Siegfried Gränitz

Renate








Sie war meine erste Freundin.
Ich war acht Jahre alt, sie fünf,
als sie mit ihrer Mutter 1944 in unser Haus einzog – der Vater war 1943 im
Krieg umgekommen.
Wir wohnten im 1. Stock – sie
zogen ins Erdgeschoss.
„Birkenhof“ hieß die kleine
Siedlung in Reichenbrand bei Chemnitz, wo ich meine Kindheit verbrachte.
Renate war blond, hatte lockiges
Haar, meist mit einer Klemme der Stirn ferngehalten, blaue Augen und einen
zuckersüßen Mund.
Aber ich habe nie einen einzigen
Kuss von ihr bekommen: Sie hat sich vorm Küssen geekelt.
Selbst ihre Mutter durfte ihr
immer nur auf die Wange einen „Schmatz“ geben – so nannte Renate die kurzen,
trockenen Küsse für alle Gelegenheiten.
Aber sie war sich sicher, dass
sie mich eines Tages heiraten würde!
Mit Renate war ich öfter zusammen
als mit meinen damaligen Freunden Hansi und Eberhard – man konnte kurz vor
Kriegsende sagen: fast Tag und Nacht!
Mit Renate habe ich nächtelang im
Luftschutzkeller gewartet, bis Entwarnung gegeben wurde, und meist
verabschiedeten wir uns mit den Worten: „Bis dann!“, denn die feindlichen
Flugzeugverbände kamen mitten in der Nacht oft noch einmal wieder.
Ich höre noch heute die Stimme
des Radiosprechers: „Anglo-amerikanische Kampfverbände im Anflug auf Hannover /
Braunschweig.“ – und Renate freute sich, wenn wir uns eine Stunde später im
Keller wiedertrafen.
Renate habe ich aus einem Lexikon
vorgelesen, zum Beispiel wie groß Frankreich ist, was man unter einem
Kriminalroman versteht und wer Kaiser Wihelm war.
Mit Renate bin ich
Sonntagvormittag in die Kindervorstellung ins Kino „Capitol“ nach Siegmar
gelaufen, auch wenn andere Jungs der Siedlung sich über meine ziemlich junge
Freundin lustig machten.

