Helmut Wurm

Sokrates und das (geringe) bündische Geschichtsbewusstsein

(Das Gespräch fand zwar vor kurzem statt, hätte aber schon seit längerem stattfinden können, denn seine Aktualität ist überfällig und wird in der Zukunft vermutlich noch zunehmen)

Sokrates sitzt im Lesesaal der Burg L., die ein Archiv für die Geschichte des Wandervogels, auch der Pfadfinder und der Jungenschaften angelegt hat. Es sitzen nur wenige Personen dort, nämlich Sokrates, ein schon sehr alter Wandervogel, zwei Akademiker aus ähnlichen anderen Bünden (man merkt ihnen schnell an, dass sie studiert haben), ein jüngerer Bündischer und ein älterer Pfadfinder. Jeder stöbert für sich in Büchern, Heften, Zeitschriften und Chroniken. Aber da der Lesesaal nicht groß ist, kann jeder der genannten Anwesenden die Gespräche der anderen mit verfolgen.

Der schon sehr alte Wandervogel ist der unruhigste von allen. Sein Gesicht ist zwar verwittert, aber das noch helle Auge lässt eine noch ungebrochene Geisteskraft erkennen. Er nimmt eine Zeitschrift und Chronik nach der anderen in die Hand, blättert sie durch und legt sie dann, immer heftiger murmelnd, wieder weg. Er scheint etwas zu suchen, was er nicht findet, und das macht ihn immer enttäuschter und auch verzweifelter. Schließlich kann er sich nicht mehr still verhalten und es platzt aus ihm heraus:

Der sehr alte Wandervogel: „Wir sind alle nur Sternschnuppen und schon bald hier unten vergessen, wie die vielen Millionen anderen vor uns. Nach unserem Tod kräht kein Hahn mehr nach uns. Ja wir sind schon vergessen, sobald wir nicht mehr auf der öffentlichen Bühne agieren...“ (Dann stützt er seinen Kopf in die Hände und brütet dumpf vor sich hin).

(Die anderen schauen sich an, keineswegs spöttisch, und nicken still vor sich hin, Sokrates aus gutem Grund ausgenommen. Aber auch er ist ernst)

Sokrates: In der Regel ist das in der Tat so (murmelt er vor sich hin. Ihn dauert der sehr alte Wandervogel und deswegen fragt er vorsichtig) Du hast da einen harten Satz gesagt, der leider für die meisten Menschen stimmt. Aber was bewegt dich derart, dass diese Erkenntnis so plötzlich aus dir heraus bricht?

Der sehr alte Wandervogel (blickt kurz auf und sagt zu Sokrates gewandt): Ich war in meiner Jugend ein bekannter und auch erfolgreicher Wandervogelführer. Eigentlich hoffte ich hier in diesem bündischen Archiv etwas über unsere Jugendzeit, über unsere Gruppe und über meine Wandervogel-Kameraden zu finden. Aber nicht einmal ihre Namen sind hier irgendwo zu finden. Und da habe ich nach Spuren von mir und meinen Aktivitäten zu suchen begonnen und feststellen müssen, dass auch ich keine Spuren hinterlassen habe, dass ich vergessen und verweht bin wie eine Sternschnuppe, die schnell über den Himmel zieht und dann im Nichts verschwindet. Weshalb habe ich mich eigentlich als Wandervogelführer so bemüht? (Dann stützt er wieder den Kopf in seine Hände).

Sokrates (murmelt leise vor sich hin): Ja, weshalb leben wir eigentlich und weshalb bemühen sich viele eigentlich so im Dienste einer Idee, z.B. als Wandervogelführer, als Pfadfinderführer? (dann laut): Meinst du wirklich, dass dein Bemühen keine Spuren hinterlassen hat und völlig umsonst war?

Der sehr alte Wandervogel: Bisher habe ich nichts gefunden, weder in den hier gelagerten Chroniken noch sonst wo. Langsam meine ich, dass es besser gewesen wäre, nur mein Leben zu genießen und keine Minute für andere sich zu mühen. Wenn man sich doch nicht dankbar an meine Mühen erinnert und darüber etwas für die Nachwelt aufschreibt, war meine ganze Mühe für den Wandervogel verlorene Zeit. Und ob ich es oben im Himmel gedankt bekomme, weiß ich auch nicht...

