glänzt Schweiß.
Tatsächlich bringt er eine Minute später zwei beschlagene Gläser. Als er diesmal den Raum verläßt, schnappt kaum hörbar ein Riegel. Verstohlen beobachte ich, ob die beiden es bemerken.
Mein Spezi löffelt genüßlich sein Eis. Bei dem Tempo wird er damit mindestens noch zehn Minuten zu tun haben, denke ich. Mein Blick ruht intensiv auf dem zweiten Mann. Er schaut auf und lächelt mir, schon wieder selbstsicher, zu.
Kumpel oder Amateurleibwächter, frage ich mich. Egal, jetzt ist er dran.
Eine unscheinbare Tür führt auf den Gang zum Wirtschaftshof und weiter zu den Toiletten.
Wenn ich den Burschen richtig einschätze, wird er mir hoffentlich auf den Flur folgen.
“Schätzchen, ich gehe mal eben die Hände waschen. Bleibe schön hier sitzen.“
Meine Kleine nickt, stumm wie immer. Sie soll aufpassen, daß der Vogel nicht ausfliegt, also zieht sie ihr Täschchen auf den Schoß.
Im Flur hole ich die Pistole aus dem Holster und den Schalldämpfer aus der Manteltasche. Entsichern, durchladen, ein rascher Blick in die Toiletten - alles leer.
In diesem Moment betritt mein Störfaktor den Gang. Daß er es tatsächlich wagt, mir auf so primitive Weise nachzusteigen, versetzt mich in angenehm kalte Wut. Ein trockenes “Plopp“, und mein lästiger Verehrer geht mit einem hübschen kleinen Krater in der Stirn zu Boden. Die Wand hinter ihm wird wohl neu gestrichen werden müssen.
Ich sehe den Kellner um die Ecke zum Hof lugen und winke ihn herbei. “Räum das weg und hänge ein Poster an die Wand, oder sonst was.“
Grün im Gesicht nickt er nur und schleift den Toten an den Füßen zur Herrentoilette.
Er wird auch den Boden aufwischen müssen.
Ich schiebe die Hand mit der Pistole in die Manteltasche und kehre in das Vereinszimmer zurück.
Er wendet mir sofort das Gesicht zu und ich spüre plötzlich ein Ziehen in der Brust. Warum sieht er so gut aus? Hat er es wirklich verdient, zu sterben?
Was geht das mich an, rufe ich mich zur Ordnung. Bisher hat es noch jeder, den ich umlegen sollte, irgendwie verdient, aus der Welt geschafft zu werden. Kann sein, eines Tages ist jemand in bezug auf mich der gleichen Meinung...
Er ist noch immer nicht fertig mit seinem Eisbecher. Hat sich wohl mit der Kleinen unterhalten wollen, denn er fragt: “Verzeihen Sie, aber ist ihre Tochter taubstumm?“
“Stumm und schwachsinnig“, entgegne ich kurz angebunden. Das scheint ihn peinlich zu berühren. “Pardon, ich wollte nicht aufdringlich sein.“
“Schon gut, wir sind das gewöhnt; es macht uns nichts aus.“
Langsam gehe ich auf ihn zu. Mir fällt auf, daß er, anders als die meisten Rothaarigen, nicht fahle, sondern rötlichbraune Augenbrauen und Wimpern hat.
Lange Wimpern, und einen schönen Mund. Auf einmal finde ich, daß nur rotes Haar zu diesem Gesicht paßt - und daß es mir viel zu sehr gefällt.
Doch da blitzt es golden an seiner linken Hand und ich krampfe die Finger um die Waffe in meiner Tasche. Läßt er eine Frau zurück, die ihn betrauern wird?
Um mich würde niemand trauern...
Ich verdränge den Gedanken, daß er auch Vater sein könnte.
Wieso zwackt mich bei diesem Typen derart die Neugier? Mein ungewöhnliches Interesse an ihm beunruhigt mich. Ein schlechtes Omen; gute Arbeit kann in meinem Metier nur leisten, wer an sein Objekt keinerlei Gefühl verschwendet. Emotionen beeinflussen die Reakionsschnelligkeit; ein sentimentaler Killer kann sich gleich mit beerdigen lassen.
Ich fühle mich heute eigenartig betriebsmüde...
