Sokrates sitzt wieder einmal auf einer Wolke und lässt sich beschaulich dahin treiben. Diesmal ist es Herbst und die Zugrichtung der Wolke geht nach Süden. Da es auch die Zeit des Vogelfluges nach Süden ist, rasten immer wieder einige erschöpfte Zugvögel oder Strichvögel auf dieser Wolke und ruhen sich aus. Meistens kommt dann zwischen diesen Vögeln auch ein Gezwitscher und Gekrächze, also ein Vogelgespräch, auf. Es werden dabei die verschiedensten Beobachtungen, Erlebnisse und Wünsche ausgetauscht. Und da Sokrates von seinem Gönner Apollon auch die Gabe verliehen bekommen hat, die Stimmen der Tiere zu verstehen und, allerdings nur sehr gebrochen einige Tierlaute auch zu sprechen – kein Wunder bei den so verschiedenen Tiersprachen – hört er jedes Mal gerne zu.
Diesmal haben gerade eine schnelle aufmerksame Schwalbe, eine gutmütige Amsel, eine miesepetrige Krähe, eine neugierig-boshafte Elster, eine kluge Wildgans, ein bedächtiger Kranich und eine praktisch denkende Ente Platz auf der Wolke genommen. Die Schwalbe beginnt zuerst zu zwitschern und seufzt.
Die Schwalbe: Ach wenn ich doch jetzt ein Wandervogel wäre, dann hätte ich es sehr viel bequemer.
Die Krähe (krächzt etwas müde): Was soll denn diese blöde Bemerkung. Du bist doch ein Wandervogel, nämlich ein Zugvogel auf dem Flug nach Süden...
Die Schwalbe: Ich meine einen menschlichen Wandervogel...
Die Krähe: Die Menschen sind doch Standvögel, die fliegen doch gar nicht im Herbst nach Süden... Die hocken den Winter über in ihren warmen Häusern... Und außerdem haben die auch keine Flügel wie wir, sondern nur lange Beine mit großen Füßen...
Die Schwalbe: Doch, es gibt auch Wandervögel unter ihnen. Nur haben die keine festen Zugzeiten und keine festen Zugrichtungen wie wir. Und sie laufen, statt zu fliegen. Und deren Wandern beginnt meistens im Frühjahr und endet im Herbst und die Richtung ist je nach Lust und Laune anders.
Die Krähe: Und was soll daran so wünschenswert sein, was rechtfertigt deinen Wunsch, ein solcher zweibeiniger Wandervogel zu sein? So lange Strecken zu laufen wäre nicht mein Ding... Fliegen geht leichter und schneller.
Die Elster: Die liefen ja auch nur früher lange Strecken... Heute sitzen sie in Autos oder in Flugzeugen...
Die Schwalbe:. Ach wie wäre das schön, jetzt faul in einem warmen Flugzeug zu sitzen...
Die Krähe: Dann sind das ja heute gar keine Wandervögel mehr, dann ist der Ausdruck ja falsch...
Die Wildgans: Ich komme aus einer kalten Gegend mit wenigen Dörfern, da habe ich bisher die Menschen meistens nur zu Hause oder in Autos sitzen gesehen... Die verpesten mit ihren Blechkisten die ganze Luft...Auch dort läuft kaum noch ein Mensch auf seinen langen Ständern. Die haben vermutlich schon Muskelschwund in ihren langen Beinen, gesund ist das Fahren und Fliegen sicher nicht...
Die Schwalbe: Aber schön und bequem ist es trotzdem, in so einem Auto oder Flugzeug zu sitzen...
Die Krähe: Und wieso nennt man eine kleine Gruppe von Menschen dann Wandervögel, wenn sie überwiegend doch in Autos fahren oder mit Flugzeugen fliegen? Dann müsste man sie ja besser Fahrvögel oder Flugvögel nennen?
Die Amsel (mischt sich jetzt ein): Ach, das hat historische Ursachen... Früher, als es noch kaum Autos und Flugzeuge gab, da wanderten viele junge Leute in die Natur hinaus... Meine Ururur...großeltern, die waren Waldamseln, die haben das noch erlebt, wie diese jungen Menschen mit großen Rucksäcken in die Wälder wanderten und dort unter freiem Himmel übernachteten... Das war jedes Mal eine Aufregung unter den Vögeln, wenn diese jungen Menschen kamen. Aber sie taten eigentlich keinem Tier etwas zu leide, sondern zwitscherten nur die halbe Nacht um ein Feuer herum... Aber das scheint schon lange her zu sein.