Sokrates (ernst): Ja, mit der Dankbarkeit nach dem Tode ist eine unsichere Sache. Für uns Griechen gab es keine Dankbarkeit und kein Weiterleben nach dem Tode, da gab es nur den langweiligen Hades. Wer weiterleben wollte, konnte das nur im Gedächtnis der Nachfahren tun. Deswegen bemühten wir Griechen uns darum, durch irgendeine große Tat, durch einen Erfolg oder durch Schriften bekannt zu werden und in der Erinnerung zu bleiben. Ansonsten gab es nur den Lebensgenuss als Lebenssinn.

Der sehr alte Wandervogel (während die anderen 4 Anwesenden sich über die Bemerkung des Sokrates „Wir Griechen“ fragend anschauen, fährt er im Kummer seiner Erkenntnis ohne Nachdenken weiter): Ja, am besten wäre die Suche nach dem Lebensgenuss gewesen, nach dem Wandervogel-Lebensgenuss in meinem Falle. Das war mein Glück und ich wollte es in edler Form anderen weiter geben. Die haben es mir nicht gedankt, indem sie die Erinnerung an mich festgehalten haben. Die haben nur egoistisch genommen... Ich hatte keine wirklichen Freunde, wie ich jetzt feststelle... Ob ich mein Bemühen im Himmel gedankt bekomme? Was meinst du?

Sokrates: Das kann ich auch nicht sagen. Als der Olymp und der Hades dann geschlossen und durch den Himmel und die Hölle übernommen wurden, da hat man gesagt, dass menschliches Bemühen auf Erden im Himmel gedankt würde. Aber hier auf Erden gibt es auch weiterhin ein Weiterleben nur in der Erinnerung. Und diese Erinnerung ist zum großen Teil das Verdienst derjenigen, die das Leben verdienter Menschen aufschreiben, so wie das bei uns oft üblich war.

Der sehr alte Wandervogel (er wird sich jetzt gewisser Merkwürdigkeiten in den Äußerungen des Sokrates bewusst, die nicht in seinen Erfahrungshorizont passen): Du musst schon etwas an Altersverwirrung leiden, du tust ja gerade so, als wenn du schon zu den Zeiten der alten Griechen gelebt hättest... Aber Recht hast du mit deinem Hinweis, dass nur derjenige hier auf Erden weiter lebt, der in der Erinnerung der Nachfahren weiter lebt, und dass dazu sein Leben und sein Bemühen in irgendeiner Form festgehalten worden sein müssen. Aber weshalb ist von meinem Bemühen nichts festgehalten worden?

Hier beginnt sich nun einer der beiden Akademiker in das Gespräch einzumischen.

Der eine Akademiker: Ich bin hier, um nach Spuren bedeutender Wandervögel und auch Pfadfinder und Jungenschaftler zu suchen. Ich war früher selber einmal Jungenschaftler und habe einen inneren Bezug zur bündischen Geschichte. Und ich muss leider feststellen, dass im Verhältnis zu der Bedeutung dieser Bewegungen zu wenige direkte Spuren von den damals Mitlebenden zurückgelassen worden sind. Ich hatte mehr erwartet und bin etwas enttäuscht. Sicher ist es ein Verdient, dass man hier im Archiv so viel sammelt, wie man bekommen kann, aber der Umfang der hier gesammelten Chroniken, Berichte und Biografien zeugt nicht von einem ausgeprägten bündischen historischen Bewusstsein und von einer größeren historischen Dankbarkeit gegenüber den anerkannten Führern. Man könnte mehr über sie wissen. Oftmals sind es nur diffuse Schemen, die heute noch von ihnen weiter leben... Es ist aus historischer Sicht etwas traurig.

Sokrates: Vielleicht liegt das daran, dass viele Bündische zu einem guten Teil leider nur augenblicksbezogene Romantiker sind, die von einem schönen Erleben zum nächsten schönen Erleben leben und sich um Vergangenheit und Mühen einzelner Führer zu wenig kümmern... Gewissermaßen leichtes romantisches Blut, sicher liebenswürdig, aber mit einem geringeren Verantwortungsgefühl gegenüber dem Festhalten des Erlebten und des Bemühen ihrer Führer für die Nachfahren und für die Zukunft...

