Kerstin Köppel

Der Igel

Letzten Mittwoch fuhr ich wie so oft nachts durch das Märchenland, eine Kleingartenkolonie in Berlin- Weissensee, und, von dort auf die Malchower Chaussee. Plötzlich fiel mir etwas auf. Lag da jemand auf der Straße und schlief? Ich kniff die Augen zusammen, obwohl ich wusste, dass sich meine Augenmuskeln davon nicht angesprochen fühlen würden, unbewusst, aus Gewohnheit und nicht um schärfer zu sehen. Es war nicht viel mehr als ein Schatten. Er bewegte sich nicht. Vielleicht ist es nur ein alter ausgetretener und weggeworfener Schuh, dachte ich, oder ein toter Hund, eine Katze oder Ratte. Ein Betrunkener würde seine Fahne wehen lassen, kombinierte ich, wobei, meinen Sinnen, die begonnen hatten, sich von mir scheiden zu lassen, nicht zu trauen war. Unheimlich! Vielleicht ist es ein Verletzter, der meine Hilfe benötigt. Da meine linke Kniescheibe verrutscht, wenn nicht gar abhanden gekommen zu sein schien, ließ ich mich entschlossen vom Rad auf einen Bordstein gleiten, als ich bemerkte, dass mein Standbein, das linke, beim Versuch anzuhalten und abzusteigen, nachgab. Mein Herz hämmerte hart gegen meine Brust, aber da es regelmäßig schlug, hielt ich dies für ein gutes Zeichen. Da ich immer noch nichts sah, ging ich langsam und in einem großen Bogen um das Objekt meiner Aufmerksamkeit herum und sprach es beherzt an, aber es erfolgte keinerlei Reaktion. Unhöflich befand ich. Oder tot. Als ich mich unmittelbar über das fremde Wesen beugte und es dabei streifte, entpuppte es sich als ein Igel, was die verbale Kommunikationsverweigerung erklärte. Vielleicht folgte er dem Ruf des Weibes und wollte deshalb über die Chaussee, fragte ich mich laut. Er denkt sicher, auf der anderen Seite seien die Wiesen grüner und die Frauen feuriger. Ich teilte dem Igel mein grundsächliches Verständnis seiner angenommenen Situation mit und bot mich ihm als Art Verkehrsmittel an. Bei Überprüfung der vitalen Parameter meines potentiellen Passagiers, stellte ich einen gesunden Puls und Herzschlag fest und jede Menge Parasiten, ein süßes kleines Näschen und keine fehlenden Stacheln, die sich im übrigen wie Nägel in einem Nagelbett in meine Hände bohrten. So ein wehrhaftes kleines Tier, wunderte ich mich, dass auf jegliche Bewegung in seinem Umfeld mit „totstellen“ reagiert. Obwohl diese Methode Entwicklungstechnisch erklärlich ist, ist sie doch gänzlich unzureichend, vor allen Dingen, wenn große Laster über die Malchower Chaussee rollen, und man auf dergleichen liegt, aber das sagte ich ihm nicht, denn ich wollte nicht die Besserwisserin heraushängen lassen, wohlwissend, dass auch ich mich manchmal „totstelle“. Entwicklungstechnisch. Oder auch nicht. Ich hob das Tier hoch und brachte es auf die andere Straßenseite und stellte fest, dass sein Programm „totstellen“ herunterfuhr und „zusammenrollen und Stacheln zeigen“ hoch. Ich versuchte den Schmerz zu unterdrücken und, drüben angekommen, sah ich bedauerlicherweise weit und breit kein Weib, kein Igelweib. Dennoch setzte ich „Borstel“ erst mal ab und zog seine Stacheln aus meiner Hand. Der Igel muss zu einer ähnlichen Einschätzung der Situation gekommen sein, denn er rannte schnurstracks wieder auf die Chaussee und zog genau da die Handbremse, wo ich ihn gefunden und mit ihm Kontakt aufgenommen hatte. Da es inzwischen hell geworden war und ich Hunger bekommen hatte, wurde ich etwas unwirsch und meinte zu dem Igel, sein derzeitiger Parkplatz, sei, wenn auch noch so schön, lebensgefährlich. Selbst wenn Erdöl unter ihm gelagert wäre bzw. Regenwürmer, dem Boden der Duft der großen weiten Welt anhaftete oder der der Frauen, endschied ich kurzerhand, das Stacheltier noch einmal kostenlos abzuschleppen und nicht eher zu ruhen, bis auch er endlich schliefe, an einem süßen Ort, mit oder ohne Familie, in jedem Fall in einem erdigen Nest, von Blättern umgeben und wenn es sein muss auch von Regenwürmern, die ich bereit wäre zu fangen. Auch versprach ich, sozusagen als letzte Amtshandlung, seine Frau oder Geliebte anzurufen, wenn er nur von der Straße verschwände, denn jetzt sei Schlafenszeit, fügte ich noch unmissverständlich hinzu. Ich nahm ihn vorsichtig hoch, er grunzte freundlich und ging einige hundert Meter in den Weg zwischen den Gärten der KGK „Märchenland“ hinein, suchte Laub und, wie versprochen, Regenwürmer und verabschiedete mich, nicht ohne einen letzten Blick auf meinen Schützling geworfen zu haben. Hör ich es schon wieder rascheln? Nein, er schläft. So leise wie möglich verließ ich das Gemach meines kleinen Freundes. Bis morgen, flüsterte ich noch. Wenn ich mein Fahrrad wiederfinde.

... kannst du bitte eine kurze Meinungsäußerung ablassen? Danke. KerstinKerstin Köppel, Anmerkung zur Geschichte

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