Steffen Lenk

Hotel Hughes

Der Tag begann unspektakulär. Vielleicht war es gerade dieses Gefühl, welches das Schicksal herausforderte.

Mein Arbeitsplatz ist ein feines Hotel. Unter seinem Dach gibt es mehr als 1000 Zimmer für seine Gäste, verteilt auf mehr als 50 Stockwerke. Es steht im Mittelpunkt des pulsierenden Lebens einer Weltmetropole, es ist immer geöffnet, zu jeder Tages und Nachtzeit, im Sommer wie im Winter. Sein Ruf besteht hauptsächlich darin, generell jede bekannte Form von Luxus zu bieten, und das gilt für alle Kategorien der Unterkünfte. Dieses Konzept sorgte über einige Jahrzehnte geblickt für großen Erfolg. In nahezu jeder Hauptstadt auf diesem Planeten steht mittlerweile mindestens eines unserer Bauwerke, von denen einige die höchst mögliche Bewertung von den selbst strengsten Kritikern erhielten. Das führt natürlich dazu, dass wir oft sehr prominente Gäste beherbergen. Prominente Gäste können genau so einfache Leute wie Du oder ich sein, manche von ihnen reflektieren jedoch eine Lebensweise und Ansichten, die undurchschaubarer nicht sein könnten. Ich denke, die meisten von ihnen tun dies nicht einmal mit Absicht, sie sind viel eher Opfer ihrer Zeit, ihrer Aufgaben und wie könnte ich es vergessen: Ihrer Selbstverliebtheit.

Nachdem ich mich wie immer umgezogen hatte, betrat ich das Büro meines Vorgesetzten, wo es allmorgendlich zu einem kurzen, in lockerem Ton geführten, aber doch taktischen Gespräch kommt, jedenfalls ist dies so üblich. Mein Boss schien an diesem Morgen alles andere als von lockerer Atmosphäre geprägt zu sein.

„Anna, wir haben über Nacht Gäste einer sehr kurzfristig geplanten Klimakonferenz bekommen. Der Präsident persönlich hatte sie einberufen, die Regierung selbst mietet im Moment das gesamte Hotel. Außer den Vertretern der Konferenz und einigen Reportern sind keine weiteren Gäste hier, dennoch sind wir zu hundert Prozent voll. Die Teilnehmer der Konferenz sind Präsidenten, Könige, Lords, Großindustrielle und die Eigentümer von Weltkonzernen. Die Reporter haben den Auftrag so detailliert wie möglich zu berichten, es wurde auf dem Dach sogar eine temporäre Satelliten Uplinkstation für die zahlreichen Live Übertragungen errichtet. Die ganze Welt schaut in diesem Moment auf uns hier.“

„Wow. Das ist ja heftig, Boss. Dann geben wir mal unser Bestes.“

„Außer Dir fehlt heute ohne Ausnahme jedes Mitglied des Hausreinigungspersonals. In so kurzer Zeit konnten wir zudem auch noch keinen Ersatz von Außerhalb organisieren.“

„Ww.. Was?“

„Alle sind krank. Der Grund ist wohl eine neue Grippewelle.“
Mein Boss schluckte. Es war klar zu sehen, dass seinen Worten zahlreiche Sorgen vorausgegangen waren. Ich wusste gar nicht was ich als Nächstes fragen oder anmerken sollte, da fügte er weitere Details hinzu, die ich rückblickend lieber nicht gehört hätte.

