Stefan Schöner

Gesicht nach unten

Kennen Sie die Weisheit, die besagt, dass ein Marmeladen- oder Wurstbrot immer mit der belegten Seite nach unten fällt? Auf das Gesicht? Haben Sie das selbst vielleicht schon erlebt?
Ja? Tatsächlich?
Sie haben ja keine Ahnung. Nicht die geringste ...

„Schatz, der Spielfilm fängt an!“, tönt die Stimme meiner Frau zu mir in die Küche. Sie verkündet, was ich bereits weiß und weswegen ich überhaupt in der Küche bin. Ich habe ein Brötchen aufgeschnitten und bin gerade dabei, die beiden Hälften dünn mit Butter zu bestreichen und dann eine dicke Schicht Nuss-Nougat-Creme aufzutragen. Zwei halbe Brötchen mit Nuss-Nougat-Creme, mein Proviant für einen gemütlichen Fernsehabend.
Süß.
Fett.
Kalorienhaltig.
Ungesund.
Genau das Richtige für mich.
Ich eile ins Wohnzimmer und will den Teller mit den beiden Brötchenhälften auf dem Couchtisch abstellen, als mich das Unheil ereilt: Eine der Brötchenhälften verliert, ungefähr dreißig Zentimeter über dem Tisch, das Gleichgewicht und rutscht vom Teller. Ich versuche, das Brötchen aufzufangen, verfehle es aber. Es landet, wie sollte es anders sein, mit dem Gesicht nach unten auf dem Tisch.
Nein, nicht auf dem Tisch, wie ich auf den zweiten Blick sehe, das wäre ja auch viel zu einfach. Es landet auf der Fernbedienung des Fernsehers, der auch prompt den Kanal wechselt und anstelle des Spielfilms eine Sportveranstaltung zeigt. Nun habe ich eine Fernbedienung im Schlafrock, gewissermaßen. In einem Schlafrock aus Nuss-Nougat-Creme.
Lecker.
Meine Frau, die es sich bereits auf dem Sofa bequem gemacht hat, schnaubt abfällig durch die Nase.
„Was für eine Schweinerei du wieder anrichtest!“, soll dieses Schnauben sagen, und ich bin mit ihr einig. So war das nicht gedacht.

Ich greife nach dem Brötchen, will es aufheben – und greife daneben. Leider lag es nämlich nicht komplett auf der Fernbedienung, sondern nur zur Hälfte.
Zu weniger als der Hälfte, um genau zu sein.
Während sich meine Hand nähert, kippt das Nuss-Nougat-Creme-Brötchen über die Kante von Fernbedienung und Couchtisch, es vollführt eine präzise Absetz-Bewegung nach unten, um aus der Reichweite meiner Hand zu gelangen. Meine Finger verfehlen es um Millimeter, meine Fingerspitzen streifen an der Kruste entlang und geben ihm noch einen ordentlichen Schubs. Es fällt aber nicht senkrecht nach unten, sondern beschreibt, gehalten von einigen klebrigen Nuss-Nougat-Fäden, einen knappen, trotzdem eleganten Kreisbogen, der es wieder nach oben zum Couchtisch zurückführt.
Zur Unterseite der Tischplatte, natürlich.
Mit der Nuss-Nougat-Seite nach oben, selbstverständlich.
Ich kann das leise „Plitsch!“ hören, mit dem es an die Unterseite der Tischplatte klatscht, und da die Tischplatte unseres Couchtisches aus Glas ist, kann ich die Bescherung in ihrer ganzen Pracht auch bewundern. Unter der Glasplatte grinst mich das Brötchen hämisch an.
„Hä, hä, hä!“, scheint es mir zu sagen. „So schön glatt hättest du meine Oberfläche allein nie bekommen, und jetzt kannst du noch nicht einmal an mich heran! Hä, hä, hä!“

Na, das wollen mir doch mal sehen. Ich lange unter die Tischplatte, um die aufständische Schokoladen-Stulle in Gewahrsam zu nehmen, und bin wieder um eine Zehntelsekunde zu langsam. Wieder greife ich ins Leere, denn just bevor sich meine Finger um das Brötchen schließen können, löst es sich von der Glasplatte und lässt sich eine Etage tiefer auf die Ablage des Couchtisches fallen, wieder einige Schoko-Creme-Fäden hinter sich her ziehend.
Auf der Ablage kommt es endlich zur Ruhe.
Mit dem Gesicht nach unten.
Wie sonst auch.

