Nina Zwilling

Bestraft


Fast geräuschlos glitt der letzte Nachtzug aus der Halle. Der Bahnsteig war leer, bis auf einen einzelnen Mann. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und starrte dem Zug hinterher, dessen rote Schlusslichter rasch kleiner wurden.

 
Nele schmiss ihren bunten Rucksack auf den freien Platz neben sich und ließ sich bequem auf den grauen Sitz fallen. Sie holte das Mau-Mau Kartenspiel, das sie gestern von Oma bekommen hatte, aus der kleinen Reissverschlußtasche. Sie fing an Patiencen auf den Tisch auszulegen. Das Spiel hatte sie gestern von ihrem gleichaltrigen Cousin Timo gelernt. Ihn und auch Oma hatte Nele gestern zum ersten Mal in ihrem Leben gesehen. Auch Papa. Sie hatte die letzten Stunden mit vielen Menschen verbracht, die allesamt nun zu ihr gehörten. Nele hatte seit gestern eine eigene Familie, und zwar die Familie ihres Vaters. Nele war sehr glücklich darüber. Blöde war nur, dass die alle so weit wohnten. Die Mama würde ihr bestimmt nicht so schnell wieder erlauben, hierher zu kommen. Dabei waren die alle so lieb und aufmerksam zu ihr gewesen. Sie hatte sich mal so richtig wohl gefühlt.

 
Nele hatte keine Lust mehr zum Kartenlegen. Sie sortierte das Spiel in seine Box zurück und steckte es in ihren Rucksack. Es lagen noch fast einhundert Kilometer Weg vor ihr, der Zug fuhr lautlos durch die Nacht und Nele´s kleines Herz wurde immer schwerer. Außer ihrem Rucksack brachte sie nun noch eine weitere Tasche mit nach Hause. In der schweren Tasche waren viele schöne Geschenke, die sie von ihren neuen Verwandten bekommen hatte. Auch von Papa waren ein paar Sachen dabei. Es kam nicht oft vor, das Nele etwas geschenkt bekam, schon gar keine Anziehsachen. Sie musste immer die Klamotten von ihrer älteren Cousine auftragen. Jetzt hatte Nele eine neue todschicke Hose mit einem farblich dazu passenden Pullover bekommen. Sie freute sich jetzt schon darauf, die Sachen ihren Schulkameradinnen, die alle schon länger einen Papa hatten, vorzuführen.

 
Ob Mama sauer sein würde, wenn sie mit den vielen schönen Sachen nach Hause kam? Bestimmt! Sie konnte es nämlich nicht leiden, wenn Nele etwas geschenkt bekam. Nele drehte eine Haarsträhne die aus ihrem Zopf raushing, um ihren Finger. Vielleicht war ja Stefan, der Freund von Mama da, dann hätte Mama gute Laune und würde Nele in Ruhe lassen. Nele schaute aus dem Zugfenster und versuchte in der Dunkelheit die Umrisse von vorbeirauschenden Bäumen zu erspähen. In den Ästen, so glaubte sie, saßen kleine Kobolde mit langen Fingern. In ihren nächtlichen Träumen versuchten sie immer mit ihren langen Armen nach Nele zu greifen. Gott sei Dank wachte sie dann zwar schweißgebadet aber immer rechtzeitig auf.
 
Nele schüttelte ihre Zöpfe nach hinten, wie als wolle sie alle negativen Gedanken vertreiben. Lieber wollte sie noch ein wenig von ihrer neuen Familie träumen. Alle waren so lieb zu ihr gewesen, auch Papa. Und das konnte ihr Mama bestimmt nicht wegnehmen. Papa war stark und würde Nele beschützen. So wie der Papa von dem Mädchen mit den dicken roten Zöpfen auf ihrem Buch, das sie von Papa bekommen hatte. Das Mädchen lebte ganz allein in einem bunten Haus mit einem Pferd und einem Affen. Nele seufzte wehmütig.

 
Walter ging erleichtert und strammen Schrittes in Richtung Ausgang. Draußen stand sein Auto, das ihn nach Hause fahren würde. Gestern hatte er seine neunjährige Tochter bei ihrer Mutter abgeholt. Zum letzten Mal hatte er das Kind als Baby gesehen. Es war ja nicht seine Schuld, dass seine damalige Frau in einer Nacht und Nebelaktion mit dem Baby auf Nimmerwiedersehen verschwunden war und sich nie wieder bei ihm blicken gelassen hatte. Dafür hatte er in regelmäßigen Abständen Briefe vom Gericht bekommen, in denen sie ihn aufforderte, seinen Kindesunterhalt zu leisten. Das hatte er immer wieder geschickt umgehen können. Er kannte ja das Kind noch nicht einmal. Und warum dann zahlen? Und wovon überhaupt? Als er sich gar nicht mehr drücken konnte, half ihm sein Vater finanziell aus. Dafür musste er sich dann regelmäßig anhören, wann er endlich Kontakt zu seinem Kind aufbauen wolle? Nun gut, jetzt hatten sie ja ihren Willen bekommen. Und er wollte sich nicht länger den Kopf über solche Dinge zerbrechen. Zu Hause warteten die Sportschau, sein Sofa und ein paar Liter Bier auf ihn.

 
Der Schlag auf Nele´s Wange war hart und sehr plötzlich. Sie spürte, wie ihr die Tränen übers Gesicht liefen. Nele war froh, dass Papa sie jetzt nicht sehen konnte, und erfuhr, was für ein böses Mädchen sie war. Obwohl sie wie immer nicht wusste, was sie denn eigentlich angestellt hatte. Aber irgendetwas musste ja sein, sonst wäre Mama nicht so sauer. „Hör endlich auf zu heulen“, fuhr Mama sie gereizt an. „Möchte zu gern wissen, wie du das anstellst, dass die Leute immer wieder auf dich reinfallen. Aber bei anderen konntest du ja schon immer das liebe Kind spielen, nur zu Hause nicht!“ Sie stopfte Nele´s Geschenke, die auf dem Boden im Kinderzimmer verstreut waren, in die mitgebrachte Tasche zurück. „So, das nehme ich alles mit, das hast Du jetzt davon!“ Sie ging durch die Küche, in der einen Hand die Tasche, in der Anderen eine brennende Zigarette.

 
Nele saß auf ihrem Bett und hielt sich ihre schmerzende Wange. Draußen auf den nächtlichen Bäumen hockten wieder die Kobolde mit den langen Fingern. Gott sei Dank hatte Mama nicht den Kochlöffel aus der Küchenschublade geholt. Nele war traurig und verzweifelt und sie fühlte sich sehr allein. Sie hatte geglaubt, dass ihre Mutter jetzt nicht mehr das „schwierige“ Kind in ihr sehen würde, denn solche Kinder bekamen doch nicht über Nacht einen Papa geschenkt? Nele schämte sich. Was war sie nur für ein böses und schlimmes Monster, das Mama sie immer bestrafen musste?

 
Etwas weiter südlich in Deutschland lag ihr „frischgebackener“ Papa zufrieden auf seinem Sofa und schaute seine heißgeliebte Sportschau. Auf dem Wohnzimmertisch standen zwei leere Bierflaschen, zu denen sich gleich eine Dritte gesellen würde. Er rülpste laut durchs Wohnzimmer.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.06.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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