„Anna, mir ist zu Ohren gekommen dass die meisten unserer prominenten Gäste eine Tendenz zur Sauberkeit haben, um es mal so auszudrücken.“

„Was genau meinen Sie damit?“

„Hygiene ist ihr höchstes Heiligtum, es ist beinahe wie eine religiöse Überzeugung, das wichtigste Fundament ihrer Leben. Wann immer sie später von ihrem Aufenthalt hier berichten, so gaben sie mir deutlich zu verstehen, wird dies das erste Merkmal sein, welches sie wortreich zentralisieren. Einige davon sagten mir, sollten sie mit uns unzufrieden sein, wird an Stelle unseres Hotels hier in einem Monat ein Stadtpark sein!“

Wir tauschten von da an nur noch wenige Worte aus, dann begann ich meine Pflicht auszuüben. Drastische Aussagen, wie jene, die mein Boss zitierte, haben nach meiner Erfahrung kaum Ernsthaftigkeit, sie dienen mehr als Stilmittel, darum gelang es mir im Dienstaufzug nach oben auch, mich zu beruhigen. Es könne sehr gut sein, dass maßlos übertrieben wurde, von allen Beteiligten, den Gästen wie auch von meinem Boss.

Ich stand im Flur des 31. Stockwerks. Ich musste meinen Hotelausweis den Bodyguards vor der ersten Tür separat zeigen, da sie ihre Standposition nicht um einen Zentimeter verlassen durften. Ihre schwere Bewaffnung machte mir nicht so viel Angst, wie das, was mich wohl hinter der Tür erwarten würde. Ich redete mir ein, dass wer auch immer den Raum bewohnt, wohl sehr beschäftigt sein würde und meine Präsenz als weder wichtig noch besonders bewusst wahrnehmen werde.

Ich öffnete die Tür.

Vor mir stand ein älterer Herr in einem sehr feinen, dunklen Anzug. Er machte den Eindruck als hätte er seit Ewigkeiten nicht mehr gelächelt. Sein Gesicht war von vielen Falten gezeichnet, er hatte weißes Haar und eisblaue Augen. Er starrte mich mit ihnen an ohne den Gesichtsausdruck auch nur für eine Sekunde zu ändern. Ich schien im Mittelpunkt seines Interesses zu sein.

„Junge Dame, ich bin überrascht dass sie nicht früher hier sein konnten. Außerdem will ich dass sie sich waschen, bevor sie mit ihrer Arbeit beginnen. Das Badezimmer meines Assistenten im zweiten Stock, Zimmer 2292 wurde für sie vorbereitet. Muten Sie mir nicht weitere unnötige Verzögerungen zu und seien Sie in nicht mehr als 9 Minuten und 24 Sekunden wieder hier wo Sie im Moment stehen.“

Der Mann drehte sich einen Sekundenbruchteil nach seinem letzten Satz an mich von mir weg und startete zeitgleich ein Telefonat mit seinem Mobiltelefon.

Ich rannte zurück zum Dienstaufzug. Es dauerte circa eine Minute bis sich seine Türen öffneten, dann betrat ich ihn. Es dauerte weitere 30 Sekunden bis ich im zweiten Stock ankam, meine Armbanduhr permanent im Blickfeld. Zimmer 2292 war am Ende des Flurs, das am Weitesten vom Aufzug entfernte. Die Tür wurde für mich von Innen geöffnet, im selbem Moment als ich anklopfen wollte. Der Herr, der mir öffnete hielt ebenfalls ein Mobiltelefon in der Hand. Ich vermutete dass er wohl mit meiner Begegnung im 31. Stock sprach. Er sagte nichts zu mir, stattdessen wies er mir den Weg zum Badezimmer. Als ob ich nicht genau wüsste wo es wäre, bedankte ich mich bei ihm dafür, was er aber nicht wahrzunehmen schien. Im Badezimmer angekommen warteten 3 Frauen auf mich, die sich untereinander auf russisch verständigten. Sie waren gekleidet wie Krankenschwestern, mit dem Unterschied dass sie alle Schutzmasken und lange Gummihandschuhe trugen. Eine von ihnen hatte Flasche mit einem Schlauch daran, eine weitere hatte einen Besen mit kurzen Borsten und die dritte hielt einen Bleistift und einen Schreibblock in ihren Händen. Die Frau mit dem Besen drehte den Wasserhahn der Dusche auf und sagte etwas zu mir das ich aber nicht verstand. Ihr Tonfall war harsch, ihr Gesichtsausdruck sehr streng. Ich legte meine Kleidung ab. Die Frauen schienen das zu erwarten und nickten mir dabei zu. Ich stellte mich unter die Dusche, wurde mit einer blauen Flüssigkeit eingesprüht, welche schärfer roch als Insektenvertilgungsmittel. Parallel dazu wurde ich mit ihrem Besen abgeschrubbt, in einer Intensität als wäre ich ein schmutziger Boden, der in tausend Jahren nie gereinigt wurde. Die Frau mit dem Schreibblock dokumentierte offenbar währenddessen alles das sie sah. Mit einer weiteren, gelben Flüssigkeit musste ich meinen Mund ausspülen, während meine Haare unter einem Haarnetz komprimiert wurden, dann wurde eine Kappe aus transparentem Plastik darüber gestülpt und mit einem sehr engen Gummiband fixiert. Zeitgleich legte man mir den selben Typ Handschuhe an, den diese Frauen trugen. Ich wurde von allen dreien abgetrocknet und wieder eingekleidet, sofort danach wurde ich aus dem Raum geschickt. Der Vorgang war beides: Furchtbar und wenig zeiteinnehmend, es dauerte 2 Minuten und 14 Sekunden, laut meiner Uhr. Wieder angekommen, im 31. Stock, wiederholte sich diesmal das selbe Bild wie im zweiten Stock: Mir wurde die Tür geöffnet.