Der jüngere Bündische (mischt sich in das Gespräch ein): Ich bin hier, um mehr bezüglich der Entstehung des Wandervogels und auch der Jungenschaften zu erfahren. Ich habe mit Enttäuschung festgestellt, dass gerade aus der frühen Zeit des Wandervogels, aus der Zeit des Urwandervogels, bedauerlich wenig bekannt ist. Man weiß z.B. nicht einmal genau, weshalb der Name Wandervogel gewählt wurde und wer ihn vorgeschlagen hat. Ein relativ geringes historisches Interesse scheint die Wandervogelbewegung von ihren Anfängen an zu begleiten und ist nach meinen Erfahrungen ebenfalls heute noch feststellbar. Es scheint wirklich etwas mit der Suche nach romantischem Erleben zusammenhängen, auf das der ältere Herr hier mit dem merkwürdigen altertümlichen Gewand (er weist auf Sokrates) hingewiesen hat. Irgendwie kennzeichnet eine leichtlebige Art manche Wandervögel. Nur nicht durch Sorgen, Krankheit oder Tod sich die jeweilige frohe romantische Stimmung verderben lassen... Ich denke da mit ehrlichem Bedauern an eine kürzlich verstorbene Wandervogel-Kameradin. Sie war ein froher, begeisterter Wandervogel und möglichst bei allen unseren Treffen dabei. Jeder mochte sie. Jetzt ist sie tot und es spricht niemand mehr von ihr. Ich finde das sehr bedauerlich...

Sokrates: Das ist wirklich bedauerlich, eigentlich bedrückend, wenn hauptsächlich eine frohe, unbeschwerte romantische Stimmung im Hier und Jetzt das primär wichtig ist. Ich glaube aber nicht, dass das bei allen Wandervögeln so der Fall ist...

Der mittelalte Pfadfinder: Bei uns Pfadfindern gab es etwas weniger Probleme mit einem mangelnden Geschichtsbewusstsein, zumindest in der früheren Zeit. Wir sind etwas mehr daran gewöhnt, Chroniken und Berichte zu schreiben. Das hängt vielleicht mit der festeren Organisationsstruktur seit den Anfängen in England zusammen. Aber auch ich beobachte in meiner weiteren Umgebung eine Abnahme an Bereitschaft, die pfadfinderische Vergangenheit und z.B. auch die großen Schwierigkeiten innerhalb der NS-Diktatur von den Noch-Lebenden in Chronikform nieder schreiben zu lassen. Ein solcher Vorschlag von mir an die Noch-Lebenden unseres Stammes wurde zerredet, mit verschiedenen Entschuldigungen an andere weiter gereicht oder prinzipiell abgelehnt. Auch das macht mich bedrückt. Wir Deutsche scheinen in der Zeit nach der NS-Katastrophe Angst vor einer Geschichtlichkeit bekommen zu haben, vielleicht weil die NS-Ideologie übermäßig viel die deutsche Vergangenheit bemühte und man nun in das Gegenteil verfallen ist. Wir Deutsche neigen ja zu extremen Mentalitäts-Schwankungen...

Der andere Akademiker: Eine geringe Wertschätzung von Vergangenheit ist auch nach meinen Beobachtungen ein verbreitetes Merkmal deutscher Mentalität in der Zeit nach der NS-Katastrophe. Aber andererseits entdecke ich in Form der aufblühenden Geschichts- und Heimtatvereine eine Wiederentdeckung von Heimat und von Alltags-Geschichte. Wenn man beobachtet, wie liebevoll die Altstädte saniert werden, voller Hinweistafeln auf die lokale Vergangenheit, dann kann ich mir vorstellen, dass eine solche Rückbesinnung auf die eigene Vergangenheit auch im bündischen Bereich einmal wieder kommen wird. Dann wird man aber bedauern, dass relativ wenig zur bündischen Geschichte und ihren großen Führern in der Vergangenheit festgehalten und gesammelt wurde...

Der sehr alte Wandervogel: Das hilft mir aber jetzt nicht, dass später vielleicht einmal mehr von der Wandervogelgeschichte und den Mühen ihrer Führer festgehalten wird... Ich bin nur eine bündische Sternschnuppe gewesen, trotz meiner vielen Kraft und Zeit, die ich für den Wandervogel geopfert habe... Wie undankbar waren doch die, für die ich mich so gemüht habe... Soll ich etwa als einer der letzten Noch-Lebenden meine eigene Geschichte und meine aufgebrachten Mühen selber aufschreiben? Als eine Art Selbst-Beweihräucherung?... Ach wenn ich doch nur wüsste, ob wenigstens die Wandervögel im Himmel sich an mich erinnern und mir dankbarer sind als die Wandervögel hier auf Erden...

