Paul Pistole

Bahn fahren

Ich stand am Bahnsteig dieser kleinen österreichischen Stadt und hatte keine Chance an eine Dose Bier zu kommen. Der Kiosk war geschlossen, der Getränkeautomat defekt und eine billige Bahnhofskneipe gab es nicht. Schlechte Aussichten für einen Trinker.
Stattdessen tummelte sich eine größere Anzahl Oberstufenschüler auf dem Bahnsteig. Der Jahreszeit entsprechend waren sie in dicke Winterjacken und Schals gehüllt. So konnte man den jungen Mädchen nicht einmal auf die Brüste schauen. Das Gesamtszenario war heute wirklich nicht sehr erfreulich.
Zu alle dem hatte mein Zug 20 Minuten Verspätung. Ich war heute einfach nicht in Stimmung für solch eine Ansammlung von Trostlosigkeit. Mir fehlte die Geduld.
Das lag vor allem daran, dass ich mit Schlafmangel und einem dicken Schädel vom Vorabend zu kämpfen hatte. Ich befand mich auf der ersten Etappe meiner Rückreise von einer Trinktour durch das österreichische Weinviertel. Vor mir lagen jetzt noch knapp fünf Stunden Zugfahrt. Glücklicherweise würde es im Zug Bier geben. Zumindest hoffte ich das.

Der ICE kam aus Wien. Er fuhr mit viel Lärm in den kleinen Bahnhof ein. Ich hatte erste Klasse gebucht. Es war ein Angebot gewesen und kam mir insgesamt nur 10 Euro teurer als die zweite Klasse. Ich hatte Geld schon leichtsinniger ausgegeben.
Als der Zug endlich angehalten hatte, warf ich meinen Rucksack nach innen und betrat den Großraumwagen. Alle Sitze waren besetzt. Außer mir hatten anscheinend noch andere Zweite Klasse- Fahrer das Erste Klasse- Angebot gebucht.
Ich durchschritt den Wagon mit Blick auf die Sitzplatznummern. Nummer 13 war für mich reserviert. Zumindest hatte ich das so gebucht.

Als ich endlich meinen Platz gefunden hatte, saß ein älterer Herr darauf. Er starrte konzentriert in einen alten, ledernen Aktenkoffer, in dessen Inneren sich ein Laptop befand. Er bemühte sich, sehr unauffällig dabei zu wirken. Ich vermutete Pornos.
Als ich den Mann ansprach, reagierte er nicht sofort. Das mochte an den Kopfhörern liegen, die er auf seinem licht behaarten Schädel sitzen hatte. Also tippte ich ihm auf die Schulter:
“Entschuldigung, das ist mein Sitzplatz...“
Er nahm erschrocken den Kopfhörer ab und sah mich ungläubig an.
Ich wiederholte noch einmal mein Ansinnen:
„Das ist mein Sitzplatz“
„Wie... Ihr Sitzplatz?“
Ich wollte das jetzt nicht diskutieren und hielt ihm einfach meine Reservierung unter die Nase. Jetzt schien er zu verstehen.
Nun begann er damit, das Pornokino in seinem Koffer abzubauen. Er tat dies in aufreizender Langsamkeit. Vor einigen Jahren hätte ich wahrscheinlich den Koffer zugeknallt und ihm eine verpasst. Heute ertrug ich es gleichmütig. Schließlich hatte ich die Aussicht, demnächst ein Bier zu bekommen.

