Klaus-D. Heid

Mein bester Freund

Mein bester Freund

Mein Freund heißt ‚Manuel’. Eigentlich ist Manuel gar nicht mein Freund. Genaugenommen ist er nur ein guter Bekannter. Gut? Na ja, eher mittelmäßig gut. Um die Wahrheit zu sagen – ich kenne ihn nur flüchtig, diesen Manuel. Auf jeden Fall habe ich ihn schon mal gesehen, als er an meinem Zimmerfenster vorbeigegangen ist. Woher ich weiß, dass ‚Manuel’ wirklich Manuel heißt? Ich weiß es ja gar nicht. Aber ich könnte mir sehr gut vorstellen, dass er so heißt. Irgendwie sieht er wie ein ‚Manuel’ aus. Er hat schwarzes gelocktes Haar und einen dunklen Teint, der unbedingt spanisch oder portugiesisch wirkt. Er könnte auch Südamerikaner sein. Vielleicht ist er auch Grieche? Wenn er aber Grieche ist, heißt er nicht Manuel. Ich will aber, dass er Manuel heißt! Ich will es! Ich will auch, dass er mein Freund ist.

Das ich ihn gesehen habe, ist nun fast einen Monat her. Ein Monat! Dreißig Tage. Dreißig Nächte. Endlose Stunden, in denen ich mit Manuel über hunderttausend Sachen geplaudert habe, ohne ein einziges Wort mit ihm gesprochen zu haben. Wir haben uns nicht einmal gestritten. Es waren wirklich sehr harmonische, fast liebevolle, Gespräche. Ich bin davon überzeugt, dass er mich sehr mag. Er mag mich bestimmt so, wie ich ihn mag. Zumindest ist er gerne mit mir zusammen. In meiner Phantasie sehnt er sich sogar danach, bei mir zu sein. Manchmal verbringen wir Stunden damit, uns nur in die Augen zu sehen. Manuel weiß genau, was ich sagen will. Ich muss es nicht erst mit Worten sagen. Er weiß es einfach...

Manuel mag es, dass ich eine schneeweiße Haut habe. Er hat gesagt, dass ich wie eine Schneeflocke aussehe. Als ich erst etwas böse wurde, weil ich dachte, dass er damit meinte, wie pummelig ich aussehe, hat er mich ganz zärtlich auf die Schulter geküsst. Es war das erste Mal, dass ich Manuels Lippen spürte. Manuel findet auch, dass ich wunderschöne Augen habe. Ich selbst finde allerdings, dass meine graugrünen Augen nicht so hübsch sind. Sie passen irgendwie nicht zu mir. Aber was soll’s. Manuel findet sie schön. Jedenfalls würde er sie schön finden, wenn wir uns einmal in die Augen sehen könnten. Im wirklichen Leben, meine ich. Real.

Wie alt Manuel ist? Ich kann’s ja nur schätzen – aber ich denke, dass er etwa in meinem Alter sein müsste. Ich? Ich bin siebzehn Jahre alt. Meine Name ist übrigens Manuela. Ist das nicht hübsch? Manuel und Manuela? Klingt ein bisschen wie der Titel eines Liebesromans, oder? Schnulzig? Na und? Schnulzen sind meistens so herrlich romantisch. Man kann in ihnen versinken, ohne an den Alltag denken zu müssen. In Schnulzen gibt’s fast immer ein wunderschönes Ende. Sie liebt ihn. Ein klein wenig Probleme und Unwegsamkeiten – aber letztendlich bekommen sich die Beiden doch. In den letzten Zeilen einer Schnulze liegen sie sich dann schmachtend in den Armen, küssen sich und sind fortan glücklich, bis ans Ende ihrer Tage.

„Manuela...!“

Bitte verzeihen Sie. Meine Mutter ruft mich. Mama ruft mich immer, wenn ich ungestört sein möchte. Ob alle Mütter dieses Gefühl dafür haben, wann sie stören? Ob sie’s mit Absicht gerade dann tun? Ob alle Mütter sich einen Spaß daraus machen, ihren Töchtern die Stimmung zu verderben? Genaugenommen ist Mama gar nicht so schlecht. Gut – sie ist etwas oberflächlich und grobgeschnitzt. Sie hat eben nicht das gewisse Einfühlungsvermögen, um zu wissen, wann ich gerne ungestört bin.

„Post, Manuela. Ist schon wieder von diesem Manuel! Ich möchte nicht, dass das Überhand nimmt, verstehst Du? Mir wäre es viel lieber, wenn Du ihn einfach mal zum Essen einlädst. Was ist? Willst Du ihn nicht mal fragen...?“

Natürlich werde ich ihn fragen. Ich habe ihn ja schon längst gefragt. In meiner Phantasie. Und Mama muss auch nicht wissen, dass ich mir selbst die Briefe schreibe, die ich von Manuel bekomme. Sie würde es – glaube ich – nicht verstehen. Mama weiß ja auch nicht, dass es zwischen mir und Manuel längst gefunkt hat. Sie ahnt ja gar nicht, was bereits alles passiert ist, wenn ich mit ihm alleine war. Ist auch besser so. Mama meint, dass ich noch nicht ‚reif genug’ für ‚Sie wissen schon’ bin. Ich sehe das nicht so. Ich weiß, dass ich durchaus reif genug für ‚eben das’ bin.

„Ja, Mama... ich werde ihn fragen. Ganz bestimmt...!“

Und jetzt werde ich Manuels Brief lesen. Ich bin gespannt, was er mir geschrieben hat. Ist’s nicht schön, wenn man sich so über den Brief eines guten Freundes freuen kann? Leider kann ich nun nicht mehr mit Ihnen plaudern. Ich möchte jetzt ein bisschen ungestört sein. Sie verstehen doch, oder...?

Warum ich diese Geschichte geschrieben habe? Tja... vielleicht weil ich Einsamkeit und Phantasie verbinden wollte. Vielleicht auch, weil ich an jemanden dachte, der sich sehr oft in Scheinwelten flüchtet, die ihm zwar nicht die Realität ersetzen, aber die Realität angenehmer ertragen läßt... Klaus-D. Heid, Anmerkung zur Geschichte

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