Sokrates (vor sich hin murmelnd): Ich fürchte, die Wandervögel sind nach ihrem Tode immer noch dieselben geblieben. (Dann sinnt er eine Weile nach, denn ihm tut der verzweifelte sehr alte Wandervogelführer leid): Du bist mit Recht verzweifelt, alter Wandervogelführer, aber vielleicht kann ich dir helfen. Sollten wir mit den Wandervögeln im Himmel einmal sprechen? Dann kannst du vielleicht etwas Beruhigung erfahren.

Der sehr alte Wandervogel (bissig): Es ist nicht fair, dass du mich verbitterten alten Mann auch noch auf den Arm nehmen willst. Für solchen bitteren Humor habe ich kein Verständnis.

Sokrates (verschmitzt lächelnd): Ich möchte dich nicht auf den Arm nehmen. Ich könnte wirklich ein Gespräch mit meinem Korrespondenten im Himmel anmelden. Ich habe nämlich die Möglichkeit dazu verliehen bekommen. Mit diesem Kasten kann ich Gespräche mit jedem Ort der Erde führen, auch mit vergangenen Zeiten und sogar mit dem Himmel. Es ist nämlich ein interkontinentaler, intertemporärer und sogar intergalaktischer Fernmeldeapparat.

(Während die anderen Anwesenden teils verwundert, teils irritiert und teil misstrauisch zu Sokrates hinschauen und sich teilweise an die Stirn tippen, holt Sokrates aus seinem Rucksack einen merkwürdig altertümlich geformten Kasten mit einer Kurbel, einer Tastatur wie bei einer alten Schreibmaschine, einem alten Mikrophon und einem Lautsprecher hervor und stellt ihn auf den Tisch. Dann gibt er eine längere Zeit mit den Knöpfen der Tastatur eine offensichtlich aufwendige Adresse ein und dreht dann ebenfalls längere Zeit an der Kurbel)

Sokrates (zu den Anwesenden): Habt etwas Geduld, es dauert eine gewisse Zeit, denn die Entfernung ist ziemlich weit. Aber es wird schon klappen.

(Während sich die anderen Anwesenden verständnislos anschauen, misstrauisch miteinander tuscheln und sich wiederholt an den Kopf tippen, ertönt auf einmal ein Signal aus dem alten Lautsprecher und dann meldet sich eine sehr ferne Stimme)

Die ferne Stimme: Hier „Himmels-Korrespondent XY“. Sei gegrüßt Sokrates, du hast dich längere Zeit nicht mehr gemeldet. Was kann ich für dich tun?

Sokrates (er leitet das Gespräch vorsichtig ein): Lieber Korrespondent oben im Himmel, wir sitzen hier in einem Wandervogel-Archiv. Was kannst du uns über die Wandervögel dort oben berichten? Wie führen sie sich auf?

(Die anderen Anwesenden rücken völlig verblüfft näher und hören zu)

Der Korrespondent im Himmel: Es geht ihnen sehr gut hier oben. Sie genießen eine Reihe von Sonderrechten, denn sie sind hier bei vielen beliebt. Weil sie Gottes schöne Welt ihr Leben lang so fleißig erkundete und eigentlich niemandem etwas zu Leide getan haben - obwohl manche doch etwas loses Blut waren - hat man ihnen erlaubt, ihre Fahrtenkleidung (also Barett, Halstuch, Kniebundhose und Wanderstiefel) weiter zu tragen, ihre Gitarren zu behalten und sich täglich zu einem Singekreis zu versammeln. Das Choralsingen zur Harfenmusik ist ihnen weitgehend erlassen worden, denn es würde zu ihnen doch nicht passen und sie würden es einfach nicht tun. Dafür eben die geliebten täglichen Singerunden. Da wird dann herzhaft im alten Stil gesungen – wobei erwartet wird, dass einige Lieder natürlich als unpassend gemieden werden. Das tun sie dann auch, aber leider nicht immer. Denn die meisten waren zu Lebzeiten tolle, einmalige, etwas lose Kerle und sind es hier im Himmel auch geblieben. Wenn sie dann doch manchmal etwas Unpassendes singen, dann werden ihnen einfach die Töne abgeschaltet und wenn sie dann schimpfen, auch noch die Stimmen. Und wenn das nicht genügt, dann müssen sie einen ganzen Tag oder eine ganze Woche Harfenmusik und Choräle anhören. Das ist eine besonders strenge Strafe für sie...

