Hella Schümann

Ein glückliches Ende

Viele Leute machen eine Hochzeitsreise, ich fand eine Scheidungsreise genau so angebracht. Meine Ehe war die Hölle gewesen, wie man so schön sagt, ich war die Sklavin meines Mannes. Nie konnte ich eigene Wünsche und Ideen verwirklichen. Dreimal in dreizehn Jahren unternahmen wir zusammen eine Tagesfahrt nach Norderney, da wir uns keinen Urlaub leisten konnten. Das Urlaubsgeld ging für die Zigaretten und Spirituosen meines Mannes drauf. Als ich mich dann von meinem Mann getrennt hatte, beschloss ich also, meinen Scheidungsurlaub auf Norderney zu verbringen, denn trotz der Tagesfahrten kannte ich von Norderney fast nur die Kneipen am Rand des Spazierweges. Jetzt wollte ich die Insel richtig kennen lernen und einen Schlussstrich  ziehen unter 13 Jahren Ehe. Norderney war ein Teil meiner Ehe gewesen, es war ein Kurztrip mit viel Stress und Angst.

Eigentlich fürchtete ich mich davor, jetzt allein zu verreisen und acht Tage nur auf mich gestellt zu sein, doch es wurde ein schöner, erholsamer Urlaub.Ich hatte eine Busreise nach Norderney gebucht. Der Bus war die erste positive Überraschung, ein sehr komfortabel ausgestatteter Doppeldecker. Unten beim Fahrer konnte man an kleinen Tischen sitzen und etwas trinken, es sah aus, wie in einem Café. Die Fahrgäste saßen alle oben. In der vordersten Reihe, da wo unten der Fahrer seinen Platz hat, standen  zwei Frauen auf, um eine Tasse Kaffee zu sich zu nehmen. Da rief ein kleiner Junge ganz entsetzt: „Wer fährt denn jetzt? Da sitzt ja keiner mehr am Steuer." Es dauerte lange, bis er begriff, dass der Fahrer unten sitzt.

Kurz darauf  übergab sich direkt hinter mir ein Junge. Ihm war so schlecht, dass er immer wieder fragte: „Dauert die Fahrt noch lange?"  Und: „Ist die Rückfahrt genau so lang?"Als ich dann in Norddeich die Fähre bestieg, war kein Wasser da. Da will man mal einmal eine längere Schifffahrt unternehmen und freut sich auf den Blick ins Wasser, die kleinen plätschernden Wellen und dann so etwas.  Zum Glück gibt es ja eine Fahrrinne nach Norderney. Das Schiff füllte sich immer mehr, ich kam mir vor, wie in einer Ölsardinendose. Neben mir sprach jemand aus, was auch ich  gedacht hatte, nachdem gerade das Fährschiff Estonia gesunken war: „Dürfen die eigentlich so viele Passagiere mitnehmen?"          

Ich hatte mich darauf verlassen, dass im Hafen von Norderney ein Transfer zum Hotel organisiert war, doch als ich mich danach umschaute, konnte ich nichts entdecken. Viele Leute bestiegen die Taxen am Hafen. Ich wollte nicht schon gleich am Anfang der Reise großzügig mit meinem bisschen Urlaubsgeld umgehen, so habe ich mich in den Bus gesetzt, der mich fast bis zur  Hoteltür brachte. Wie gut, dass mein neuer Koffer Rollen hat. Da ich noch nicht in mein Zimmer konnte, war mein erster Gang zum Wasser. Ich hatte mich so darauf gefreut, den endlosen Strand entlang barfuss zu laufen, doch die Muscheln, die wie gesät am Boden lagen, stachen so sehr in meine Füße, dass ich schließlich die Schuhe wieder anzog.

Abendstimmung lag über dem Meer, es war wieder Ebbe. Ein Kind saß einsam am Strand und spielte im Sand. Der einzige Lenkdrache der am Himmel seine Bahnen zog, stürzte plötzlich direkt auf das Kind und da der Drachenbesitzer versuchte, den Drachen wieder hochzuziehen, sah es aus, als kämpfte er mit dem Mädchen. Er hackte wie wild auf  ihm herum.