Nach fünf Minuten saß ich endlich. Während außen jede Menge Wald und Bäume an uns vorbeizogen, riskierte ich einen Blick auf meine unmittelbare Umgebung:
Ich saß auf einem der Einzelsitze auf der linken Fensterseite. Daneben lag der Mittelgang. Daran schlossen sich auf der rechten Seite Doppelsitze wie in einem Flugzeug an.
Mitten in meine Beobachtungen hinein wurde ich plötzlich unterbrochen. Es war der Schaffner:
“Neue zugestiegene Fahrgäste die Fahrkarten, bittschön!“
Ich kramte in meiner Jackentasche und hielt ihm den Stapel mit meinen Papieren hin.
Er musterte alles ausgiebig und stempelte dann irgendetwas davon ab.
„Vielen Dank der Herr und gute Fahrt, möchten Sie ein Zeitung?“
„Ein Bier wär’ mir lieber!“
„Das macht die Kollegin. Sie kommt gleich bei Ihnen vorbei.“
Er verschwand wieder und kehrte wenig später mit einigen österreichischen Tageszeitungen zurück. Ich nahm mir eine.
Während ich in der Zeitung blätterte, bemerkte ich, dass meine Lider langsam schwer wurden. Es schien mir jetzt ein ausgezeichneter Zeitpunkt für eine kleine Schlafeinlage gekommene zu sein. Das Bier musste warten. Ich setzte meine Sonnenbrille auf und lehnte mich mit dem Kopf gegen den Sitz. Ich sah noch zwei Minuten Bäume und Felder an mir vorbeiziehen, dann war ich weg.

Ein penetrantes Telefonklingeln riss mich hoch. Ich konnte nicht sagen, wie lange ich geschlafen hatte oder woher nun dieses Klingeln kam.
Auf der Seite mit den Doppelsitzen durchwühlte ein aufgeregter, dicker Mann die Taschen seiner Jacke. Irgendwann fand er schließlich sein beknacktes Mobiltelefon und ging dran. Er lauschte erst eine Weile, dann begann er laut zu sprechen:
“Ja Mama, wir sitzen im Zug... ja, das ist die moderne Technik. Da kann man auch im Zug telefonieren...“
Der Dicke war ungefähr Mitte vierzig. Er sprach einen grauenvollen sächsischen Dialekt. Ich schüttelte den Kopf. Mehr gab es dazu nicht zu sagen.
Er telefonierte noch eine ganze Weile mit Mutti, dann legte er auf. Jetzt sprach ihn der andere dicke Kerl an, der neben ihm saß. Es schien offensichtlich sein Bruder zu sein. Jedenfalls hatten beide die gleiche dumme Visage:
“Bravo Perry, jetzt hast du den ganzen Zug aufgeweckt!“
Perry schaute jetzt ziemlich belämmert drein. Er schien nicht zu verstehen.
Stattdessen wollte er jetzt seinen Fensterplatz verlassen. Dazu musste ihn sein Bruder heraus lassen. Die beiden Dicken kämpften sich nun von ihren Sitzplätzen nach außen. Es war ein seltsames Schauspiel.
Als Perry es endlich auf den Gang geschafft hatte, marschierte er direkt in meine Richtung. Für so was hatte ich schon immer ein Näschen. Ich zog solche Leute an. Wie ein Haufen Scheiße die Fliegen.
Er stoppte direkt vor meinem Platz und begann sich zur Gepäckablage hinauf zu strecken. Dabei kam sein dicker, weißer Wanst zwischen Hose und Pullover zum Vorschein. Alles vor meiner Nase. Zum Glück hatte ich noch kein Bier bestellt.
Perry begann nun in seinem Koffer zu wühlen. Er fand schnell, was er gesucht hatte.
Als ich ihn wieder zu Gesicht bekam, hatte er einen Apfel im Mund stecken. Er sah damit aus wie ein gebratener Schweinekopf auf einer Silberplatte. In seiner rechten Hand hielt er ein belegtes Brot, in der linken eine große Flasche Cola light. So marschierte er wieder ab.
Nun begann das Schauspiel der Brüder von neuem. Der eine Dicke musste aufstehen und den anderen Dicken zu seinem Fensterplatz lassen.
Es schien nun der geeignete Moment für mein erstes Bier gekommen zu sein.



