Sebastian Libuda

Das Paradies hinter der Mauer

Ich erinnere mich noch genau. Es war mein fünfter Geburtstag an dem
meine Mutter mir haufenweise Klepper-Regenmäntel schenkte, die mir alle
viel zu groß waren. Meine Mutter sagte, zu ihrer Entschuldigung, dass
ich ihr eines Tages noch dankbar dafür sein würde und dass sie ja wohl
am Besten wisse was ihr Sohn sich wünsche und was nicht. Meine Mutter
stammelte ständig so ein wirres Zeug. Kein Wunder, sie saß ja auch den
ganzen Tag vor der Glotze und sah sich Westfernsehen an. Meine große
Schwester, die seit ihrem Abschluss am
Adam-Smith-Marktforschungsinstitut für freie Marktwirtschaft, nur bei
uns abhing, Selbstgespräche führte und Nähgarn sammelte, soviel sie
kriegen konnte, schien Anfangs noch normal zu sein, bis sie eine
intensive Unterredung mit meiner Mutter hatte.

Mein Vater war der Einzige, den ich für voll nahm. Er war derjenige,
der die Brötchen mit nach Hause brachte. Die Nachbarn mochten uns
nicht, sie nannten meinen Vater immer Petze-Petze aber das war mir
egal, denn unser Kühlschrank war voll mit Käse. Ich fühlte mich wie im
Paradies und wollte diesen herrlichen Ort unter keinen Umständen
verlassen.

Jedes mal wenn eines der Nachbarskinder mich ärgerte, verschwand es auf
unerklärliche Weise und seine Familie gleich mit ihm. Als ich zehn
Jahre alt war hatten wir kaum noch Nachbarn und als ich zwölf wurde
verschwanden auch die Letzten. Nach meiner Frage wo all unsere Nachbarn
hin seien, sagte mein Vater, dass sie wohl verdienten Langzeiturlaub in
Sibirien machten. Das klang logisch in meinen ungewaschenen Ohren.

An meinem 16 Geburtstag bekam ich seltsamerweise keine
Klepper-Regenmäntel mehr. Wahrscheinlich hatte meine Mutter sie alle
aufgekauft. Unsere Wohnung ähnelte Mittlerweile einer Gummizelle.
Stattdessen bekam ich eine Schatulle mit einem kleinen aber durchaus
sicherem Vorhängeschloss. Fragend starrte ich meine Mutter an, meine
Schwester, dann meinen Vater. Sie sagten nichts. Meine Mutter gab mir
einen Schlüssel und zeigte schweigend auf das Schloss der Schatulle.
Als ich das Schloss und die Schatulle öffnete, sah ich was sich in ihr
befand und zweifelte an dem geistigen Gesundheitszustand meiner Eltern.
Es lagen 200 Westmark drin. Da hätten sie mir auch gleich Eine über
braten oder lachend mit dem Finger auf mich zeigen können. Nach meiner
Frage was ich mit 200 Westmark solle, sagten sie, ich solle damit tun
was immer ich wolle. Ausgeben jedoch wäre am Besten.
Ich war kurz davor im Arpanet nach entsprechenden Medikamenten zu suchen, als meine Mutter mich aufklärte.

Sie erzählte mir von einem Fluchtversuch, den sie, mein Vater und meine
Schwester schon seit längerem planen. In diesem Moment wurde mir so
einiges klar, nur nicht warum sie hier weg wollten. Mein Vater sagte,
dass er den ganzen Käse satt sei und lieber Priester werden wolle. Das
klang logisch. Mein Vater nahm mich mit ins Obergeschoss des
Mehrfamilienhauses, in dem wir alleine wohnten. Er hatte sich dort eine
riesige Werkstatt mit allerlei technischen Krimskrams eingerichtet. Es
gab verstaubte Abhörgeräte, einen gut gepflegten Radar und eine
Konstruktion mit der sich das Dach des Hauses öffnen ließ, wie bei
einem Cabriolet. Aus den Klepper-Regenmänteln, dem Nähgarn und den
alten Möbeln der Langzeiturlauber bauten wir uns einen Heißluftballon.
Für die heiße Luft war auch schon gesorgt. Tante Skunky hatte uns zehn
Jahre lang, jeden Monat, vier Flaschen, gefüllt mit ihren meist
gefürchteten Ausdünstungen, geschickt. Am Abend der Flucht nahmen wir
uns alle fest in die Arme, stiegen in den Korb des Ballons, flogen los
und sagten dem Paradies auf Nimmerwiedersehen.

herr.libuda

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