„Sie sind endlich hier? Bedenkt man dass Sie bereits mit ihrer Arbeit in dieser Suite fertig sein könnten, sollten Sie froh sein, dass Sie noch einen Job haben. Wenigstens sind Sie nicht unpünktlich. Sie werden mit meinem Bett beginnen. Ich bin damit unzufrieden, da ich bemerkte dass jemand Anderes vor mir darin geschlafen hatte. Der Holzrahmen des Betts hat fünf Kratzer, der längste davon ist drei Millimeter lang. Wissen Sie wie viele Bakterien in so einem Kratzer überleben und gedeihen können?“

„Ähm.. Also ich vermute..“

„Sie vermuten gar nichts. Alles das Sie tun ist das, das ich Ihnen sage. Es gibt keinen Grund weiter herumzustehen, oder wollen Sie hier fest wachsen?!“

„Nein, ich höre Ihnen nur aufmerksam ..“

„Sie haben alles gehört das Sie hören müssen. In maximal 49 Minuten und 58 Sekunden ist dort mein neues Bett. Andere Alternativen sind indiskutabel.“

„Ich werde mich sofort darum ..“

„Und vergessen Sie nicht den Boden unter dem Bett zu desinfizieren, ich will hier nicht an Cholera oder ähnlichem sterben!“

Ich schaffte es, in dem mir gegebenen zeitlichen Rahmen ein relativ neues Bett aus unserem Ersatzteil-Lagerraum an der Stelle seines alten aufzubauen, den Aufzug musste ich vier Mal benutzen um die Teile und die Matratze, welche die Fläche eines 6-Personen Zugabteils hatte, zu transportieren. Der Mann lobte mich im selben Moment als ich das Beziehen seines neuen Betts beendet hatte:

„Sie sind endlich fertig? Von der Farbe dieser Bettwäsche bekomme ich noch Augenkrebs. Ich will dass sie ausgetauscht wird. Jetzt!“

Nachdem all seine Wünsche von mir erfüllt worden, unter Anderem die Reorganisation seines Suite-Interieurs, entließ er mich mit den Worten „Sie sind hier fertig. Raus.“ - Am nächsten Raum anklopfend, denkend, es könne nicht schlimmer kommen, öffnete mir eine Frau, so um die 60 Jahre alt, die Tür. Sie trug einen langen Bademantel aus glänzender Seide, hatte offenbar stark getöntes Haar und meiner Ansicht nach viel zu dick Lippenstift aufgetragen. Sie lächelte mich freundlich an.

„Es freut mich Sie zu sehen. Bitte kommen Sie doch herein.“

Ich betrat den Raum und dachte mir, welch eine Erlösung es sei, auf einen netten Hotelgast zu stoßen. Die Frau reichte mir ein Glas, ich machte eine verneinende Handbewegung dazu.