Liegt es daran, daß mein Opfer nicht in das Bild paßt, daß ich mir von ihm gemacht habe? Doch meine Auftraggeber fordern seine Beseitigung, also werde ich es tun. Nur Zeit werde ich mir dafür lassen, um seine Nähe noch ein wenig zu genießen.

Ich gebe mir einen inneren Ruck, trete hinter ihn und drücke ihm, bevor er sich zu mir umwenden kann, die Mündung des schalldämpferbewehrten Pistolenlaufes ins Genick. Er zuckt zusammen und erstarrt; klirrend fällt der Eislöffel aus seiner halb erhobenen Hand.
“Sie werden jetzt ganz langsam aufstehen und durch die Hintertür gehen. Und keine Mätzchen, wenn ich bitten darf.“
Meine Kleine hat ihren winzigen Damenrevolver aus der Tasche geholt und richtet ihn auf seine Brust. Ich muß ihn anstoßen, damit er sich unsicher erhebt. Er ist groß und gut gebaut.
Schade, daß er so gar nicht heldenhaft reagiert; wo bleibt denn da der Reiz? Eine so leicht zu schlagende Beute befriedigt mich nicht. Als Terroristenführer mag er vielleicht gefährlich sein, doch im Moment wirkt er alles andere als kämpferisch. Ein Mann nach meinem Geschmack sollte sich jetzt herumwerfen und wenigstens versuchen, mir die Waffe aus der Hand zu schlagen.
Beinahe seufzend sage ich: “Da entlang“, und winke mit dem Lauf in Richtung Tür.
Er macht zögernd ein paar Schritte, bleibt dann stehen und fragt: “Wo ist Amir?“
“Vorausgegangen“, antworte ich wahrheitsgemäß, “los, gehen Sie schon!“
Die Kleine huscht an uns vorbei und den Gang zum Wirtschaftshof hinunter.
Der Kellner hat gepfuscht.
Als sein Blick auf den nassen Boden und ein paar unverdeckte Blutspritzer an der Wand fällt, stockt sein Schritt erneut. Dann schluckt er und nickt verstehend.
“Das ist also nicht nur eine Entführung.“ Es klingt mehr nach Erkenntnis als nach Frage.
Der Flur macht einen Knick, dahinter liegt der Hof. Die Kleine winkt uns um die Ecke und ich dirigiere mein widerstandsloses Opfer hinaus.
Berge von Kartons, Bierfässer, Getränkekästen, Müllkübel und Fliegen. Der Geruch von altem Frittieröl und gärenden Küchenabfällen erfüllt die Luft.
“Kein Ort, den ich mir zum Sterben ausgesucht hätte“, läßt sich mein trauriger Held plötzlich vernehmen. Er will stehenbleiben, doch ich stoße ihm den Lauf der Pistole in den Rücken. “Nicht hier; weiter!“
Ich starre auf den Klipp, der seine Haare zusammenhält; Silber mit Türkis, Indianerschmuck.
Er folgt meiner Kleinen bis zur Ausfahrt, dort drängt sie sich, für ihn unerwartet, an seine rechte Seite. Ich trete links an ihn heran und lege den Arm halb um seine Hüfte. Die Kleine verdeckt meine Hand, die ihm die Waffe in die Rippen drückt. Ihre eigene steckt in der Jackentasche, doch auch sie hält die Pistole bereit. Für einen Moment bleiben wir stehe.
Passanten könnten uns für eine Familie halten, doch es ist schon wieder drückend heiß - hoher Mittag - und niemand ist auf dieser abgelegenen Straße zu sehen.
“Wir gehen jetzt ein Stück spazieren. Zur Zeit sind kaum Leute im Wald unterwegs. Sollten wir doch jemandem begegnen und Sie wollen Dummheiten machen, denken Sie daran: Ich werde jeden Zeugen beseitigen.“
Er räuspert sich bevor er leise antwortet: “Verstehe.“
Als wir das Stück Weg vom Lieferanteneingang des Lokals bis zum Wald hinter uns gebracht haben und im dämmrigen Grün verschwinden, atme ich auf. Der schwierigste Teil des Jobs ist geschafft. Der Rest ist für mich das Spiel der Katze mit der gefangenen Maus.
Die Kleine geht nun seitlich vor, ich hinter ihm. Wir folgen einem schmalen Trampelpfad abseits der eigentlichen Wege. Ich lasse meinen Blick über seinen Körper gleiten. Breite Schultern, schmale Hüften, nicht übermäßig muskulös, aber sportlich. Wie mag er nackt aussehen; weiß, rosig, sommersprossig?