Die Schwalbe: Und sie fliegen völlig unsinnig in umgekehrter Richtung wie wir, nämlich im Sommer nach Süden, wo es dann heiß und trocken ist, und im Winter wieder nach hier in die Kälte und den Regen... Kein vernünftiger Vogel macht so etwas...
Die Elster (hüpft wichtigtuerisch-geheimnisvoll näher): Ich habe auch noch etwas beobachtet. Wollt ihr das hören?
Die Krähe: Ah. Die neugierige Elster, sie hat wieder irgendwo spioniert.
Die Elster: Wenn sie zu ihren Zwitscher-Singetreffen auf große Wiesen oder in Burgen und Häusern aufbrechen, dann nehmen sie oft die auserlesendsten Sachen zum Essen mit und bereiten sich die üppigsten und feinsten Mahlzeiten, wie in Hotels. Von wegen einfaches Leben in der Natur... Und dann werden vorher mit Autos moderne Camping-Kochgeräte angefahren, Kühlschränke, Strom-Aggregate, Wasserbehälter... Es ist ein richtiges technisches Küchengeräte-Sammelsurium vom Fenster aus zu sehen, denn da sitze ich dann gerne.
Die Krähe: Die scheinen auch beim Essen nur noch dem Namen nach einfache Wandervögel zu sein. Moderne Wohlstand-Volière-Vögel scheinen das mehr zu sein. Es sind eben nur noch moderne Menschen ihrer Zeit...
Die Amsel: Das „nur noch“ möchte ich einschränken. Sicher trifft das nicht für alle zu. Ich habe am Waldrand auch noch einfache Töpfe über einem Feuer aus Ästen beobachtet... Aber es werden immer weniger, die so ihre Mahlzeiten zubereiten...
Die Ente: Manchmal kommen sie mir an Wochenenden wie wir Enten vor. Wir streichen ja in einem größeren Gebiete gerne hin und her. Und das tun an manchen Wochenenden diese angeblichen zweibeinigen Wandervögel auch. Aber statt umher zu fliegen, äh auf ihren langen Beinen umher zu laufen, halten sie bereits an der ersten Straßenecke ihren Daumen so komisch heraus und dann halten bald Autos an und nehmen sie mit, dahin, wo sie hin wollen... Faule Bande mit Muskelschwund in der Tat... Trampen, glaube ich, nennen sie das.
Die Krähe (dazwischen rufend) Dann sind sie vermutlich Trampvögel geworden...
Die Ente (fährt fort): Und wie weit die an einem langen Wochenende oft herumstreichen! Statt 10-20 km wie eine vernünftige Ente, die die schönsten Plätze in ihrer weiteren Umgebung abfliegt, streichen sie manchmal über 100 km weit umher... Als wenn es in der Umgebung ihres Hausnestes keine schönen Flecken gäbe... Keine vernünftige Ente würde so etwas tun.
Die Schwalbe: Wir Schwalben fliegen ja schnell und manchmal fliege ich eine Weile neben einem der großen Aluminiumvögel, einem Flugzeug der Menschen her, auch wenn das nicht ungefährlich ist, und schaue in die kleinen runden Fenster. Da sehe ich manchmal solche Gestalten wie die Wandervögel mit Rucksäcken und Zwitscher-Begleitinstrumenten drin sitzen und weit weg fliegen.
Die Krähe: Denen gefällt es hier scheinbar nirgendwo so gut, dass sie sich zu Hause fühlen... Und je weiter weg, desto besser... Aber natürlich auf bequeme Art und Weise... Flugvögel, aber keine Wandervögel sind das!
Sokrates hat bisher vergnügt dem Vogelgespräch zugehört und ab und zu auch nach unten auf die Erde geschaut. Und da die Wolke ziemlich tief und langsam dahin streicht, hat er eine Gruppe Wandervögel unter sich entdeckt. Er deutet deswegen mit dem Finger nach unten auf diese Gruppe und die Vögel beugen sich über den Wolkenrand und folgen seinem Blick. Das muss sehr ungewohnt ausgesehen haben, nämlich eine kleine runde Wolke, an deren Rand verschiedene, nach unten blickende Vogelköpfe hervorlugen und dazu ein älterer Mann, der freundlich lächelnd herabwinkt.