„Nehmen Sie einen Schluck Wein, Sie sehen so aus als hätten Sie es verdient. Wissen Sie, ich weiß sehr genau was Stress bedeutet. Meine drei Enkelkinder sind ..“

„Uuuuuuuuuuuuuuuuuuuiiiiiiiiiiiiik!!!“, die anfängliche Stille im Raum wurde regelrecht zerfetzt als drei Kinder hinter dem Bett hervor sprangen. Sie hatten sich offenbar wegen mir kurz nach meinem Anklopfen dort versteckt, keines von ihnen war älter als geschätzt 10 Jahre. Zwei von ihnen begannen sofort eine Kissenschlacht, wobei in wenigen Sekunden mehrere Kissen zerrissen und ihr Inhalt, echte Federn, durch die Luft gewirbelt wurden.

Das Dritte nahm eine eher künstlerische Position ein und setzte ein bereits weit fortgeschrittenes Bild fort: An die Wände des gesamten Raums Gesichter zu malen, wofür es flüssige Schokolade benutzte. Die Schokolade war deswegen flüssig, weil das Kind jeden festen Teil davon erst in den Mund nahm und zerbiss. Als Pinsel dienten seine Finger und um auch bis beinahe an die Raumdecke zu kommen, wurden von ihm Stühle und ein Tisch eingesetzt; Möbel welche durch das viele, händische Herumschieben natürlich ebenfalls von oben bis unten voller Schokolade waren. Trotz des Alters der Kinder schienen sie alle nicht zu wissen, wofür ein Badezimmer da ist, denn ihre drei Kinderbetten lieferten einen sehr überzeugenden Beweis für diese Theorie.

Ihre Aufpasserin, die ältere Frau, war inzwischen in jenem, angesprochenen Badezimmer, schloss die Tür aber nicht. So konnte ich sehen, dass sie die Marmorplatte um ihr Waschbecken herum mit kleinen Tablettendosen vollgestellt hatte, massenhaft viele davon. Ich konnte trotz meiner Entfernung dennoch einen beißend scharfen Geruch aus dem Badezimmer wahrnehmen, er war sogar noch stärker als der, den die großflächig verschmierten Fäkalien in den Kinderbetten produzierten.

Die Frau nahm ihr Weinglas und verabschiedete sich bei mir:

„Ich werde jetzt wieder in die Hotelbar gehen. Es gibt sicher noch einige Cocktails aus der Karte, die ich noch nicht probiert habe. Ich habe vollstes Vertrauen in ihre Kompetenz, Liebes.“

Dann verließ sie den Raum, die Kinder und ich blieben darin zurück. Sie ergriffen nun die Gelegenheit mich zu begrüßen:

„Ha, ha! Du blöde Votze! Fick Dich, fick Dich, fick Dich! Ha, ha, ha, ha, ha!“ - „Hihi, wer ist denn die dumme Sau? Muss die das hier alles putzen oder was?“ - „Ja, bestimmt. Ha, ha, ha! Hey Du scheiß Nutte, geh sterben!“

Natürlich reagierte ich auf diese liebevolle Begrüßung der drei Kinder nicht. Während ich das erste Kinderbett aus dem Raum zu schieben versuchte, spuckte der Wandmalerei-Künstler den Inhalt seines Mundes, ein riesiger Klumpen Schokolade, von oben herab auf meinen Kopf. Es war Glück im Unglück dass ich diese Plastikkappe trug.

„Na, noch immer bei der Arbeit?“

Der Hotelgast aus meinem ersten Zimmer an diesem Tag, der ältere Herr, stand vor der geöffneten Zimmertür, diesmal mit einem leicht besorgten Gesichtsausdruck.