Ich versuche, das Brötchen aufzuheben, aber das gelingt mir zu meiner Überraschung nur teilweise. So wie eine in die Enge getriebene Eidechse ihren Schwanz abwirft, so trennt sich das Brötchen jetzt von seinem Belag. Ich halte die Kruste in der Hand, die aber nur noch einen Teil der Krume enthält, da der Rest der Krume mitsamt der Nuss-Nougat-Creme auf der Ablage des Tisches kleben bleibt. Ich schaue mir die Sache einen Augenblick lang an: Nuss-Nougat-Creme auf der Fernbedienung, auf der Glasplatte des Couchtisches, an der Unterseite der Glasplatte und, der größte Teil, auf der Ablage unter dem Tisch. Auf dem Brötchen: Nichts. Es grinst mich frech und sauber an, und ich unterdrücke mit immenser Willenskraft den Impuls, das blöde Stück in eine Ecke zu pfeffern.
„Ach, Schatz“, bemerkt meine Frau spitz, „wärst du so freundlich, wieder auf den Spielfilm zurückzuschalten?“
Ich reiche ihr die Fernbedienung, wobei ich sorgfältig darauf achte, nur den Teil zu berühren, der von der Nuss-Nougat-Creme verschont geblieben ist, aber sie weigert sich, sie anzunehmen.
„Mach das doch diesmal vorne am Apparat, bitte!“, meint sie. Ich weiß, dass das geht, aber ich habe keine Ahnung, wie. Und die Bedienungsanleitung werde ich jetzt auch nicht heraus kramen. Nein, bestimmt nicht.
„Ach, übernimm das doch bitte selbst“, erwidere ich daher, während ich die Fernbedienung wieder auf den Platz lege, sorgsam darauf bedacht, die Schokoladencreme nicht noch weiter zu verteilen.

Ich begebe mich zurück in die Küche, um Putzutensilien zu besorgen. Als ich ins Wohnzimmer zurückkehre, sehe ich, dass ich bereits Hilfe bei der Beseitigung der Folgen des kleinen Maleurs habe. Nicht meine Frau, nein, die sitzt auf dem Sofa und guckt mit angewiderter Mine abwechselnd auf die klebrige Bescherung auf dem Couchtisch und zum Fernseher, wo eben zweiundzwanzig Kindsköpfe einen Lederball misshandeln.
Nein, die Hilfe kommt von Orion, unserem kleinen Kater, der eifrig damit beschäftigt ist, die Mischung aus Butter und Schokoladencreme von der Ablage des Couchtisches abzuschlecken. Ich erwäge einen Augenblick lang, einfach darauf zu warten, bis er fertig ist, entscheide mich aber seufzend dafür, ihn zeitweilig aus dem Wohnzimmer auszusperren. Nicht dass ich ihm die klebrige Masse nicht gönnen würde. Aber bei meinem Glück würde er sie sich garantiert in seinem Fell verteilen, und einen schlecht gelaunten Kater zu baden zu müssen, das würde mir heute Abend gerade noch fehlen.
Also nehme ich selbst die Reinigung in die Hand, und einen Liter Glasreiniger sowie eine Rolle Haushaltspapier später sieht der Couchtisch wieder ganz repräsentabel aus. OK, an einigen Stellen ist er immer noch ein bisschen klebrig, aber darum kann sich Orion ja nachher kümmern.
Probleme bereitet mir allerdings die Fernbedienung. Hier verstricke ich mich in eine Art erbitterten Häuserkampf, ich muss Taste um Taste und Zwischenraum um Zwischenraum von der klebrigen Nuss-Nougat-Creme zurückerobern, während meine Frau meine Arbeit interessiert beobachtet.
Zum Schluss wirft sie einen kritischen Blick auf den großen Haufen schmutzigen Haushaltspapiers und meint: „Vielleicht wäre es billiger, du würdest einfach eine neue Fernbedienung kaufen, was meinst du?“
Ich seufze.
Sie hat recht. Wie immer.
Morgen werde ich mich aufmachen und eine neue Fernbedienung besorgen. Zumindest heute aber kann ich die alte wieder benutzen, zumindest vorsichtig. Mit spitzen Fingern wechsle ich auf den Spielfilm zurück, wo wir gerade rechtzeitig wieder einschalten, um den letzten Werbeblock und danach die letzten Minuten des Films zu sehen. Was für ein Mist.

Ich überdenke den Abend: Ich habe nicht fern gesehen, war nicht auf dem Sofa gelegen, habe nichts gegessen, sondern habe mich im Gegenteil beim Putzen ordentlich bewegt. Da soll noch jemand behaupten, Snacks beim Fernsehen würden dick machen. Kann ich für mich nun wirklich nicht sagen. Morgen Abend aber, das schwöre ich mir, gibt's keine Nuss-Nougat-Creme. Ein ordinärer Beutel Kartoffelchips tut´s auch. Die sind wenigstens nicht klebrig.

ENDE

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.06.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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