Der sehr alte Wandervogel: Das ist für Wandervögel allerdings eine sehr strenge Strafe. Unsere Lieder singen war für uns ein Jungbrunnen und was wir sangen war die romantische Welt neben der realen Welt.

Der Korrespondent im Himmel: Besonders beliebt sind sie bei den einfachen Engeln. Die halten sich oft unauffällig in der Nähe den Wandervögeln auf, eben weil sie meistens so tolle, einmalige Kerle waren und hier oben auch noch sind. Die Heiligen dagegen stehen ihnen mehr misstrauisch gegenüber, weil sie etwas zu lockeres Blut gehabt hätten und auch etwas zu oberflächlich die meisten Dinge auf Erden behandelt hätten. Die achten sorgfältig darauf, dass diese alten Wanderbuschen nur passende Lieder singen und räuspern sich sofort vernehmlich bei einer Lied-Entgleisung oder rennen gleich zum Petrus und beschweren sich. Petrus selber hingegen kann sie scheinbar ganz gut leiden, denn wenn ein Heiliger oder ein ganzer Schwarm von ihnen sich aufgeregt bei ihm über die Wandervögel beschweren möchte, hat er meistens woanders dringend zu tun. Erst wenn die Beschwerde führenden Heiligen sehr hartnäckig bleiben, dann geht er zu den Wandervögeln und sagt, dass er wieder einmal die Töne abschalten müsse, damit die Heiligen vor lauter Räuspern nicht heiser würden, denn die wollten ja Choräle singen und Choräle seien auch schön...

Wenn die Wandervögel ihre Singerunden beginnen, dann haben viele einfache Engel in dieser Gegend des Himmels zu tun und die Umgebung füllt sich mit weißen Gestalten mit Flügeln, die zuhören, zum Ärger vieler Heiligen, nicht aller, kann ich hinzufügen. Der hl. Nepomuk z. B. ist ihnen nicht gram und nimmt sie immer wieder bei Lied-Entgleisungen in Schutz.

Kürzlich passierte wieder eine Entgleisung. Da dröhnte, wirklich dröhnte, die letzte Strophe des Liedes „Trumm, trumm, so geht der Landsknecht Schritt...“ aus der Singerunden-Ecke. Das Lied ist hier verpönt. Für die, die das Lied und die letzte Strophe nicht kennen, sei sie kurz zitiert: „Trumm, trumm, so geht’s tagaus tagein bei Würfelspiel und Karten, mit guten Kameraden, ums graue Haupt den Glorienschein, ergötz ich mich bei Branntwein, wohl in St. Peters Garten“... Da rannten einige Heilige sofort zum Petrus. Die Untersuchung ergab zusätzlich zum Tatbestand dieses verpönten Liedes, dass in den Bechern statt alkoholfreiem Metes guter Pfälzer Wein war, der in der Farbe ähnlich wie Met aussieht, und dass es außerdem nach Pfeifentabak roch. Einige einfache Engel verschwanden auf einmal unauffällig aus dem Zuhörerkreis und auch Hans Breuer, der frühere Pfeifenraucher, verdrückte sich ganz sachte nach hinten. Der Rest des Weines, man fand die meistens bereits geleerten Flaschen in einer Wolke versteckt, wurde konfisziert. Wer die Flaschen und auf welchem Wege in die Wolke geschafft hatte, kam nie heraus. Die Nachforschungen waren auch nicht sehr gründlich. Und Petrus bewies wieder seine großartigen pädagogischen Fähigkeiten. Er fragte nur den Hans Breuer, ob er wisse, wie ungesund das Rauchen sei und ob er schon einmal etwas von einer Vorbildrolle gehört hätte. Da wurde dieser doch sehr verlegen. Und was die Herkunft des Weines betraf, so bemerkte Petrus nur, dass die Weinernte dieses Jahr in der Pfalz nicht so reichlich ausgefallen wäre und dass man den Menschen den Wein lassen solle.