„Ja, immer in bestmöglicher Stimmung, auch wenn das zeitweise ein Schwimmen gegen den Strom ist.“

Er drehte sich wortlos von mir weg und ging weiter.
Nach etwa einer halben Stunde hatte ich es geschafft, die Teile des Raums zu säubern, die nicht sofort wieder von den drei Quälgeistern bearbeitet wurden. Es kam mir wie ein Segen vor, dass sie sich dazu entschließen, den Wohnraum zu verlassen und ihr Unwesen auf dem Hotelflur fortzusetzen. Nachdem ich die Wände gereinigt hatte, kam ich mir selbst beinahe übermenschlich vor, da ich es in weniger als 2 Stunden bewerkstelligte, und das obwohl ich trotz sparsamer Anwendung sieben Flaschen Reinigungsmittel und 23 Eimer Frischwasser benutzen musste. Beinahe hatte ich das Badezimmer vergessen, der Grund war wohl das von mir verwendete Reinigungsmittel, welches meinen Geruchssinn betäubte.
Im Badezimmer stehend, sagte mir mein Instinkt dass ich besser nicht die Raumbeleuchtung einschalten sollte. Meine Pflichten ließen mir aber konträr handeln.

Ich war bei dem Anblick unsicher, ob sich die ältere Dame, der hier wohnende Hotelgast, zuerst in zielgenauer Richtung des Spiegels übergab und danach sämtliche, in der Suite verfügbaren Handtücher dazu benutzte, um ihre offensichtlich über einen langen Zeitraum aktiven Körperöffnungen zu säubern. Sie versuchte danach, die Handtücher mit Hilfe der Toilette zu entsorgen, hatte damit aber trotz sichtbar exzessivem Gebrauch der Spülung keinen Erfolg damit. Auch die Toilettenbürste, welche an drei Stellen zerbrochen wurde, änderte offenbar nichts daran. Aus Frustration über ihren Misserfolg muss sie dann den Duschvorgang in einer schnellen Handbewegung heruntergerissen und über die WC-Schüssel gelegt haben.

Der Raum sah so aus, als hätte darin ein Zirkus einen ganzen Sommer verbracht, und damit sind bestimmt nicht seine menschlichen Besucher gemeint. Jedes Schwein auf Gottes Erde muss einen höheren Hygienestandard haben, als jene freundliche Lady, deren verborgenen Eigenschaften nicht polarer zu ihrem Wortschatz sein könnten.

Leider zählt zu meinen Utensilien kein Dampfstrahler, dennoch war ich dazu fähig, dem Raum seine ursprüngliche Funktion wieder zuzuordnen.

Mit einer fast erwartenden Einstimmung klopfte ich an die nächste Tür meines Alltags. Ich vernahm keine Reaktion, darum klopfte ich erneut und fügte ein „Housekeeping!“ hinzu. Wieder keine Reaktion. Ich öffnete die Tür mit Hilfe meiner Universalkarte. Der Raum war beinahe dunkel, die einzigen Lichtquellen schienen vom Hotelgast installierte, ultraviolette Strahler zu sein. Die Fenster waren mit schwarzer, die Wände und der komplette Fußboden, einschließlich der Möbel mit transparenter Plastikfolie überzogen. Es roch wie auf der Intensivstation in einem Krankenhaus. Ich betrat den Raum.

„Was haben Sie angerichtet?! Meine Güte..“

„Ich gehöre zum Hotelpersonal. Haben Sie nicht gehört dass ich geklopft habe?“

Der Mann, der mich ansprach war vollständig nackt. Er hatte wohl etwas gegen seine Körperbehaarung, an nicht einer Stelle seines Körpers war auch nur die Spur eines Haars zu sehen.

„Jetzt ist diese Zone nicht mehr länger unter Quarantäne! Sie .. SIE haben sie konterminiert! Es ist eine Katastrophe!“

Noch bevor ich antworten konnte, griff der Mann zu einer Art Feuerlöscher und richtete ihn auf meine Position.