“Wie ist es möglich, daß eine so hübsche Frau sich zum seelenlosen Werkzeug degradieren läßt?“ Seine angenehm dunkle Stimme klingt auf einmal erstaunlich fest. Er nimmt die Hände hoch und verschränkt sie im Nacken. Zeichen der Unterwerfung oder Schutzgeste?
Ich fühle noch immer die Berührung mit seinem Körper...
“Nehmen Sie die Hände runter“, entgegne ich, ohne auf seine Frage einzugehen.
“Mußten Sie Ihre Tochter in dieses abartige Geschäft hineinziehen?“
“Sie ist meine Schwester, und sie ist bereits achtzehn. Fanatiker aus Ihren Reihen hatten die Autobombe vor ihrer Schule abgestellt. Sie war eine der wenigen Überlebenden, gerade mal elf Jahre alt, dreißig Stunden lang unter den Trümmern verschüttet. Dies hier tut sie zu ihrem Vergnügen. Und nun halten Sie den Mund!“
Anstatt zu gehorchen, bleibt er stehen, dreht sich ruhig um und verschränkt, eher gelassen als trotzig, die Arme vor der Brust.
“Nehmen Sie die Sonnenbrille ab. Hier ist es schattig und ich möchte Ihnen in die Augen sehen.“
Für einen Moment verschlägt es mir die Sprache, dann lächle ich spöttisch. Soll er doch seinen letzten Willen haben.
Ich nehme mit der linken Hand die Brille ab und stecke sie ein, die rechte zielt mit der Waffe auf ihn.
Sekundenlang starren wir einander in stummem Kampf an. Er hat blaugrüne Augen. In seinem Blick liegt eine erstaunliche Ruhe.
Er wußte, daß es eines Tages so kommen würde, erkenne ich plötzlich.
“Jene Fanatiker, von denen Sie reden, sind der Teil unserer Bewegung, den ich selbst seit Jahren zu bekämpfen versuche. Durch diese Handvoll unbelehrbarer Terroristen steht die Bewegung kurz vor der Spaltung. Wenn Sie mich beseitigen, ist der Weg für genau jene Leute frei, die an der ... Behinderung ihrer Schwester schuld sind.“
“Gehen Sie weiter!“ Meine Worte klingen scheinbar ungerührt, doch etwas in mir sticht und zerrt.
Ich habe keine Wahl. Meine Auftraggeber tolerieren kein Versagen. Entweder er oder ich.
Er bleibt stur auf dem Fleck stehen.
“Auch gut, dann eben hier!“
Jetzt wird er merklich blasser und die hellen Sommersprossen auf seinem Gesicht treten deutlich hervor. Er läßt die Arme sinken; seine Finger zittern, so daß er sie rasch zu Fäusten ballt. Wieder sehe ich den Goldring blitzen.
Ich muß es wissen! Schließlich habe ich meinen Mann auf ähnliche Weise verloren...
“Sind Sie verheiratet?“
Das bringt ihn durcheinander. “Was... wie... nein“, stottert er verständnislos, bemerkt meinen Blick und hebt die Hand. “Ach so, der Ring!“
Er dreht ihn und ich sehe den ovalen, dunkelblauen Stein mit den goldschimmernden Stäubchen darin.
“Ein Lapislazuli“, raune ich beinahe andächtig. Mein Lieblingsstein, damals...
Dirks letztes Geschenk war eine Kette aus Lapiskugeln... Ich dränge die Tränen zurück und muß schlucken.
“Von Ihrer Braut?“
Sein forschender Blick dringt um ein Haar durch die mühsam errichtete Eiskruste um meine Seele. Rasch reiße ich mich los und senke die Augen wieder auf den Ring.
“Nein, meine Mutter hat ihn mir letzte Weihnachten geschenkt. Das fand ich albern, aber um sie nicht zu kränken trage ihn, nur eben mit dem Stein nach innen.“
Aha, denke ich, Muttersöhnchen.
Meine eigene Mutter habe ich gehaßt, solange sie lebte. Hat sich totgesoffen.
Ich atme noch einmal tief durch.
“Umdrehen und auf die Knie!“ kommandiere ich betont grob. Seine Pupillen verengen sich und sein Atem wird schneller, dann fragt er mit tonloser Stimme: “Genickschuß?“
Ich fühle ein kribbelndes Ziehen in Bauch und Unterleib. Wortlos nicke ich. Der Gedanke, ihn jetzt zu töten, erregt mich - und schreckt mich zugleich.
