Lothar Atzert

Als ich Siebzehn war (für eine siebzehnjährige Dichterin)

 
Als ich Siebzehn war (Gedanken eines Einundsechzigjährigen - für eine siebzehnjährige Dichterin)
 
Der Dichter macht das Wortbild dichter,
um Geist zu spiegeln in Gesichter.
                                                      (28.06.09 Bad Vilbel, 13.50 Uhr Ortszeit)


"When I was just seventeen, you know what I mean" sangen die Beatles in "I saw her standing there" vor fast einem halben Jahrhundert. Damals war ich tatsächlich siebzehn Jahre und glaubte genau zu wissen, was John und Paul meinten. Tagsüber dekorierte ich die Schaufenster in einem Schuhgeschäft an der Frankfurter Hauptwache, wo es viele hübsche Mädels gab. Die waren für meinen Geschmack teilweise so schön, daß es mir als Wetterauer Landkartoffel fast die Sprache verschlug. Und ich hätte sie gern ähnlich besungen, wie die vier Jungs aus Liverpool, doch ich besaß nur eine billige Wanderklampfe, dazu eine piepsige Krähenstimme und auch nur halb so viel Talent. Und dann jeden Tag arbeiten, alles für die Füße.... ja und angefaßt hätte ich sie natürlich in dieser Zeit gern sowieso. Nicht die Krähenfüße, den ganzen entzückenden Mädchenkörper.
Woher kam nur diese Schönheit? Was braute die Natur so zusammen und für welchen Geist? Wie kann man mittelst Worten in diesem Geist etwas dem Geist bewußt machen?
Bei uns in der Provinz waren alle rotwangig, mit kräftigen Kiefern fürs Zermalmen von Fleisch angelegt, schauten meist grimmig - vielleicht ist's auch nur Entschlossenheit für's Handeln - und stolperten stoffelig durch die Felder, die es damals noch gab.
Aber hier in Frankfurt, dieser hüftewiegende Gang, diese Augenaufschläge, die Beine bis in den soundsovielten Himmel, mein Gott, wer konnte das aushalten, was die wach riefen - die elfenhafte Janin, die musikgewordene, wohlduftende Miriam, Rebecca, die formvollendete Grazie..... bei uns zuhause hießen die Gerda, Inge, Waltraud - Stallmist klebte an den Schuhsohlen....
Doch das war leider nur die eine Seite von Frankfurt. Die andere bestand darin, daß dieselben Mädels Interessen hatten, die sich nur um Oberflächlichkeiten drehten. Um Kleidung ging es, um Discos, Schmuck, Geld, Kerle mit chicen Autos, Schminken, um up to date zu sein, um äußere, rasch wechselnde Utensilien...
Und so stellte ich mir immer wieder die Frage nach Woher und Wohin von all dieser Schönheit, die mir plötzlich einen Riß zu bekommen schien und bekam so durch Beobachtung erste Ahnungen von ihrer Vergänglichkeit. Auch daß diese Schönheit nicht die wirkliche Schönheit sein konnte, der es primär ums Begehrlichkeiten wecken ging, diese Ahnungen begleiteten mich damals.
Nur wer war dieser Ahner, wer war ich wirklich? Welcher Vergängliche suchte da nach Unvergänglichem? Und so kam ich durch fragendes Suchen nach dem Selbst irgendwie über Nietzsche zu den Schriften des Philosophen Schopenhauer. Der wieder pries den Buddhimus. (Nur eine Facette davon, wie ich später erkannte) Seite an Seite mit Hegel hielt er einst Vorlesungen. Und während Hegels Klassenraum stets überfüllt war, verirrten sich zu Schopenhauer nur Wenige. So las ich zumindest.
Was ich nirgendwo las, auch nicht zu hören bekam, erst Jahrzehnte später: daß gemäß eines Sieben-Jahre-Rhythmus sich im Alter zwischen vierzehn und einundzwanzig Jahren sich das Bestimmende eines Individuums heraus kristallisiert. Alle sieben Jahre gibt es die Umbrüche. Die ersten Sieben (das erste Aussieben) gehören ganz dem Unbewußten, es folgt eine schöpferische Zeit voller Überraschungen, bis Vierzehn - auf keiner offiziellen Schule wollen die Lehrenden davon wissen. Kein Wunder - ihr ganzes System würde sich als falsch heraus stellen.
Den Hegel, den ich erst Jahre später las, hab ich nie gemocht. Der war mir diesem Staat mit seinen falschen Regel zu nahe. Deswegen hatte er ja (und hat bis heute) soviel Zulauf. Hegelianer nannten sich die Anhänger. Schopenhauerianer gab es nie. Ist ja auch ein verqueres Wort.
Aber vielleicht lag es auch daran, daß mir die Stillen und weniger Beachteten immer schon näher waren. Weil Stille weiträumig macht. Eine Stecknadel hört man fallen, wenn es nur still genug ist. Und es hört sie auch nur, wer innerlich entsprechend still ist. Dazu darf man freilich nicht am äußeren Schönen hängen bleiben. Ein solcher Einsame hört die Nähe der Ferne, die Ferne in aller Nähe. Er hört - entrückt - das Ewige wie einen Ozean ein- und ausatmen. (oder Stechmücken wie Odysseus die Sirenen) Welle für Welle und Welt auf Welt..... Novalis' "Hymnen an die Nacht" war mir damals eine erste Offenbarung der wirklichen Schönheit.
Kennst Du Novalis?
 
"Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen.
Wenn die, so singen oder küssen,
Mehr als die Tiefgelehrten wissen,
Wenn sich die Welt ins freie Leben,
Und in die Welt wird zurückbegeben,
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
Zu echter Klarheit werden gatten,
Und man in Märchen und Gedichten
Erkennt die wahren Weltgeschichten,
Dann fliegt vor einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort."
 
Gleich neben dem Schuhkaufhaus lag eine Buchhandlung. Eines Tages in der Mittagspause betrat ich sie und fragte die Verkäuferin: "Haben Sie vielleicht Literatur über Buddha?" Das mit dem Selbst vermochten mir Schopenhauers Worte nicht zu klären, auch nicht Nietzsche oder Novalis, vielleicht war ich da beim Buddha besser aufgehoben.
"Nein, da sind Sie bei uns falsch, sowas haben wir nicht, da sollten Sie in eine Fachbuchhandlung gehen oder sich vielleicht gleich an eine landwirtschaftliche Genossenschaft wenden..."
"Wie...?"
"Vielleicht telefonisch über die Auskunft, vielleicht können die ihnen Literatur über Butter benennen, aber wir führen so etwas nicht."
"Verzeihung, nicht Butter - Buddha!"
"Ja.... das bekommen Sie alles dort, also falls es darüber Literatur gibt. Butter - hab ich noch nie gehört, daß jemand über Butter was lesen will..."
" BUDDHA - B, U, D, D, H, A! - BUDDHA!" - meine Stimme gellte wie ein sterbender Schwan durch den Raum, so daß alle im Lesen Versunkenen aufschauend sich umdrehten und ich selbst am meisten erschrak über soviel plötzliche Beachtung. Vor allem, wegen wem ich so beachtet wurde.
"Ach, um Buddhismus gehts, ach, entschuldigen Sie, ei ich hab' als Butter verstanden."
So war das - und bis heute hat sich nichts daran geändert. Sage ich etwas mit natürlicher Lautstärke, hört es keiner oder glaubt Dinge zu hören, die völlig, aber wirklich vollkommen absurd sind. Jeder hört pausenlos sich selbst da draußen. Erhebe ich dann die Stimme, erschrecken alle und einige zeigen ihre Zahnspangen, andere ballen die Faust.
So war das auch letztens wieder, als der nunmehr Einundsechzigjährige vom Land der Poesie sprach. Da wollte eine herausgehört haben, daß mein Riesen-Ego an der Eingangspforte steht oder sitzt und bestimmt, wer rein darf und wer sozusagen in die Gaskammer oder Todeszelle muß. Die Bösen ins Töpfchen, die Guten ins Kröpfchen oder so ähnlich.
Ein Buch über den historischen Buddha Gautama gab es damals dann trotz des aufgeklärten Irrtums nicht. Das Schicksal wollte es anders, mit Siebzehn. Ich sollte gleich ordentlich einsteigen: in ihrem Katalog - Computer gab es ja noch keine - entdeckte die Verkäuferin "Das tibetanische Totenbuch" - "Bardo Thödol" - und als ich diese Worte hörte, wußte ich augenblicklich: genau deswegen kam ich hierher. Das und nichts anderes sollte es sein!
Es dauerte dann noch drei unsäglich lange Wochen, bis es endlich da war. Aber das Warten hatte sich gelohnt. Es stand alles genau so drinn, wie ich es immer schon geahnt hatte: daß Tag und Nacht und Leben und Tod immer zusammen gehören, sich bedingen, wie Ein- und Ausatmung. Und was dazwischen in der Waage liegt - die Tibeter nennen es "Bardo", jene Übergangszustände vom einen zum anderen, davon handelt das Buch. Wobei dem Wandel vom Leben zum Tod weniger Aufmerksamkeit geschenkt wird. Vielmehr geht es um die Zeit ab dem Tod bis zur Geburt - also anders herum und um die lange Nacht und ihre Gefahren, also um all das, was wir so gerne verdrängen, als hätte die dunkle Hälfte nichts mit uns zu tun.
Und wie man gefährliche Übergänge meistern kann........ Ei, wie schade ist das, daß es nur so wenige wissen wollen! Kaum jemand erfährt so, wie schön, wie lichtvoll diese Todesnacht oder Ausatmung sein kann, wenn sich das Erdelement (alles Stabile) in Feuer auflöst, jenes im Wasser verlischt, dieses im Wind zerstiebt und der sich im Raumäther verliert. Und wie gelassen man den Tod empfangen könnte, zärtlich, als Freund und Wegbereiter, so man die lichtvollen Analogien beherzigt, anwenden lernt und bewußt alle kritischen Zustände als selbsterschaffen erfährt. Das Leben ist ja im Unbewußten eine Vorbereitung fürs Nächste - dem Bewußten ist das immer gegenwärtig, nunja........