Die Wandervogelgruppe, die zufällig nach oben geblickt hat, bleibt stehen und alle reiben sich verwundert die Augen. Dann sagt einer:
Einer der Wandervögel: „Ich glaube, ich spinne oder träume...“ und kneift sich in den Arm. Aber das merkwürdige Bild bleibt.
Die Amsel (oben zu den anderen Vögeln): Sehr ihr, es gibt doch noch echte Wandervögel, nicht alle sind Fahr-, Flug- oder Trampvögel... Die wandern da unten noch richtig mit ihren langen Ständern... Allerdings muss man solche Wandervogel-Gruppen früher öfters gesehen haben... Das wird zumindest von meinen Ururur...großeltern her so bei uns überliefert.
Die Wildgans: Auch bei uns Wildgänsen wird überliefert, dass solche Gruppen früher öfter durch die Natur gezogen sind... Wir mochten sie nicht besonders gerne, denn sie haben uns ab und zu gestört, weil sie die einsamen Seeufer damals bevorzugten... Heute stören uns andere Einflüsse der Menschen. Die so genannten Wandervögel wünschen es heute bequemer. Burg, Naturfreundehaus, Schutzhütte mit Kaminraum muss es schon sein.
Die Amsel: Aber trotzdem sollte man die Gruppe da unten loben. Solche echten Wandervögel müssen ermuntert werden. Lasst uns ihnen zuwinken.
Und alle Vögel winken mit ihren Flügeln der Gruppe zu und Sokrates winkt auch noch einmal. Das ist der Zeitpunkt, an dem der Führer der Wandergruppe die Rotweinflasche aus seinem Rucksack hervorholt und einen langen Schluck nimmt und die Flasche dann wortlos weiter reicht.
Die Elster (schadenfroh): Scheinbar doch nichts mit der reinen Vorbild-Wandervogelgruppe. Ohne Rotweinflasche geht es wohl nicht mehr, obwohl eine Reihe Jugendlicher unter ihnen ist...
Die Krähe: Die Zeiten haben sich eben geändert. Nur wir Vögel halten noch auf die reine Tradition und trinken klares Wasser, krächz.
Alle Vögel hören auf zu winken und ziehen die Köpfe vom wieder Wolkenrand zurück. Auch Sokrates lehnt sich enttäuscht zurück. Hoffentlich nur ein Einzelfall, denkt er. So ist es wieder nur eine langsam und tief treibende Wolke, die von unten zu sehen ist.
Die Gruppe unten (abwechselnd murmelnd): Offensichtlich war die Herbstsonne noch zu stark... Sonnenstich-Halluzinationen... Oder Tagträume infolge Übermüdung... Ein guter Schluck Rotwein ist doch manchmal nützlich... Er vertreibt Halluzinationen... (Dann trotten sie weiter, ab und zu misstrauisch nach oben schauend)
Die Amsel (etwas enttäuscht): Das ist ja doch etwas ernüchternd. Was ist von den alten Wandervogelidealen, von denen meine Ururur...großeltern, die Waldamseln, so schwärmten, noch geblieben? Immer weniger wird gewandert, immer weniger das frische Wasser in der Natur geschätzt und stattdessen Limonade, Säfte und sogar Rotwein getrunken, igitigit, die Trauben schmecken ja gut, aber dann dieses Weingepansche, ob das gesund ist?
Die Elster (misstrauisch): Eventuell gehen die da unten abends zum Essen und zum Schlafen in ein Gasthaus, statt beim Bauern im Heu oder im Zelt zu schlafen. Ich halte jetzt alles für möglich.
Die Ente (bestätigend): So etwas habe ich schon öfter gesehen. Die Wandervögel sind voller naturnaher Vorsätze losgewandert und dann haben sie abends bereits das einfache Leben satt gehabt und ein Gasthaus angesteuert.
Die Amsel: Ich hoffe, dass das nur die älteren Wandervögel so handhaben. Denen kann man eine Übernachtung im Freier oder im Heu nicht mehr zumuten. Dafür sollte man Verständnis haben.