Dann wurden für eine Woche die Töne abgestellt und die Teilnehmer dieser unangenehm aufgefallenen Singerunde mussten eine ganze Woche Harfe spielen und Choräle singen. Einige Heilige wollten dieses Vorkommnis wieder ausnützen, um den Wandervögeln einige Sonderechte zu entziehen. Aber Petrus sagte nur, dass die Wandervögel alle mehr oder minder sympathische und gutmütige Leute gewesen seien (von einigen etwas oberflächlichen, losen und leichtsinnigen abgesehen), und dass es, wenn alle Menschen so wie sie gewesen wären, es keine Kriege, besonders keine Religionskriege gegeben hätte. Und das wäre doch unter dem Strich ein deutliches Plus... Da schlichen sich die heiligen Beschwerdeführer betreten wieder davon und es herrschte wieder einige Zeit Ruhe.

Sokrates: Jetzt dürfen wir nicht zu ausführlich werden und von unserem eigentlichen Anliegen abweichen, weswegen ich dich angerufen habe. Du erwähntest wiederholt eine gewisse Ober-flächlichkeit und Leichtsinnigkeit bei den Wandervögeln, feststellbar sowohl auf Erden wie auch im Himmel. Darum geht es uns heute. Wir haben nämlich festgestellt, dass die Wandervögel etwas nachlässig darin sind, ihre wichtigen Führer, ihre Fahrten und ihre Geschichte so fest zu halten, dass die nachfolgenden Generationen eine Orientierung haben und dass diejenigen Menschen, die keine Wandervögel sind, darin lesen können. Kannst du uns dazu etwas aus deinen Beobachtungen mitteilen?

Der Korrespondent im Himmel: Das ist allerdings ein Thema, das mich und viele Wander-vögel hier oben verlegen macht. Systematisch wird in ihren Kreisen eigentlich nicht viel aus ihrem früheren Leben, von bedeutenden bündischen Persönlichkeiten und Fahrten berichtet, nur jeweils spannende bruchstückweise Episoden. Dabei sind die Wandervögel auch hier oben eine tolle, einmalige Gruppe, von der man gerne mehr wüsste. Aber auch im Himmelsarchiv ist wenig von ihnen erfasst worden. Wir haben hier oben nämlich ein Himmelsarchiv, in dem viele ehemalige Wissenschaftler eine Tätigkeit zugewiesen bekommen. Gottes Schöpfung und ihr Ablauf sollen doch exakt festgehalten werden. Und diese Himmelsarchivare beklagen sich auch über die biografisch-historische Nachlässigkeit der vieler Wandervögel. Ich weiß nicht, ob das Bescheidenheit ist oder ob das so in ihnen steckt. Ich neige mehr zu der Erklärung, dass sie mehr in der Wirklichkeit ihrer Lieder leben, als in der realen. Das hängt vermutlich mir ihrer Neigung zur Romantik zusammen. Sie waren sympathische romantische Schmetterlinge, die hauptsächlich von einem Treffen zum anderen flattern und mit Freude sangen und hier oben weiterhin singen. Wozu dann die reale eigene Wirklichkeit wahrnehmen und festhalten? Begeistertes Singen kann wie eine Droge sein, die von der Realität ablenkt...

Sokrates: Das ist eine mögliche gute Erklärung. Aber könnte ich einmal einen der ehemaligen Wandervogelführer bei euch da oben sprechen? Er wird sich vermutlich wundern, wie wenig man von ihm hier unten auf Erden noch weiß. Ist z. B. Hans Breuer in der Nähe?

Der Korrespondent im Himmel: Ich kann , wenn du es wünschst, mit einer Reihe von ihnen ein Gespräch vermitteln, denn eine Menge neugieriger Wandervögel steht um mich herum. Ich gebe zuerst das intergalaktische Mikrofon, deinem Wunsch entsprechend, an Hans Breuer weiter.

Sokrates: Lieber Hans Breuer, schön dich wieder einmal zu hören. Das letzte Mal trafen wir uns ja auf einem Wolken-Tramp. Du betrachtetest damals recht enttäuscht das Treiben der heutigen Wandervögel. Ich möchte dich nun konkret etwas fragen. Über dich und dein Leben ist hier unten relativ wenig bekannt, obwohl du ein bedeutender Wandervogel gewesen bist. Es gibt über dich zwar ein Buch, aber es ist deiner Bedeutung nach relativ mager. Einen großen Teil dieser Biografie über dich nehmen deine Berichte in der Zeitschrift „Wandervogel“ ein. Ausführlichere private Einzelheiten fehlen nach meinem Eindruck. Was hältst du davon?