"Gegen seinen Willen stirbt, wer nicht zu sterben gelernt hat. Lerne zu sterben und du wirst lernen, zu leben, denn niemand wird lernen zu leben, der nicht gelernt hat, zu sterben. - Weg aller Wege: er lehrt den Menschen das Sterben." heißt es dementsprechend im Bardo Thödol.
Und wie man lebt und wie man denkt und handelt - all das webt gegenwärtig Zukünftiges, - jeder selektiert sich selbst, da braucht keiner an einer Eingangspforte Wache zu halten.
Und deshalb ist die Juweleninsel der Dichter selbstgeschützt - niemand kann jemals dorthin, der Gegensätzliches, wie Haß, Eifersucht oder überhaupt Trennendes empfindet. (Was für alle Wesen gilt - ein jedes wird im großen Ordnungsgefüge durch Magnetismus zu Gleichgesinntem zusammen gezogen und ins Entsprechende verbracht. Herz zu Herz, Dünndarm zu Dünndarm. Andere Gesinnung- anderer Ort)
Dieses Totenbuch hat alles Weitere strukturell vorbereitet damals. Den Charles Baudelaire hab ich dann wahrscheinlich anders gelesen - leider nur auf Deutsch - und mit 18 sein Grab in Paris besucht. Auch der von Nietzsche besessene Jim Morrison (The Doors) ruht auf dem selben Friedhof. Den sah und hörte ich noch lebendig in Frankfurt. Jetzt ist sein Geist, sein "Rider in the Storm" beim Denker angekommen: "Die stillsten Worte bringen den Sturm. Gedanken, die mit Taubenfüßen kommen, lenken die Welt."
Was aber das Entscheidende war: das Begreifen, daß es keinen Ur-Anfang gibt und demzufolge auch nicht das, was wir als Ende verstehen. Nur immer Metamorphosen, nur Integration ins immer Weiträumigere, sofern man loslassen lernt. Und genauso weiß doch auch kein Ausatmender, gleichgültig welchen Alters, ob es noch ein Einatmen geben wird. Deshalb die Wichtigkeit des Sterbenlernens jetzt. Der weite Raum hat kein Gewicht. Ich weiß, du verstehst das, hast es ja so schon ahnend gemalt, meine liebe Dichterin und das macht mich froh. Und was du heute nicht verstehst - ach! Du hast wahrscheinlich noch soviele Jahre vor dir.......
Du zogst vor meinen Worten den Hut, wie ich den meinen vor Deinen. Freilich nicht eine beliebige Schlafmütze, sondern jenen Hut, der unsichtbar von den Geistern der Worte gewebt wird, um ihre Dichter zu behüten. "Ich mach mich schutzlos vor dir, öffne mich ohne Wenn und Aber" heißt das Hutziehen. Ist das nicht ein klares Bild? Muß ich dir nicht dafür Worte wie Blumen darreichen?
Seerosensträuße vielleicht, nicht den Eisenhut und aus tiefblauem Äther. Die von Claude Monet gemalten, wenn du sie magst...
Mit Siebzehn hat man noch Träume, heißt es. Leben und Tod sind ein Traum, sagt der zeitlose Buddha und lehrt den Diamantweg des Erwachens. Mein Herz sagt damals wie heute: man kann seinen Worten trauen.
So war es, so ist es, I saw you standing there.....
Und sag' bitte nicht "Sie" zu einem Familienmitglied, das sich bald verabschieden muß, um hinüber zu gehen, durch die kristallklar nüchterne Nacht. Ins Licht vielleicht, vielleicht um Sappho, vielleicht um Charles zu treffen. Vieleicht auch nur, um das Sein sein zu lassen, wie es ist.
Der Tanz des Vergänglichen um das Währende, ihn hier und da in günstigen Momenten ein wenig in rhythmische Bildklänge zu fügen, wurde mir zum bestimmenden Lied oder Leitmotiv des Erdenwandels, wie es auch dir - und schöner!- bestimmt ist, Worte zu fügen. "Weltinnenraum" nannte es Rilke einmal, wo aller Güte Schönheit währt.
Ganz sicher sehen wir uns dort.



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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.07.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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