Das Abendessen bekam ich kaum hinunter, da ich mittags schon Matjessalat mit Speckbratkartoffeln gegessen hatte. Die Mahlzeit war lecker, aber auch ziemlich fett. Dann rief Jens, mein neuer Freund, an und wir merkten beide, wie sehr einer den anderen vermisst. Das tut richtig gut. Er war genau in die entgegengesetzte Richtung nach Jagsthausen zur Jagd gefahren. Um 21 Uhr, nach einem langen Strandspaziergang bin ich wieder auf mein Zimmer gegangen und damit war der erste Tag vorüber. Es war ein langer, anstrengender Tag gewesen, von 4 Uhr morgens an war ich auf den Beinen.

Der zweite Tag begann um 6 Uhr mit Kopfschmerzen, es hatte nachts geregnet. Dicke Wolken zogen am Himmel vorüber. Weil es noch so kühl und windig war, bin ich erst statt an den Strand, ins Dorf gegangen und habe viele nette Kleinigkeiten gekauft. Es gibt hier sehr schöne, außergewöhnliche Geschäfte.

Beim Mittagessen hatte ich das ganze Lokal für mich allein. Ich dachte schon, es gäbe nichts zu essen. Schön, wenn man einen eigenen Kellner hat. Um 14 Uhr konnte ich endlich die ersten Sonnenstrahlen am Strand genießen. Der Regen hatte das Meerwasser so abgekühlt, dass ich mich nur mit den Füßen hineintraute. Ein kleines Mädchen kam an den Strand, sie war etwa ein Jahr alt und machte anscheinend ihre ersten Erfahrungen mit dem Sand, denn kaum hatte sie sich gesetzt, da fing sie an, ihre Füße vom Sand zu befreien, erst angelte sie nach dem rechten Fuß und wischte ihn sorgfältig, ja fast penibel sauber, dann den linken Fuß. Da sie aber noch mit ihrem Gleichgewicht kämpfte, steckte

 sie  den sauberen rechten Fuß tief in den Sand. Weil sie beide Füße von dem Sand reinigen wollte, wiederholte sich das „Spiel“ so lange, bis sie schließlich aufgab und alles, was noch aus dem Sand hervorguckte, zuschaufelte.                      

Um 15 Uhr machten kleine Wolken den Wind kalt. So spazierte ich am Strand entlang bis zum Hafen, das war ungefähr eine Stunde lang zu Fuß. Die Fähre legte gerade ab und viele Segelschiffe kreuzten vor der Insel. Ich aß ein Eis und da weit und breit kein Bus in Sicht war, wanderte ich den Weg zurück zum  Hotel.

In einem Geschäft wollte ich mir eine Sonnenbrille kaufen, und fragte den Verkäufer nach dem Preis, mit der Erklärung, dass ich meine Brille nicht zur Hand hätte. Als ich bezahlen wollte, merkte ich, dass ich die Brille die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte. Nachdem ich dem Verkäufer die Brillenhand offenbarte, meinte er hinter vorgehaltener Hand: „Ich sag’s keinem weiter".

Der  dritte Tag begann wieder mit Kopfschmerzen. Von 9 bis 11 Uhr war ich spazieren, erst am Strand entlang und dann, um die Kurtaxe zu sparen hinter den Dünen. Dort sind an jedem Weg zum Strand kleine Häuschen an denen die Kurtaxe verlangt wird. Endlich kam ich zur berühmten „Weißen Düne“, die ich schon von einer Postkarte kannte. Zurück nahm ich den Weg durch den Kiefernwald. Mit einem Mal wurde mir ganz seltsam im Kopf, so dass ich dachte, ich würde gleich umkippen. Mir fiel ein, dass Jens einmal von dem betäubenden ätherischen Kiefernduft gesprochen hatte, das beruhigte mich wieder und ich verließ auf dem kürzesten Weg den Wald. Kaum befand ich mich wieder auf der Straße, ging es mir gleich besser.