Hans Breuer: Ich habe mich für biografische Spuren von mir zu Lebzeiten nicht besonders interessiert. Die damaligen Zeitereignisse waren auch einer biografischen Sammlung und Betrachtung hinderlich. Zuerst war es die Euphorie der Wandervogel-Aufbruchzeit und dann waren es die Schrecken des 1. Weltkrieges. Da hat kaum einer daran gedacht, Biografisches ausführlicher zu sammeln.

Sokrates: Aber auch nach dem Krieg, nach dem Wandervogel-Neuanfang, haben die Überlebenden aus den ersten Wandervogeljahren kaum rückblickend berichtet. Dabei wart ihr doch Revolutionäre. Ihr habt eine erfolgreiche Revolution gemacht auf dem Gebiet der Pädagogik, der Kleidung und der Jugend- und Schulmusik. War das nicht wert, genauer biografisch erfasst zu werden?

Hans Breuer: Wir in Heidelberg haben uns vermutlich zu viel mit dem Sammeln von Liedern beschäftigt. Und die anderen Wandervögel haben von der ersten Stunde des Wandervogels an in einer romantischen Welt neben der realen Welt gelebt. Viele haben sich derart in diese romantische Welt verloren, dass sie den Weg zurück in die Alltagswelt nicht mehr fanden und es gar nicht notwendig erachteten, für die Nachwelt ihr Wandervogelerlebnis und die Mühen ihrer Führer festzuhalten. Ich habe zwar immer wieder davor gewarnt, sich in der unrealen romantischen Wandervogelwelt lebenslang zu verlieren, aber ich fand nicht genügend Gehör. Und auf das Festhalten in Chroniken und Biografien habe ich selber zu wenig geachtet. Das sehe ich jetzt als einen Fehler an.

Sokrates: Siehst du in dieser Frage Unterschiede zu den Pfadfindern, soweit du das von da oben beurteilen kannst?

Hans Breuer: Die Pfadfinder, soweit ich sie kennen gelernt habe, scheinen mir in biografischer Hinsicht doch verantwortungsbewusster zu sein als die Wandervögel, die ich um mich herum kennen gelernt habe. Vermutlich kommt das daher, dass ihr Gründer ein Offizier war und das archivarische Denken des Militärs mit in seine Gründung eingebracht hat. Chroniken über die eigene Sippe und den Stamm scheinen mir fast etwas Alltägliches bei vielen Pfadfindern zu sein. Bei den Wandervögeln hat mehr das innere romantische Erlebnis gezählt, das sich schwerer in Worten und Bildern festhalten lässt.

Sokrates: Könntest du uns hier unten eine Anregung geben, wie das Bewusstsein an der eigenen Geschichte bei den Wandervögeln besser entwickelt werden könnte?

Hans Breuer (nach einer Weile des Nachdenkens): Als Student habe ich zu meinen Lebzeiten festgestellt, dass ein Thema dadurch im öffentlichen Bewusstsein an Bedeutung gewinnt, wenn es durch ein anerkanntes wissenschaftliches Institut untersucht wird. Man könnte deshalb die Geschichte des Wandervogels und der anderen ähnlichen Bewegungen in Deutschland dadurch aufwerten, dass man ein eigenständiges Universitätsinstitut für diese Themen begründet. Die Deutschen sind immer noch so wissenschaftsgläubig wie früher. Wenn es ein anerkanntes Institut für die Geschichte der romantischen Bewegungen und der Pfadfindergeschichte mit anerkannten Professoren gäbe, dürfte das ihre Bereitschaft zum Festhalten für die Zukunft in Form von Chroniken und Biografien stärken.

Sokrates (zu dem Korrespondenten im Himmel): Lieber Korrespondent im Himmel, ich mache für dieses Mal Schluss. Du und Hans Breuer, ihr habt im Grunde die treffenden Hinweise gegeben. Noch andere Wandervögel zu sprechen ist eigentlich nicht mehr nötig. Danke für deine Mühe und bis zum nächsten Mal.

(Während Sokrates gewisse Tasten seines seltsamen Kastens drückt, bricht die Verbindung nach oben ab. Die anderen Anwesenden sitzen seltsam befangen um Sokrates und betrachten misstrauisch seinen seltsamen Apparat. Als Sokrates ihn wegräumen will, fragt ihn der eine Akademiker)

Der eine Akademiker: Du wundersamer Wundermann! Könnte ich diesen Wunderkasten auch einmal in die Hand nehmen und eine Verbindung in die Vergangenheit herzustellen versuchen, z.B. in das antike Athen? Die damalige Zeit hat mich immer interessiert und auch darüber wissen wir eigentlich noch zu wenig.