Mit Renate habe ich Schneehöhlen
gebaut – da allerdings waren Hansi und Eberhard mit dabei –, in denen wir
stundenlang saßen, uns Geschichten ausdachten und hofften, dass es morgen nicht
schon wieder tauen würde.
Mit Renate habe ich vorm Haus
gestanden, als der Himmel über Chemnitz blutrot war, im März 1945, als fast die
gesamte Stadt in Flammen aufging.
Mit Renate habe ich auf dem
Dachboden gesessen und die ersten amerikanischen Panzer die Rabensteiner Straße
entlangkommen sehen – das Rasseln der Ketten war kilometerweit zu hören –,  bin mit ihr dann zögernd zum ersten Panzer
gelaufen, aus dem Soldaten ausgestiegen waren: Ein Schwarzer verteilte Schokolade
– Renate bekam ein Stück ab, ich war zu feige gewesen, die Hand hinzuhalten. –
Und dann kam der Tag, als ich sie
zum letzten Mal sah: ein strahlend schöner Tag im Sommer 1945.
Schon am frühen Morgen zeigte das
Thermometer über 20 Grad.
Ich wollte mit Renate zu unserer
Hütte im Wald gehen, die wir uns aus Ästen und Zweigen selbst gebaut hatten,
und klingelte bei ihr.
Sie kam an die Wohnungstür.
Ich erinnerte sie daran, wie
schön schattig und kühl unser Versteck bei dieser Hitze war, und wollte von ihr
wissen, wann wir losgehen könnten.
„Erst Nachmittag“, meinte sie.
„Vormittag geh’ ich mit Mutti einkaufen!“
Stolz klang das.
Es gab nur wenig zu kaufen in
dieser Zeit, und für heute hatte ein Bäcker am Gasthof Reichenbrand auf einem
Schild im Fenster Brotverkauf angekündigt – mein Vati wollte sich auch
anstellen.
Der sowjetische Stadtkommandant
hatte die Verfügung unterzeichnet – die Amerikaner waren zu diesem Zeitpunkt
längst wieder abgezogen und hatten den Russen Platz gemacht, die ja dann über
vierzig Jahre blieben, wie man weiß.
„Musst du denn unbedingt mit?“
„Nein!“ Sie hatte einen Kamm in
der Hand und fuhr damit durch ihr widerspenstiges Haar. „Aber ich will!“
Wenn sie sich einmal etwas in den
Kopf gesetzt hatte, half sowieso keine Überredungskunst mehr.
Ich ging in den Hof, setzte mich
auf eine Bank und fertigte Pfeile für meinem Flitzbogen an, den ich mir gestern
gebaut hatte.
Eine Viertelstunde später holte
Renates Mutti einen kleinen Handwagen aus dem Keller und legte ein Kissen
hinein.
Renate stand daneben und hielt
die Deichsel.
„Aha! Weil du gefahren wirst,
gehst du mit!“, rief ich über die Wiese.
„Gar nicht wahr! Ich wäre auch so
mit!“
„Streitet euch nicht!“, sagte ihr
Mutti zu ihr, und mich beruhigte sie: „Wir sind bald wieder da!“
Vati kam mit seiner
Einkaufstasche: „Willst du nicht auch mitkommen?“
„Keine Lust!“
Ich schnitzte weiter.
Eigentlich hätte ich Renate ganz
gern im Wagen hinter mir hergezogen, aber gesagt ist gesagt!
Frau Hertel war noch einmal in
die Wohnung gegangen und hatte ihre Jacke dagelassen.
„Über 30 Grad werden heute!“,
sagte sie.
Renate winkte mir noch lange zu,
als sie im Handwagen davonfuhr.
Aber ich winkte nicht zurück –
ich war mit mir selber böse!
„Tschü-üss!“, hörte ich sogar
noch ihre Stimme, als sie längst um die Ecke gebogen war. –
Die Zeit verging überhaupt nicht
an diesem Vormittag.
Wo blieben sie denn solange?
Meine Mutti hatte auch schon ein
paar Mal den Kopf aus dem Fenster gesteckt und die Straße hinuntergeguckt.
Und dann – es war schon nach
Mittag – kamen sie endlich: Mein Vati zog den leeren Handwagen hinter sich her,
Frau Hertel lief neben ihm und hatte Renate auf beiden Armen.
Erst als sie heran waren, sah
ich, dass Frau Hertel weinte und Renate sich nicht bewegte.
Ich muss kreidebleich geworden
sein, als ich Renate ins Gesicht sehen wollte: Ihr ganzer Kopf war ein
einziger, mit einem durchnässten, roten Tuch bedeckter Klumpen, und über Frau
Hertels Unterarme lief ebenfalls Blut – Renates Blut.
Ich habe lange Zeit nicht
begreifen können, was geschehen war.
„Die Russen!“, sagte mein Vati
zweimal, auch er war blasser als sonst, und auf seiner Jacke waren ... blonde
Haare mit Blut und weißem Schleim festgeklebt – später erfuhr ich, dass es
Renates Gehirn war.
Ich begriff nichts.
Soldaten schießen doch nicht auf
Kinder, vor allem, wenn der Krieg vorbei ist! –
Erst nach einer halben Stunde
erzählte mein Vati, was sich ereignet hatte: Er hatte sich genau wie die
anderen Hausfrauen und Rentner in einer langen Schlange anstellen müssen, die
bis auf die Straße reichte. Frau Hertel stand vor ihm, und Renate saß im Wagen
neben ihr. Plötzlich großes Geschrei, und ein deutscher Soldat rannte über die
Straße – er war hinter einem Gebüsch hervorgekommen, das die Kirche umsäumte.
Ein paar russische Soldaten war sofort zur Stelle – erst hörte man
Gewehrschüsse, und dann wurde aus einem kleinen Geschütz eine Granate
abgefeuert, die ein Stück von einer Hausecke des Bäckerladens abriss. Splitter
flogen durch die Gegend, und einer traf Renate in den Kopf. Sie war sofort tot
und lag blutüberströmt auf der Straße. Die Menschen in der Warteschlange
schrien entsetzt auf, als sie das tote Kind am Boden liegen sahen. Ein
russischer Soldat kam herbei, doch sein Vorgesetzter winkte ihm, und er ging
den anderen hinterher, die weiter nach dem deutschen Ausreißer suchten. Frau
Hertel beugte sich schreiend über ihre kleine Renate, die nicht mehr zu
erkennen war, nahm sie auf den Arm und trug sie nach Hause.
Mein Vati musste mir die
Geschichte immer wieder erzählen, und ich musste mir auch immer wieder anhören,
dass er von dem Splitter getötet worden wäre, wenn er sich nicht
geistesgegenwärtig
gebückt hätte ...
Dann ging ich in meine Kammer und
schloss mich ein.
Tagelang habe ich nichts
gegessen.
Renate wäre im nächsten Monat
sechs Jahre alt geworden ...  

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.04.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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