Der vierte Tag: Heute Morgen beim Stadtbummel führte mich der Weg zufällig an der Konzertmuschel im Kurpark vorbei, die Musiker stimmten gerade ihre Instrumente. Ich setzte mich also, um ein wenig Musik zu hören. Rechts an  der Muschel hing ein Schild mit der Aufschrift: Wunschkonzert. Als die ersten Töne erklangen, erhoben sich plötzlich rings herum alle Leute von ihren Plätzen. Zuerst dachte ich, das sei die ostfriesische Nationalhymne, doch es klang eher wie ein Kirchenchoral. Ich war fast die einzige, die sitzen blieb. Das kuriose war das zweite Stück, ein Millitärmarsch, denn als ich so durch die Reihen sah, fielen sofort die „altgedienten" Herren auf, ihr Rücken straffte sich  und die Hände und Füße schlugen zackig den Takt zur Musik. Ich konnte so manches Soldatenherz höher schlagen hören. Weiter ging es  mit Lehar und Strauss. Leider fingen meine Kopfschmerzen wieder an, so dass ich nach dem vierten Stück gegangen bin. 

An meinem Tisch im Hotel sitzt eine ältere Dame, die seit Jahren Norderney besucht. Die fragte ich warum die Leute beim Kurkonzert aufstehen. Sie konnte mich auch nicht darüber aufklären, doch sie hatte beobachtet, dass sogar die Besucher, die ganz hinten im Kurpark auf der Bank saßen, sich von ihren Plätzen erhoben. Am fünften Tag lieh ich mir gleich morgens um 9 Uhr ein Fahrrad. Es kostete nur 5 DM für vier Stunden. Es war mir schwer gefallen, mich dazu durchzuringen, ganz allein ein Fahrrad zu mieten und dann damit die Insel zu erkunden. Ich fuhr 3 Stunden lang und es war herrlich: Das richtige Fahrradwetter, heiter bis wolkig. Bis zum Leuchtturm bin ich gefahren, dann ging es leider nur noch zu Fuß weiter durch das Naturschutzgebiet bis zu einem alten Wrack an der Inselspitze. Ich wollte mein Fahrrad nicht allein lassen, so kehrte ich um und fuhr auf dem Deich zurück. Ich fühlte mich nicht recht wohl auf dem schmalen Grad, es fehlte mir das Geländer rechts und links. Es kam mir fast wie ein Drahtseilakt vor. Gerade mal zwei Fahrräder passten nebeneinander und für mich war es jedes Mal ein Balanceakt, wenn mir jemand entgegen kam, zumal ich nicht schwindelfrei bin.Mittags am Strand fütterte ein Mann die Möwen und hielt dabei immer ein Stück Brötchen in die Höhe. Die Möwen pickten es ihm aus der Hand. Viele Möwen kreisten mit großem Geschrei um seinen Kopf, oder zankten sich um einen großen Brocken. Dann war die Fütterung zu Ende und gleich verteilten sich die Möwen wieder am Strand.

Eine ältere Frau saß im Sand und aß ein Brötchen, da flog eine Möwe im Sturzflug auf sie zu und schnappte das Brötchen aus ihrer Hand.Das kam sogar für die Zuschauer überraschend und sah gefährlich aus, denn die Möwen sind hier so groß wie Zwerghühner.

Es ist der sechste Tag und heute scheint zum ersten Mal auch morgens die Sonne.Wie jeden Morgen war ich schon um6 Uhr wach und da es erstab 8 Uhr Frühstück gibt, habe ich ein bisschen ferngesehen. Nach dem Frühstück saß ich bis mittags auf einer Bank, habe gelesen und mich mit verschiedenen Leuten unterhalten. 