„Es wird nicht lange dauern, flüssiges Nitrogenium ist das einzig sichere Mittel gegen alle Sorten von Keimen..“

Instinktiv sprang ich in einer Bewegung zurück vor die Tür und zur Seite. Auf dem Boden liegend konnte ich aus dem Augenwinkel sehen, wie ein großer, kräftiger Strahl aus weißem Dunst meinen Rollwagen erfasste, der traditionell genau vor der geöffneten Zimmertür geparkt war. Nach etwa 30 Sekunden anhaltendem Besprühen aus dem Zimmer heraus wurde die Tür von Innen mit einem lauten Knall geschlossen. Mir war kalt. Allerdings war ich noch gut weggekommen, meinen Rollwagen überzog eine weiße Schicht aus Eis und wegen des extremen Temperaturunterschieds dampfte und zischte er. Dank meiner dicken Gummihandschuhe wagte ich es, ihn weiter zu schieben, um zu meinem nächsten Raum zu gehen. Jedoch brach der Stahlgriff des Wagens bei der ersten, geringen Belastung und ich hielt ihn vollständig abgetrennt in meinen Händen. Wegen seiner Kälte ließ ich ihn fallen. Als er an einem der Räder meines Wagen abprallend zersplitterte, verteilte er sich in tausenden Scherben über den Boden.

Wieder tauchte der Mann mit dem kalten Gesichtsausdruck auf, diesmal kam er langsam um eine Ecke und blickte mir erneut genau in die Augen.

„Junge Dame, jeder Mensch, den ich kenne, hätte schon lange aufgegeben.“

„Wir leben wohl in verschiedenen Welten“, erwiderte ich darauf. Ein weiteres Mal verschwand der Herr wortlos.

„Anna! Ich habe Dich überall zwischen dem 27. und 30. Stock gesucht, da ich angenommen hatte, das Du bereits dort tätig bist. Was machst Du immer noch hier auf dem 31. Stock?“

Vor mir stand mein Boss. Sein grauer Anzug war mittlerweile beinahe schwarz, wegen Schweiß. Es war ihm deutlich anzusehen, dass er die letzten Stunden mit Rennen verbrachte. Diese doch etwas speziellen Gäste schienen ihm so viel Geduld abzufordern wie auch mir selbst. Ich dachte, ich sollte ihm gegenüber diplomatisch, aber trotzdem nicht zurückhaltend antworten.

Es vergingen etwa fünf Sekunden Denkpause, dann fasste ich Mut um die Realität beim Namen zu nennen.

„Wie Du, Boss, so versuche auch ich mein Bestes, um etwas Ordnung in dieses Irrenhaus zu bringen. Ich verdonnerte mich selbst zu einer Doppelschicht, denn jemandem Anderes hätte ich das nicht zugemutet. Zur Belohnung durfte ich ein Zimmer von Grund auf neu gestalten, ein weiteres erst frei schaufeln, dann desinfizieren, das dritte war ein filmreifes Musterbeispiel von krankhaftem Sauberkeitsfetischismus und sein Bewohner gab mir gerade eine halbe Minute Feedback, in Form von 200 Grad Celsius unter Null. Warum bin ich noch hier? Ich weiß es nicht. Es muss ein Wunder Gottes sein dass ich hier bin und noch lebe!“

Für einen Moment wusste er nicht was er darauf sagen sollte. Offenbar durchlebte er in diesem Moment den selben Konflikt zwischen Diplomatie und Ego.

„Du bist seit über 12 Stunden pausenlos am Arbeiten.“

„Du auch, oder nicht?“

„Ja. Und ich werde nach diesem Tag einen Urlaub brauchen. Zum Glück schaffte ich es vor einer Stunde, eine Firma aus dem Sektor Gebäudereinigung zu beauftragen, die uns hier in den nächsten Minuten unterstützen wird. Du bekommst für den Rest der Woche ab diesem Moment bezahlten Sonderurlaub, das bedeutet dass Dir diese Tage nicht vom gewöhnlichen Urlaubskonto abgezogen werden. Ich habe darüber hinaus dem Leiter unseres Restaurants gesagt, dass Du während dieser Zeit kostenlos bei uns essen kannst, beliebig oft. Das gilt auch für eine weitere Person Deiner Wahl. Was ihr auch essen und trinken wollt, es wird da keine Beschränkungen geben.“

Ich lächelte.