Die Ente: Ich habe das auch schon bei jüngeren Wandervögeln gesehen, meine ich. Geld scheint keine Rolle mehr zu spielen...
Die Krähe: Wie ich schon sagte, überall Verfall der alten Ideale und Werte bei den Menschen. Nur wir Vögel sind normal geblieben... Krächz.
Die Schwalbe (sehnsüchtig): Und trotzdem würde ich jetzt gerne in einem Flugzeug sitzen. Wenn ich an den weiten Weg denke, den ich noch zurücklegen muss... Einfach in einem Gepäcknetz sitzen und zum Fenster hinaus schauen. Das wäre schön...
Zu diesem Zeitpunkt fliegt gerade ein Flugzeug von Süden kommend, an der Wolke vorbei. Die Elster schaut neugierig in die Fenster und berichtet dann sofort den anderen:
Die Elster: Im Flugzeug saßen an den Fenstern lauter Leute mit farbigen Hemden und bunten Halstüchern und komischen Mützen auf dem Kopf. Das waren sicher Wandervögel, äh, ich meine Flugvögel.
Die kluge Gans: Das Flugzeug kam aus Griechenland, man konnte die Aufschrift lesen. Vermutlich haben die an den Fenstern eine Wanderung durch das griechische Gebirge gemacht... Ich meine, Pelion heißt es.
Die Ente: Oder sie haben nur faul an einsamen Stränden gelegen und die Nächte durchgezwitschert. Die machen es sich leicht, einfach mit einem Flugzeug irgendwohin zu fliegen. Ich dachte, sie heißen Wandervögel...
Die Elster (spöttisch): Die Pfadfinder finden auch schon lange nicht mehr den richtigen Pfad in der Natur, sondern dafür die kürzeste Autostraße von einem Treffen zum anderen.
Die Krähe: Nur wir Vögel bewegen uns noch mit eigener Kraft von einem Ort zum anderen. Wir halten die Fahne noch hoch, aber die Menschen werden immer verweichlichter... Auch die jungen Wandervoge-Menschen...
Die Elster (boshaft): Und wenn diese Wandervögel im Flugzeug oder Auto an den Fenstern sitzen, dann schauen sie sich die Gegend genau an, durch die sie fahren bzw. über die sie fliegen, und nach ihrer Rückkehr erzählen sie großartig, wo sie alles, angeblich, gewandert sind.
Die Amsel (traurig): Die moderne Reisetechnik der Menschen macht solche Wanderlügen möglich. Aber ich hoffe nicht, dass so etwas häufig vorkommt... Meine Ururur...großeltern würde das sehr traurig machen.
Die Elster (führt ihre boshaften Beiträge fort): Und als angebliche Beweise für angebliche Wandervogel-Wanderungen kann man sich heute auch Fotos aus allen Weltgegenden aus dem Internet holen...
Der Kranich (hat bisher würdevoll nur zugehört): Einige von uns Vögeln sind ja geradezu die Leitbilder für die frühe Wandervogelbewegung gewesen. Der Wildschwan, wir die Kraniche, die Wildente, der Wanderfalke... Das müsste eigentlich zur Ehrlichkeit verpflichten... Wenn die heutigen Wandervögel mit den modernen Reisemitteln der Menschen nur irgendwohin reisen und dann dort tüchtig wandern, dann kann ich das noch akzeptieren. Wenn aber wirklich solcher Reisebetrug um sich greift, dann sollten sich die modernen Wandervögel besser ein Flugzeug oder ein Auto als Wappen wählen... oder meinetwegen auch ein Schiff, denn damit könnte man auch so betrügerisch verfahren...
Die Krähe: Wir Vögel sind wirklich noch die letzten Ehrlichen... Wir sind in dieser Welt des Betruges die letzten echten Leitbilder... An uns kann man sich noch ein Vorbild nehmen...
Sokrates hat wieder geschwiegen und nur zugehört. Nun macht er durch Handbewegungen und Kopfschütteln erkennbar, dass man nicht alle Wandervögel so negativ sehen dürfe.
Die Amsel: Der alte Mensch hier meint wohl, dass es auch noch echte menschliche Wandervögel gibt, die wandern, so wie früher die von meinen Ururur...großeltern oft beobachteten Wandervögel...