Nachmittags suchte ich vom Hafen aus die Wege auf, die ich vor Jahren mit meinem Exmann  zurückgelegt hatte und versuchte damit diese schlechte Erinnerung loszuwerden. Damals waren wir am Hafen an den bunten Bojen  entlang durch eine riesige Mulde gegangen. Sie hat mich ein bisschen verwundert, denn sie machte einen schlechten Eindruck. Wie eine geräumte Müllhalde sah sie aus. Diesmal konnte ich die Mulde nicht wieder finden und dachte schon, mein Gedächtnis hätte mich im Stich gelassen, bis ich merkte, dass dort eine riesige Bucht entstanden ist, mit  Segelbooten und Surfern. Ich fand sogar die Lokale wieder, bei denen wir Station gemacht hatten. Mir wurde klar, wie sehr ich damals gelitten hatte, wir besuchten diese schöne Insel und ich sah nur die Lokale. Ich wusste nicht einmal, dass es auch einen Ort auf Norderney gibt. Diesmal war alles anders, endlich konnte ich nach meinen Wünschen die Insel erkunden, ohne die Angst, dass wir wieder von einer Kneipe in die andere zogen. Ich konnte nach Herzenslust fotografieren, ohne dass jemand meckerte. Ich fand ständig neue Motive. 64 Fotos habe ich geknipst. Fast drei Stunden war ich unterwegs, jetzt ist es meine Insel geworden. Obwohl ich immer allein unterwegs war, habe ich mich hier sehr wohl gefühlt. Abends am Hafen ging die Sonne unter wie im Bilderbuch.

Der siebte Tag: Um 9 Uhr war ich schon unterwegs, erst zum Kurhaus, dort habe ich so lange am Brunnen gelesen, bis sich zwei schwatzhafte Frauen zu mir setzten, sie redeten pausenlos aneinander vorbei. So bin ich an den Strand gegangen und habe mich eine Stunde lang  gesonnt. Bis 11 Uhr war ich ganz allein am Strand, dann kamen hier und da ein paar Leute. Mittags standen zwei Herren vor dem Hotel und verabschiedeten sich. Der eine sagte: „Gute Reise und weiterhin erfolgreiche Geschäfte." Darauf der andere: „Ich mache gar keine Geschäfte."

Am Strand  spazierte ein vierjähriges Mädchen neben seinem Vater her. Der Vater warnte das Kind: „ Halt die Brezel fest, guck mal, die Möwen lauern schon." Das Kind daraufhin: „Ich steck sie unter mein Hemd.“Ich fand eine Nachricht in meinem Fach, die erste und einzige: Herr W. kann nicht anrufen, er ist zur Jagd. Der Hotelchef fragte mich, ob ich mit der Nachricht etwas anfangen könne, er hätte leider den Namen nicht verstanden. Nun, es war eine Nachricht von Jens, er hat einen schwierigen Nachnamen. Abends habe ich allein Abschied von der Insel  gefeiert, mit echtem ostfrie-sischem Tee auf Stövchen. Der Tee bekommt kleine Wölkchen, wenn man die Sahne hineingießt. Später saß ich eine halbe Stunde am Meer und sah einen wunderschönen Sonnenuntergang. Solche Farben müsste man mischen können: Das Meer schimmerte hinten mittelgrau, ging dann in türkisgrau über und vorne legte die Sonne einen orangegoldenen Streifen. Die Schaumkronen leuchteten in hellblau und die Wasserlachen, die die Wellen hinterließen färbten sich rosa. Heute ist der achte und letzte Tag. Morgens habe ich schon meine Reisekleidung angezogen, obwohl ich den Ort erst um 16 Uhr verlassen muss, doch das Hotelzimmer sollte um 10:30 Uhr geräumt sein. Ich würde noch ein wenig bummeln gehen. Das Mittagessen nahm ich in dem Lokal ein, in dem ich am ersten Tag Kaffee trank. Es gab ganz frische Krabben mit Spiegeleiern, sehr lecker. Um 16:08 Uhr fuhr der Bus zur Fähre ab.

Ich habe hier auf der Insel alles getan, was ich mir vorgenommen hatte. Ich bin sehr glücklich darüber, dass sich mein anfänglich beklemmendes Gefühl verloren hat. Ich habe die Insel für mich erobert.

Das Kapitel Norderney, eine Station meiner Ehe, hat sich  für mich erledigt.

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.05.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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