„Vielen Dank dafür. Das ist sehr großzügig.“

„Und nun mach Dir eine schöne Zeit, lass es Dir gut gehen!“

Ich brauchte an diesem Tag etwas länger zum Umkleideraum, denn meine Beine fühlten sich an als wären sie aus Blei. Nachdem ich umzogen war, ging ich wie immer an ungewöhnlichen Tagen nicht die den Personaleingang, sondern durch die große Eingangshalle des Hotels. Das ist bei mir so üblich, da Chaos an einer Stelle meist auch das Gleiche an weiteren bedeutet, man kann durch ein kurzes Gespräch unter Kollegen hier und da recht einfach dafür Sorgen, dass Andere nicht in die selben, ungünstigen Lagen kommen wie man selbst.

„Anna, Hallo! Geh mal zur Rezeption. Die wollen da irgendwas von Dir.“, warf mir ein Mitarbeiter am Vorbeigehen zu.

Ich dachte mir dass bestimmt eine Beschwerde seitens einer der recht exzentrischen Gäste der Grund sei.

„Anna, das hier wurde von einem abreisenden Hotelgast explizit für Dich hinterlassen. Er bestand darauf anonym zu bleiben.“

Es war nichts weiter als ein winziger Umschlag aus Papier. Ich öffnete ihn erwartungslos. In seinem Inneren waren ein kleiner zusammengefalteter Zettel und ein Schlüssel.

Ich blieb eine Weile verwirrt beim Lesen des Inhalts des kleinen Zettels. Der Schlüssel war goldfarben, trug ein Logo und eine Art Seriennummer. Beides packte ich in die Innentasche meines Mantels und ging durch den Ausgang. Es war mittlerweile später Abend geworden, an jenem Montag. Die Stadt war natürlich dennoch hell erleuchtet. Ich ging nur einige Schritte weiter, dann machte ich eine Entdeckung. Auf dem Dach eines nahe gelegenen Gebäudes protzte das selbe Logo wie auf dem Schlüssel, den ich erhielt.

Am kommenden Morgen sollte ich erfahren, was es mit alldem auf sich hatte.

Das Logo repräsentiert eine Bank. Man sagte mir dort, der Schlüssel sei gleichzeitig eine Zugangsberechtigung für ein dort angemietetes Schließfach, zu selbigem man mich jederzeit begleiten könnte, wenn ich das wünsche. Dem stimmte ich an Ort und Stelle zu. Dort angekommen gab mir der mich begleitende Bankangestellte zu verstehen dass ich mir in dem Raum so viel Zeit lassen könne wie es mir beliebt, dann öffnete er mit seinem und meinem Schlüssel das dazugehörige Fach. Der Mann nahm eine große Stahlkassette aus dem Schließfach und stellte sie auf den zentral platzierten Tisch, dann verließ er den Raum. Ich war nun allein und öffnete die Kassette.

Sofort wurde mir klar dass sich mein Leben von nun an nachhaltig verändern würde.

Auf dem kleinen Zettel, den ich am Abend zuvor mit dem Schlüssel zusammen aus dem Umschlag genommen hatte stand:

„Junge Dame, nichts Gutes sollte unbemerkt bleiben.“

Ich beschloss in der Hotelbranche zu bleiben, aber bestimmt nicht ohne weitere Konsequenzen. Etwa einen Monat später verdoppelte ich meinem ehemaligen Boss das Monatsgehalt und schickte ihn und seine Familie in einen achtwöchigen, bezahlten Sonderurlaub, welcher auf Betriebskosten an Bord eines Kreuzfahrschiffs in höchstmöglicher Reisekategorie stattfinden sollte.

Es zählt bis Heute zu den besten auf unserer Welt, mein Hotel.

Ein Tag beginnt unspektakulär, er endet jedoch immer zusammen mit dem, das wir aus ihm machen.

 

Autor/geistiger Eigentümer: Steffen Lenk
Zeitpunkt v. Idee/Konzeption u. Umsetzung: Mai 2009

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.05.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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