Die Elster (bissig): Das ist überhaupt ein komischer Mensch. Weshalb sinkt er nicht durch die leichte Wolke hindurch? Und außerdem halten die Mensachen ja immer zusammen... Man sollte ihnen allen nicht trauen, was sie erzählen!
Die Wildgans (sachlich): Ich meine auch, man darf solche Horror-Möglichkeiten nicht auf alle Wandervögel übertragen. Die meisten sind zwar noch ehrlich, aber das Wandervogelleben der zweibeinigen Wandervögel hat sich geändert. Sie sind bequemer und Kinder ihrer modernen Zeit geworden. Das muss man feststellen... Mit den frühen Wandervögeln kann man sie nicht mehr in allem vergleichen... Auch die Pfadfinder sind nicht mehr in allem die früheren kernigen Pfadfinder.
Die Krähe (altklug-miesepetrig): Ja, ja, der Fortschritt ist nicht immer gut... Wir Vögel sollten uns das als Warnung dienen lassen und an der alten Vogeltradition festhalten...
Die Elster (genießt ihre negativ-boshafte Rolle): Und auch äußerlich haben sich die Menschen verändert. Wie dick viele Menschen geworden sind... Auch bei den so genannten Wandervögeln... Die können ja gar nicht mehr lange auf ihren langen Ständern laufen... Und wie hässlich manche aussehen mit ihren dicken Bäuchen und breiten Hintern, brrrr...
Die Schwalbe (entsetzt schaudernd): Wenn ich so dick wäre, wie sähe ich da aus? Und ich könnte natürlich nicht mehr den weiten Weg fliegen und müsste tatsächlich mit einem Flugzeug als blinder Passagier irgendwie mitfliegen. Dass es die dicken Menschen nicht selber vor sich schaudert?
Die Amsel (wichtig): Das kommt von dem vielen Pick-Pick – der Ausdruck ist aus unserer Vogelsprache übernommen –, das die Menschen und auch die so genannten Wandervögel viel zu oft machen.
Die Gans (belehrend): Es heißt Pick-Nick und der Ausdruck kommt aus Amerika, wie ich gehört habe.
Die Amsel (fährt fort): Die früheren Wandervögel liebten einfache, gesunde Speisen, wie es unsere Familientradition seit meinen Ururur...großeltern, den Waldamseln, uns mitteilt. Heute naschen auch viele Wandervögel dieses fette, süße Tütenzeug. Das macht natürlich dick. Und auch deshalb können die modernen Wandervögel weniger wandern und müssen mit dem Flugzeug oder dem Auto ihr Ziel erreichen. Sie können höchstens noch mit dem Rad fahren. Vielleicht wird das Radfahren deshalb immer moderner...
Die Elster: Wenn man einmal einige Wandervögel oder Pfadfinder mit Fahrrädern sieht, kann man noch froh sein. Die bewegen sich wenigstens noch mit eigener Kraft selber fort.
Die Krähe: Das wären dann so genannte Fahrradvögel. Warum die aber nicht wieder einfach mehr laufen wie früher? Eigentlich ist der Name Wandervögel mittlerweile Etikettenschwindel geworden. Nur wir Vögel und besonders die Zugvögel sind noch echte Wandervögel. Die benutzen noch die eigene Kraft und machen ihrem Namen Ehre.
Die Amsel (bedrückt): Die Zeiten werden wirklich nicht besser. Man muss von vielen alten Illusionen Abstand nehmen. Was würden sich meine Ururur...großeltern über diesen Verfall grämen...
Sokrates schaltet sich wieder durch eine Handbewegung ein. Er deutet nach unten. Dort sieht man an einem stillen Seeufer einige schwarze Zelte stehen, aus denen Rauch quillt. Ein Pfad führt zu diesem Lagerplatz. An einer Stange weht eine Wandervogelfahne im leichten Wind. Sokrates lächelt und zeigt besonders der Amsel die Fahne und den schmalen Pfad.
Die Amsel: Der alte Mann hier scheint zu meinen, dass das noch ein echtes Wandervogellager ist. Das wäre ja wirklich ein Beweis, dass es noch Wandervögel wie früher gibt, so wie zur Zeit meiner Ururur...großeltern.