Fast zu schade, so etwas Hübsches zu verunstalten, geht es mir durch den Kopf.
“Warum nicht so?“ Er weist mit einer vagen Handbewegung auf seinen Oberkörper. Stumm starre ich ihn an. Kann ich unter dem Blick dieser wunderbaren Türkisaugen überhaupt auf ihn schießen? Zum ersten Mal seit langer Zeit fühle ich mich gehemmt. Die Waffe in meiner Hand erscheint mir plötzlich doppelt so schwer; sie zieht mir den Arm nach unten.
Ein Hoffnungsfunken schimmert in seinen Augen.
Nahezu hysterisch auflachend rufe ich: “Sind Sie etwa zuletzt noch eitel?!“
“Nein“, lautet die schlichte Antwort, “aber meine Angehörigen sollten mich noch erkennen können. Nichts ist schlimmer, als von jemandem, der einem nahestand, nicht richtig Abschied nehmen zu können.“
Wem sagt er das!
Dirk war Lehrer an der Schule... Die Autobombe hat ihn zerfetzt. Alles, woran ich ihn identifizieren konnte, waren seine Uhr und der Verlobungsring. Jahrelang quälten mich Träume, er wäre noch am Leben.
Erneut würge ich an Tränen. Verdammt! Wieso bringt mich dieser verfluchte Kerl so aus der Fassung?
Wütend entschlossen reiße ich die Pistole mit beiden Händen hoch und ziele auf sein Herz. Er schließt ganz kurz die Augen, öffnet sie jedoch gleich wieder und sieht mich fest an.
Meine Hände zittern bei dem Gedanken, daß das Neun-Millimeter-Projektil gleich einen warmen, pulsierenden Muskel zerreißen wird. Ein klopfendes Herz...

Ich sehe mich selbst, den Kopf an Dirks nackte Brust geschmiegt, dem sanften, lebendigen Pochen lauschen. Wie gern ich nach der Liebe auf das allmählich ruhiger werdende Klopfen seines Herzens horchte...

Der Mann vor mir hat kaum die Hälfte eines durchschnittlichen Lebens gelebt.
Wie Dirk...
Wir töten, was wir lieben - wer hatte das noch gesagt?
Ich drücke ab. Noch einmal. Plopp, plopp...
Die Wucht der Einschläge wirbelt ihn herum und schleudert ihn ins Gras. Ein heftiger Krampf geht durch seinen Körper, dann ist er tot.
Vorsichtig trete ich an ihn heran und drehe ihn um. Unter halb gesenkten Lidern starren weite Pupillen durch mich hindurch. Die Lippen leicht geöffnet, wirkt sein Gesicht fast erstaunt.
Ich knie nieder, nehme seinen Kopf in beide Hände und küsse hungrig und verzweifelt seinen noch warmen Mund. Ein paar kleine Schuhe erscheint in meinem Blickfeld.
“Hau ab! Geh nach Hause!“ fauche ich und drehe das Gesicht weg. Leise höre ich sie davongehen und lasse endlich meinen Tränen freien Lauf. In mir zerspringt mehr als nur Eis.
Zuhause - eine unwohnliche Mansarde und ein seniler Vater, der nie fragt, woher das Geld stammt, von dem er sich besäuft...
“Ihr seid mir sowas von egal“, keuche ich haßerfüllt zwischen zwei Schluchzern, dann zerre ich ein Taschentuch hervor und trockne die Spuren des kurzen Ausbruchs.
Noch einmal küsse ich ihn auf die erkaltenden Lippen. Neben dem süßlichen Eisengeruch des Blutes atme ich den herben Duft seines Rasierwassers.
Sanft schließe ich seine Augen. Sehnsucht nach diesem Mann packt mich. Warum mußte er auf meiner Abschußliste stehen? Weshalb habe ich ihn nicht wenigstens zuvor verführt? Weil ich es danach nicht mehr hätte tun können...

Soll ich so, mit den frisch aufgewühlten Erinnerungen, mit einem eben erst erwachten Gewissen, mit diesem unerwarteten Verlangen und Verlust in die ekelerregende Wüste meines Alltags zurückkehren???

Langsam hebe ich den Pistolenlauf zum Mund.








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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.11.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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