Der größte Vorteil der ersten Klasse bestand darin, dass die Getränke serviert wurden. Das rechtfertigte jeglichen preislichen Aufschlag im Grunde schon alleine.
Als ich den ersten Schluck Bier zu mir nahm, fühlte ich, wie wieder Leben in mich kam. Jetzt konnte der Tag beginnen.
Ich sah nun entspannt zum Fenster hinaus und beobachtete die Landschaft, die Häuser, die Straßen und die Autos. Alles zog vorbei und nur wenig blieb. Es war im Grunde wie im echten Leben.
Ich hatte mir gerade das zweite Bier bestellt, als erneut das Handy des Dicken klingelte.
Perry durchwühlte nun wieder seine Jacke. Sein Bruder sah ihm dabei zu und schüttelte ständig seinen kugelrunden Kopf, der ohne Hals direkt auf seinem Körper saß.
Es war ein Déjàvu:
Perry telefonierte wieder mit Mutti zu Hause in Sachsen, sein Bruder ermahnte ihn kurz, beide standen auf, Perry lief in mein Richtung und wühlte im Koffer, Apfel ins Maul, Brot in die Hand und ab zurück auf seinen Sitzplatz.
Ich beobachtete teilnahmslos die ganze Szene und trank dazu einen Schluck Bier.

Als gerade wieder etwas Ruhe eingekehrt war, erreichten wir Passau. Nun kam Betrieb in den Wagon. Viele Leute standen auf und holten ihre Sachen aus der Gepäckablage. Während die Namenlosen alle verschwanden, drängten zahlreiche neue Fahrgäste in den Innenraum des Wagons. Es war interessant, wenn man als bereits sitzender Fahrgast alles bequem beobachten konnte und etwas Alkohol vor sich hatte.
Von den neuen Namenlosen, die nun in Innenraum des Wagens strömten, erregte lediglich eine adrette Braunhaarige meine Aufmerksamkeit. Sie war Mitte 30 und schien mir trotz des dicken Wintermantels gut gebaut zu sein. Unglücklicherweise hatte sie einen sehr betriebswirtschaftlich aussehenden jungen Mann an ihrer Seite. Die beiden setzten sich direkt neben mich auf die andere Seite des Ganges. Sie ans Fenster, er an den Gang. Er schien ein echter Gentleman zu sein.
Nun begann die nächste Endlosschleife von vorne:
Schaffner – Fahrkarten bitte - Dankeschön, gute Fahrt - Wünschen Sie eine Zeitung? – Möchten Sie etwas essen oder trinken? – Sitz einstellen – sich bequem hinsetzen – Ruhe – hier, ihr Bier bitte, macht 3,80 Euro.

Ich spürte nun langsam meine Blase. Außerdem hatte ich ein ungutes Gefühl in der Darmgegend. Ich setzte mich also in Bewegung Richtung Klo.
Zugtoiletten waren eigentlich nicht meine Sache. Es war eng und unbequem und ständig wackelte alles. So etwas war nach einigen Bier keine leichte Aufgabe.
Ich musste kurz auf dem Gang warten, bis eine ältere Dame ihre Notdurft verrichtet hatte. Dann war ich an der Reihe. Ich ging hinein und verschloss die Türe. Es war wie befürchtet. Ich wackelte, der Zug wackelte und außerdem merkte ich, dass mein Darm Ansprüche anmeldete. Also hielt ich mich an der dafür vorgesehen Stange fest und presste.
Es war die erwartete Ladung nach einer durchzechten Nacht. Und es stank zum Himmel. Zum Glück waren die Klospülungen in Zügen sehr leistungsstark. Es zischte und blubberte als ich den Knopf betätigte. Danach glänzte die Schüssel wieder silbern und rein. Nur mein Geruch hing noch in der Luft.
Als ich die Klotüre öffnete, wartete die schicke Braunhaarige davor. Sie lächelte mich an. Ich war mir nicht sicher, ob sie nach dem Betreten der Toilette auch noch lächeln würde.
Ich setzte mich wieder auf meinem Platz und las Zeitung. In Österreich schien es wie überall auf der Welt zuzugehen. Die kleinen Leute mordeten und wurden bestraft. Die Großen lächelten milde in die Kamera und referierten über Quartalszahlen. Irgendwann wurden sie schließlich alle vergessen und in Zeitungen wurde Fisch eingewickelt. Oder sie wurde zu Klopapier recycelt.