Sokrates (fein lächelnd): Du kannst mich fragen, wenn du etwas wissen möchtest. Ich kenne mich in dieser Zeit gut aus. Aber lass den Kasten in Ruhe und schlage dir eine Verbindung in die Vergangenheit aus dem Kopf. Er würde nicht gehen, wenn du ihn bedientest. Das Gerät funktioniert nur in meinen Händen. Es war ein besonderes Geschenk wegen meiner Verdienste um die Jugend und um das kritische Denken...

Der andere Akademiker: Ich weiß noch nicht, was ich von dem eben Erlebten halten soll, ob ich wache oder träume. Aber wenn wir im Mittelalter lebten, wärest du Zaubermann mit deinem Zauberkasten sicherlich als Schwarzkünstler verbrannt worden. Und ich weiß nicht, ob ich nicht zugeraten hätte....

Sokrates: Damals hatte ich manche Probleme, zugegeben. Und es waren hauptsächlich die damaligen Gebildeten, die diese Verbrechen der Hexenverbrennung begründet, gerechtfertigt und über mehrere Jahrhunderte aufrechterhalten haben... Das wird allzu häufig vergessen... Aber lasst uns jetzt lieber nachdenken, was sich aus unseren Gesprächen für eine Konsequenz ergibt. Erfreulich und beruhigend für den sehr alten Wandervogel neben mir war ja alles doch nicht.

Der sehr alte Wandervogel: Ich bin jetzt genau so niedergeschlagen wie vorher. Wie sagte der Korrespondent im Himmel: Viele Wandervögel sind sehr beliebte, liebenswerte, aber etwas oberflächliche Wanderer neben der Realität... Was kann man da nur tun? (er stützt seinen Kopf wieder in die Hände. Alle Anwesenden verharren in einem nachdenklichen Schweigen)

Sokrates (wendete sich den beiden Akademikern zu): Was für einen Beruf habt ihr eigentlich. Dass ihr studiert habt, merkt man euch schnell an.

Die beiden Akademiker (abwechselnd): Wir sind Professoren... Beide für Sozialgeschichte... Wir befassen uns am liebsten mit der Geschichte des Wandervogels und der vergleichbaren anderen Bewegungen... Denn wir waren früher selber begeisterte Bündische... Aber da es kein spezielles Institut für die Geschichte dieser Bünde/soziologischen Bewegungen/genauer wohl soziologischen Strömungen gibt, wursteln wir uns eben mit verschiedenen Themen durch die sozialhistorische Universitäts-Landschaft... Am besten wäre es natürlich, wir könnten uns ganz auf unsere Lieblingsthemen romantische Bewegungen, bündische Geschichte, so genannte Jugendbewegungen allgemein, in früheren Jahrhunderten, anderswo und speziell natürlich in Deutschland beschränken und auf diesem Gebiet forschen und sammeln, denn das ist ja sehr nötig, wie unsere Gespräche hier gezeigt haben...

Sokrates: Dann bietet es sich ja geradezu an, dass ihr den Tipp von Hans Breuer aufnehmt und ein eigenständiges Institut für bündische Geschichte und für Jugendbewegungen allgemein an einer anerkannten Universität gründet. Dann wären wir einen wichtigen Schritt weiter... Und der alte Wandervogel neben mir könnte etwas zuversichtlicher sein...

Die beiden Akademiker (abwechselnd): Oh, das wäre viel Aufbauarbeit... Man müsste zuerst eine geeignete Universität für eine solche Thematik finden... Dann müsste man das nötige Geld auftreiben... Man müsste schrittweise das neue Institut und den Lehrbetrieb einrichten... Das wäre eine große Aufgabe...

Sokrates (eindringlich): Ja, das wäre eine große Aufgaben. Aber man könnte sie ja in vielen kleinen Schritten angehen. Ich habe da in Afrika einmal einen gut passenden Vergleich gehört: An eine große Aufgabe sollte man herangehen wie ein Hund an einen gut gefüllten Fressnapf. Viele kleine Häppchen machen die Schüssel irgendwann leer. Man muss nur wollen... Lasst uns darüber nachdenken.

(aufgeschrieben nach den Tagebuchnotizen des Sokrates von discipulus socratei)

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.04.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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