Helmut Wurm

Sokrates und die bündischen Ehefrauen

Sokrates und die bündischen Ehefrauen oder Romantik braucht die Familien nicht zu trennen

Sokrates hat nicht nur mit einzelnen Menschen oder Gruppen geredet oder mehr oder minder heftig und geschickt diskutiert, es kam auch vor, dass er einfach überwiegend nur zuhörte und so Personen die Möglichkeit gab, sich von Sorgen, Bitterkeiten und Emotionen zu befreien. Das ist ja bis heute eine oft erfolgreiche psychotherapeutische Methode geblieben, Menschen sich erleichtern zu lassen, indem man ihnen geduldig zuhört. So ist es diesmal bei der Begegnung mit einer Gruppe verärgerter und fest entschlossener bündischer Ehefrauen gegangen – aber alles der Reihe nach.

Sokrates saß im Frühjahr des Jahres... im Zug. Sein Ziel war eine kleine Haltestation am Rande eines schönen Waldgebietes mit einem bekannten großen Gelände, wo sich Bündische regelmäßig treffen können. Aber dieser Platz war nicht sein Ziel. Sokrates wollte einfach in der schönen Landschaft spazieren gehen. Er war in den Zug in ein anfangs leeres Abteil 2. Klasse eingestiegen, aber auf jeder größeren Stadion waren merkwürdige Frauen zugestiegen und nun war das Abteil eigentlich mit diesen merkwürdigen Frauen besetzt. Die Merkwürdigkeiten dieser Frauen müssen etwas genauer beschrieben werden, um das Nachfolgende zu verstehen.

Die Frauen hatten praktische Wanderkleidung an, Trecking- oder Kniebundhosen mit vielen Taschen, eine entsprechende Trecking-Weste, ein grobes Flanell- oder Cordhemd, kräftige knöchelhohe Wanderschuhe und grobe Strümpfe, die über den Rand der Wanderschuhe um-geschlagen waren. Um den Hals hatten sie locker verschiedenfarbige dreieckige Halstücher geschlungen und die Spitzen verknotet. Sie hatten breite Gürtel um und an diesen Gürteln hing ein Fahrtenmesser. Auf dem Kopf trugen alle offensichtlich selbst genähte flache Samt- oder Cordmützen verschiedener Farben, wobei Blau, Grün, Braun oder Rot überwogen. Die Frauen sahen also eigentlich aus wie sehr zünftige Wandervögel - wobei gesagt werden muss, dass nicht alle Wandervögel immer so zünftig gekleidet sind.

Jede dieser Frauen hatte einen großen Rucksack auf dem Rücken gehabt und einige hatten dazu Gitarren über der Schulter getragen. Rucksäcke und Gitarren lagen nun in den Gepäcknetzen oder standen auf der Erde.

Aber was für Gesichter hatten diese merkwürdigen Frauen. Es lag auf allen ein Ausdruck fester Entschlossenheit einerseits und andererseits eine gewisse Unsicherheit und Verlegenheit. Dazu passte, dass eigentlich kein richtiges Gespräch unter diesen Frauen aufkommen wollte, nur kurze Sätze wie „Bald sind wir da“, „Dann kann es losgehen“, „Denen werden wir es zeigen“, wobei der letzte Satz oft wiederholt wurde. Man machte sich offensichtlich gegenseitig Mut.

Das erregte natürlich das Interesse von Sokrates, der anfangs seinen Gedanken nachgehängt hatte, genauer einer gelungenen Aufführung von Shakespeares Lustspiel „Die klugen Weiber von Windsor“. Aber jetzt betrachtete er abwechselnd die Frauen und ihre entschlossenen und gleichzeitig etwas unsicheren Gesichter und hörte auf die Gesprächsfetzen. Schließlich fragte er ganz spontan: Was soll das eigentlich heißen: „Denen werden wir es zeigen...“?

Sokrates muss mit dieser Frage eine gewisse Blockade gebrochen haben, denn nun begann es aus den Frauen hervorzusprudeln:

Die Frauen (abwechselnd und auch gleichzeitig): Unsere Männer sind wieder einmal zu dem bündischen Gelände gefahren... Wir sollten wie üblich zu Hause bleiben... Immer dasselbe bei diesen verheirateten Wandervogel-Männern... Denen werden wir es jetzt zeigen... Wir sind doch keine Heimchen am Herd, die froh sein müssen, wenn die Familienoberhäupter wieder mal zu Hause sind... Wir sind genau so gute Wandervögel wie unsere Männer...

Sokrates (kommt sich etwas überfordert vor von diesem Redeschwall und hebt die Hände): Jetzt aber bitte etwas der Reihe nach, denn bisher weiß ich noch nicht, worum es geht. Ich merke nur, dass ihr eine ziemliche Wut mit euch herum tragt und zu etwas fest entschlossen seid.

