Daniel Knecht

Das Koma.

Tick, tack, tick, tack. Ich höre dieses Geräusch schon zum tausendsten Mal. Ich blicke auf den grauen Boden. Tick, tack, tick, tack. Es ist immer das Gleiche. Alles. Ich schlafe, ich esse und dann sitz ich hier. Immer die gleiche Uhr, immer der gleiche Flur und immer die gleichen Ärzte, die mal in dies, mal in das Zimmer gehen. Ich konnte nicht mehr bei meiner Tochter sein. Ich konnte nicht mehr ihr blasses mageres Gesicht sehen, nicht mehr an ihrem Bett sitzen. Vor einer Woche war sie ins Koma gefallen. Ich kann nicht fassen, vor ein paar Wochen noch geglaubt zu haben es könnte wieder alles wie früher werden. Nichts war wie früher. Ich hatte meinen Job verloren und ich redete kaum mehr mit meinem Mann. Unsere Beziehung war schon kaputt. Wenn wir redeten dann nur noch über unsere Kleine. Aber über uns nicht. Er kam sowieso nur noch selten hierher. Wir hatten uns nichts mehr zu sagen.
Schon von Anfang an hatte sich ihr Zustand nur noch verschlechtert. Erst ihre Verletzung, die vielen Operationen, dann das Fieber und das Koma. Es war wie ein Traum. Nichts scheint real. Was mache ich noch hier? Ich sitze hier, kippe einen Kaffee nach dem anderen herunter, vertrete mir im grauen Krankenhausgarten die Beine.
Gestern waren Bekannte und Familie da. Ich scheiße auf ihre hohlen Gesundheitswünsche. Ich will doch nur, dass sie wieder aufwacht. Warum sie? Was hat sie getan, dass sie derart bestraft wird? Ich hasse diese Welt. Ich würde gern in eine andere Welt. Eine realere. Eine bessere. Eine gerechtere. Sie wird nicht mehr aufwachen. Das wissen wir alle. Nur sagt es niemand. Ich habe in ihrem Gesichtsausdruck gesehen wie sie kämpft. Sie will leben. Ich weiß es. Aber sie kann nicht siegen.
Ich frage mich, was die Welt für einen Sinn hat. Hat sie einen? Welchen? Ich verliere meine Tochter. Sie darf nicht sterben.
Ich habe kein Zeitgefühl mehr. Wie lang sitze ich hier schon? Ein paar Minuten? Eine halbe Stunde? Eine Stunde? Ich weiß es nicht.
Ich würde mein Leben dafür geben, dass sie wieder aufwacht. Ich würde alles machen. Ich kann dieses leichenblasse Gesicht nicht mehr sehen, diesen kindlichen Körper. Die Bilder gehen mir nicht aus dem Kopf. Es bricht mir mein Herz. Jeden Morgen wache ich mit Hoffnung und Angst auf. Die Angst überwiegt. Ist das ein inneres Zeichen? Angst, dass sie für immer weg ist. Mich nie mehr mit ihrem zauberhaften Lächeln zum Lachen bringen wird. Ich möchte ihre wunderschönen strahlenden Augen sehen. Sie glücklich sehen, gesund.
Es ist Frühling. Ich sehe nur Regen. Es regnet und es regnet. Wann hört dieser Alptraum auf? Ich will nicht mehr warten. Ich kann nicht mehr warten. Ich erinnere mich immer an ihre letzten Worte, bevor sie ins Koma fiel. „Alles ist gut, ich pass auf.“
Ich sehe die Schwester in das Zimmer meiner Tochter rennen. Was ist los? Ist etwas passiert? Ist sie aufgewacht? Millionen Fragen schießen mir durch den Kopf. Ich will nicht in ihr Zimmer gehen. Wieder ihr blasses Gesicht sehen. Wahrscheinlich ist gar nichts los. Fehlalarm. Ich habe Angst vor dem nächsten Schritt. Ich stehe langsam auf. Gehe zur Tür. Schon vor dem Öffnen der Tür höre ich einen schrillen Ton. Endlich mal ein anderes Geräusch. Kein Ticken, keine Schritte. Ein piepen. Ein durchgehender langer Piepton. Ich fasse keine klaren Gedanken. Ich kann nicht denken. Ich öffne die Tür. Dann hör ich die Stimme der Schwester, die am Bett meiner Kleinen steht. „Sie ist tot.“
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.05.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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