Nach einigen Minuten kam die Braunhaarige zurück. Ich guckte sie an. Sie ignorierte mich komplett und setzte sich wieder auf ihren Platz.
Ich las noch eine Weile mit gemäßigter Aufmerksamkeit das Feuilleton der Zeitung, dann widmete ich mich wieder den interessanten Dingen des Lebens – Alkohol und Frauen.
Mein Glas war leer und die Braunhaarige war mit einem Buch beschäftigt. Leider konnte ich den Titel des Buches nicht erkennen. Was ich allerdings erkennen konnte war, dass ihr Freund ein kleines Nickerchen eingelegt hatte und sie eine weiße Bluse trug. Im Sitzen warf die Bluse an den Knöpfen Falten und man hatte besten Einblick auf ihre Brust. Sie trug einen weißen Spitzen- BH.
Ich saß mit meinem Bier in der Hand da und lugte andauernd in die geöffnete Bluse der Braunhaarigen. Das brachte mich in Wallung.
Irgendwann fing sie damit an in ihrer Jacke zu wühlen. Dazu musste sie sich ein wenig strecken. Ihre Bluse spannte nun sehr straff über ihren zwei Dingern. Das machte mich nun richtig nervös. Sie zog eine Banane aus ihrer Jacke hervor und legte diese vor sich auf den Tisch. Ich bestellte mir in der Zwischenzeit eilig ein neues Bier.
Die Braunhaarige begann nun während des Lesens die Banane zu Essen. Jedes Mal, wenn sie sich die Banane in ihren Mund schob, stellte ich mir vor, es wäre mein Schwanz. Raus, rein, raus, rein.
Ich hielt es nicht mehr aus und ging zum zweiten Mal auf Klo. Dort onanierte ich in ein Papierhandtuch der Deutschen Bahn.
Als ich wieder an meinem Platz zurückkam, war das neue Bier schon angekommen. Vorbildlich und diskret.
Während ich einen tiefen Schluck nahm, hörte ich im Hintergrund, dass Perry schon wieder telefonierte.

Nachungefähr viereinhalb Stunden erreichten wir Nürnberg. So stand es zumindest auf dem Bildschirm neben dem Ausstieg.
Ich stand mit meinem Rucksack da und wartete, bis der Zug anhielt.
Es drängten nun immer mehr Leute in Richtung des Ausgangs. Beim Einsteigen brachten die Menschen immer mehr Geduld mit als beim Aussteigen. Bei mir war das genau umgekehrt.
Als der Zug anhielt und sich die Türen öffneten, verließ ich die Endlosschleife und ließ den gesamten Mikrokosmos eines Bahnwaggons hinter mir. In meiner Bierlaune half ich noch einer älteren Dame mit ihrem Gepäck. Als ich ihre beiden Koffer auf dem Gepäckwagen abstellte, schien mir die Nummer mit der Braunhaarigen von vorhin abgegolten zu sein. Zumindest war ich dieser Ansicht.

Obwohl vor den Türen des Bahnhofes winterliches Schneetreiben herrschte, war für mich bereits der Fußweg reserviert. Ich hatte nicht mehr genug Geld für ein Taxi in der Tasche.
Ich lief durch das winterliche Schneetreiben und versuchte mir dabei noch einmal die Bluse der Braunhaarigen ins Gedächtnis zu rufen. Dabei übersah ich eine vereiste Schneefläche und segelte rücklings auf den Gehsteig.
Nach einer halben Stunde erreichte ich schließlich meine Wohnung. Auf der Straße durchwühlte gerade wieder ein Penner die Mülltonnen nach weggeworfenen Pfandflaschen. Ich war nun wieder zurück in der zweiten Klasse.

copyright. www.revolvergeschichte.com . paul pistole. 2009

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.04.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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