Die Frauen (jetzt etwas geordneter abwechselnd): Also wir hier sind die Ehefrauen bzw. die Lebensgefährtinnen von Wandervogel-Männern... Seid wir sie kennen, verschwinden sie alleine regelmäßig an Wochenenden oder in ihrem Urlaub für etwas länger zu bündischen Treffen und Fahrten... Dann kommen sie nach Rauch und Feuer stinkend wieder zurück und geben uns ihre Klamotten zum Reinigen... Gefragt werden wir nie, ob wir mit diesem regelmäßigen Eheurlaub einverstanden sind... Oder ob wir auch mit wollten... Mein Mann macht es ab und zu sogar so, dass er wartet bis ich eingeschlafen bin, dann zieht er heimlich seine Wandersachen an und geht zu einem nächtlichen Singetreffen ... Mein Mann verschwindet freitags einfach wortlos...

Sokrates (er beginnt allmählich zu ahnen, worum es geht): Euere Männer sind also weiterhin seit ihrer Jugend begeisterte Wandervögel und fahren weiterhin regelmäßig zu bündischen Treffen, ohne euch mitzunehmen oder wenigstens zu fragen, ob ihr mit wollt. Das ist einerseits für eine Frau enttäuschend, aber es gibt auch bedeutend unglücklichere Frauen, deren Männer mehr oder minder heimlich Gasthäuser besuchen... Und jetzt wollt ihr offensichtlich etwas an dieser Gewohnheit ändern?

Die Frauen (abwechselnd): Ja, das wollen wir... Und das werden wir... Jetzt machen wir Nägel mit Köpfen... Das ändert sich ab jetzt... Denen werden wir es zeigen... Die gehen nicht mehr alleine...

Sokrates: Habt ihr euere Männer denn auch gefragt, ob ihr mit zu ihren bündischen Treffen kommen könntet? Was haben euere Männer dann gesagt?

Die Frauen (teilweise bitter, teilweise entrüstet und abwechselnd): Die dümmsten Antworten haben wir gehört... Völlig unakzeptable Begründungen mussten wir uns anhören... Frauen wären fürs Bündische nicht geeignet... Frauen wären nicht in der Lage, so einfach zu leben... Frauen würden keine echten Wanderklamotten anziehen... Frauen mit Stöckelabsätzen und Schminke passten nicht zum Lagerfeuer... Wandervogel wäre eine Männersache... Frauen könnten nicht bündisch singen... Ein früher bekannter Führer soll gesagt haben, die Weiber würden nur die Atmosphäre verderben... Frauen wären nur zum Kochen, zum Waschen der Wanderkleidung und zum Kinderkriegen da, sonst gehöre dem Mann die romantische Welt...

Sokrates: Gerade die beiden letzten angeblichen Gründe sind ja besonders unhöflich und unfair. Was habt ihr denn jetzt vor?

Die Frauen (entschlossen und abwechselnd): Wir haben uns abgesprochen und folgenden Plan beschlossen: Wir haben uns heimlich, wenn unsere Männer wieder auf Fahrt oder auf Singetreffen waren, passende Wanderkleidung gekauft... Einschließlich guter Wanderschuhe, Gürtel, Fahrtenmesser, Rucksäcken und Schlafsäcken... Dann haben wir uns solche Halstücher genäht, wie unsere Wandervogelmänner sie tragen... Und wir haben uns Wandervogel-Baretts genäht... Und dann haben wir wiederholt unsere Sachen getestet...

Sokrates: Was heißt getestet?

Die Frauen (abwechselnd): Zuerst sind wir in unseren Wanderkleidern einfach mal wandern gegangen... Dann haben wir geübt, wie man ein Zelt aufbaut und ein Feuer macht... Dann haben wir auch einmal an einem Wochenende auf einer Waldwiese richtig gezeltet, so wie unsere Männer erzählen, wie sie es tun... Natürlich haben wir dann auch nach Rauch gerochen, aber wir haben unsere Wandersachen in die Gartenhütte von einer von uns gehängt und haben gesagt, wir hätten gegrillt... Jetzt sind wir ziemlich fit in bündischen Techniken... Auch die bündischen Grußformen haben wir eingeübt... Denen werden wir es richtig zeigen...

Sokrates: Ihr wollt also eueren Wandervogelmännern ebenbürtig werden. Wenn ich mich richtig erinnere, singen die bei ihren Treffen aber die halbe oder ganze Nacht. Da werdet ihr nur dabei sitzen und die Lieder nicht kennen und nicht mitsingen können.