Die Elster (wieder boshaft): Vielleicht ist das Lager nur eine Tarnung. In den Kriegen früher hat man solche Verschleierungstaktik oder Täuschung häufig gemacht... Man sieht ja da unten niemanden, nur den Rauch aus den schwarzen Zelten aufsteigen. In Wirklichkeit sitzen diese angeblichen einfachen, naturnahen Wandervögel vermutlich in einer Gastwirtschaft in der Nähe und trinken Bier und essen Pizza...
Alle schauen sich um, entdecken aber in der Umgebung kein Haus und deshalb auch keine Gastwirtschaft. Sokrates lächelt wieder und macht durch Handbewegungen deutlich, dass nichts zu entdecken ist.
Die Ente: Ich kenne den Teich von früher her. Hier gibt es wirklich kein Haus und auch keine Kneipe in der weiteren Umgebung. Ich sehe da unten auch keine Gasflaschen, Campingkocher und moderne Campingstühle. Die scheinen wirklich ein ganz einfaches, naturnahes Lager zu haben. Vielleicht kochen sie gerade in den Zelten ein einfaches Gericht. Das wäre ja wie früher...
Die Elster (stänkernd): Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Solche Einzelfälle sollte man nicht überbewerten...
Sokrates schlägt mit der Hand ärgerlich auf die Wolke neben sich und macht der Elster ein Zeichen, statt weiter zu stänkern besser fort zu fliegen. Mit spöttischen kräh, kräh, kräh tut sie das auch.
Auch die anderen Vögel rüsten sich zum Aufbruch.
Die Ente: Ich bin ebenfalls so langsam in meiner Zielregion angekommen. Jetzt muss ich nur noch einen See mit viel Schlamm und Kleintieren und natürlich mit anderen Enten finden. Alles Gute ihr Zugvögel für euere weite Reise.
Die Gans und der Kranich schwingen sich gemeinsam in die Luft, drehen noch, mit den Flügeln winkend, eine Runde und steuern dann nach Süden. Die Amsel zögert noch.
Die Krähe: Ich möchte in die Weinberge am Bodensee und mich dort tüchtig vollpicken. Wenn auch die Weinbergwächter laut mit ihren Böllern Krach machen und die Stare damit vertreiben, so behalte ich die Nerven und fresse einfach weiter. Mit Ruhe kommt man am besten durch ein Krähenleben... (Sie breitet die Flügel aus und lässt sich von der Wolke fallen)
Die Amsel: Früher waren wir auch Zugvögel, aber immer mehr von uns bleiben den Winter über hier in Mitteleuropa. Ich glaube, ich mache das auch, obwohl ich ursprünglich vorhatte, einmal den Winter am Mittelmeer zu verbringen. Doch hier scheint es milde Winter zu geben und vielleicht gibt es in der Ferne auch ein Dorf. Da kann man sicher manchen guten Bissen zusätzlich bekommen... Und wie schön es hier ist, viel schöner als die kahle Landschaft um das Mittelmeer. Dass die zweibeinigen Wandervögel das schöne Mitteleuropa nicht mehr so schätzen wie früher, kann ich nicht verstehen... Kein vernünftiger Vogel kann das verstehen... (Dann fliegt sie davon)
Die Schwalbe (resigniert): Die Wolke schwebt für mich doch zu langsam. Bei dem Tempo komme ich ja nie dort an, wo ich hin möchte. Und der Weg ist noch sehr weit... Ach wenn ich doch mit einem Flugzeug fliegen könnte... (Mit einem Seufzer schwingt sie sich in die Luft)
Sokrates (bleibt alleine auf seiner Wolke zurück, er ist nachdenklich und murmelt): Dieses Vogelgespräch war ja wirklich interessant und hat eigentlich alle Arten von Beiträgen enthalten, nämlich Wahrheiten, Übertreibungen, Unterstellungen, Bosheiten, Glorifizierungen und Halbwissen... Aber das gilt nicht nur für dieses Vogelgespräch über die Wandervögel, das ist häufig bei den Menschen auch so... (Dann hält er die tief treibende Wolke an einem der ersten höheren Berge an und steigt ab)
(Verfasst von discipulus socratei, der im Süden auf Sokrates gewartet hatte, nach dessen Erzählung)
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Der Beitrag wurde von Helmut Wurm auf e-Stories.de eingesendet.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.04.2009.
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