Die Frauen (stolz und abwechselnd): Auch daran haben wir gedacht... Wir haben uns heimlich die bündischen Liederhefte unserer Männer kopiert, haben uns dann heimlich zu Singestunden getroffen... Und einige von uns haben sich Gitarren gekauft und Unterricht genommen... Wir haben einen alten Wandervogel als Lehrer gefunden, der uns das richtige bündische Singen beigebracht hat... Mittlerweile sind wir auch fit im bündischen Singen und Gitarrespielen... Denen werden wir es zeigen...

Sokrates: Und jetzt wollt ihr einfach dorthin gehen, wo euere Männer sich getroffen haben, und wollt sie überraschen.

Die Frauen (abwechselnd): Genau das wollen wir... Überraschen ist noch sanft ausgedrückt... Denen werden wir es zeigen... Wir kommen mit einem zünftigen Lied zur Gitarrenbegleitung einfach mitten in das Treffen einmarschiert... Und dann setzen wir uns genau in die Mitte und singen die ganze Nacht... Aber so, dass unseren Männern der Mund vor Staunen aufsteht...

Sokrates: Und habt ihr keine Angst, dass euer Plan doch nicht so abläuft, wie ihr es euch vorgestellt habt? Die traditionelle Zurückhaltung der Bündischen gegenüber der Teilnahme von Frauen an bündischen Treffen ist über Jahrzehnte hin verkrustet.

Die Frauen (etwas unsicher, dann entschlossen und abwechselnd): Diese Zurückhaltung, wie du es so höflich ausdrückst, ist allerdings Jahrzehnte alt... Aber das kann so nicht bleiben... Wir werden dieses verkrustete Denken aufbrechen... Ab heute wird die bündische Welt anders...

Mittlerweile war der Zug an der kleinen Haltestelle im Grünen angekommen und Sokrates und die Wandervogelfrauen stiegen aus. Direkt neben dieser Haltestelle befindet sich ein Wander-Parkplatz mit einigen einfachen Holzbänken und Holztischen. Dort warteten bereits einige weitere Frauen in ähnlicher Kleidung und mit ähnlichem Gepäck, die offensichtlich mit dem Auto dorthin gefahren waren. Es gab ein lautes Begrüßen und Zurufen.

Die bereits wartenden Frauen: Horridoh, Ayen, gut Pfad... Jetzt sind wir fast 3 Dutzend mutige Frauen... Ab heute wird die bündische Welt anders, nein reicher... Seid ihr auch so gut vorbereitet wie wir?

Die Wandervogelfrauen aus dem Zug (abwechselnd): Horridoh, Ayen, gut Pfad...Wir sind so vorbereitet wie ihr... Jetzt kann es losgehen... Denen werden wir es zeigen... Ab heute Abend wird die bündische Welt anders... Wir Frauen können genau so gute Wandervögel sein wie unsere Männer...

Eine der wartenden Frauen (offensichtlich die Gruppensprecherin der heutigen Aktion): Wir haben schon einmal heimlich das bündische Treffen beobachtet. Unsere Männer sind schon da. Wir singen jetzt noch einmal das Lied, mit dem wir mitten in das Treffen einmarschieren. Bitte singt alle mit.

(Sie nimmt ihre Gitarre von der Schulter und stimmt das Lied an: „In die Sonne, die Ferne hinaus...“. Die Wandervogelfrauen singen laut mit).

Sokrates (klatscht Beifall): Das hat wirklich gut geklungen, damit könnt ihr Eindruck machen. Das war eine gute Idee von euch. Ich wünsche euch vollen Erfolg.

(Dann leise vor sich hin): Diese Frauen werden Erfolg haben... Die Männer werden staunen...Das bündische Leben ist offensichtlich nicht nur eine Männersache...

Dann sieht er zu, wie sich die Wandervogel-Frauengruppe in Bewegung setzt. Sie haben die Rucksäcke über dem Rücken und die Gitarren über der Schulter und sehen genau so zünftig aus wie ihre Wandervogelmänner, die vor einigen Stunden von diesem Wanderparkplatz denselben Weg gezogen sind.

Sokrates (leise vor sich hin): Heute Abend wäre ich gerne dabei, wenn den Männern der Mund aufsteht und sie das Singen vergessen. Denn so wird es kommen...

(Verfasst von discipulus socratei, dem Sokrates einige Tage später diese Begegnung erzählte, und nach einem Zeitungsbericht, der in der Lokalpresse erschien und den Zug der mutigen Wandervogel-Frauen ins bündische Männerlager in Wort und Bild beschrieb. Denn eine der Wandervogelfrauen war im Nebenberuf eine Lokalredakteurin)

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.05.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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