Marina Böttcher

Ein Erlebnis kommt selten allein...

 

Das Telefon klingelt. Aufgeregt trällert meine Kollegin am anderen Ende der Leitung:
"Mein Tobias ist da! Vor drei Tagen! Er wiegt 3560 g und ist 53 cm groß!" 
Im Namen unserer gesamten Büromanschaft übermittele ich ihr Glückwünsche. Dann lausche ich andächtig ihren ausführlichen Schilderungen der Geburt, die langwierig und anstrengend war. Ich schiebe mein noch in Alufolie eingewickeltes Frühstücksbrot an den hinteren Rand meines Schreibtisches. Wir müssen ein Willkommens-Geschenk für Tobias besorgen, schweifen meine Gedanken ab, während die frischgebackene Mami entzückt die Vorzüge ihres Babies preist. Eine kurze Atempause gibt mir die Chance, auch einmal zu Wort zu kommen, und ich formuliere hastig meine Frage, womit man Mutter und Kind  eine Freude machen könnte. „Eigentlich habe ich alles – vom Kinderwagen bis zum Strampelanzug, allerdings hat mein Sohn noch  kein Spielzeug“.
 
Ich denke an meine inzwischen 17jährige Tochter, die im zarten Alter von 4 Monaten ganz verliebt in einen kleinen weißen Teddy war, der quietschte, wenn man die richtige Stelle auf seinem Bauch traf. Womit „spielen“ Neugeborene heutzutage? In der Zwischenzeit hat sich auf dem Säuglingsspielesektor sicherlich eine ganze Menge getan.
 
Eine ebenfalls schwangere Kollegin (meine Teamkollegen tun momentan ihr Bestes, damit die Pyramide der Generationen nicht kippt) händigt mir einen Babykatalog aus, in dem ich interessiert blättere. Holzmäuse, Quietschtiere, Rasseln  – das alles gab es auch schon vor 17 Jahren. Hier, das schaut doch interessant aus. Erlebnisdecke Mondbärchen, lese ich erstaunt. Hört sich aufregend an! Auf dem Foto liegt ein Säugling auf einer bunten Decke, über ihm baumelt ein flauschiges Gestell mit sonderbaren haarigen Figuren. Das erlebnishungrige Baby kann danach greifen oder - wenn es ordentlich strampelt und mit den Armen rudert - die Decke zum Knistern, Rascheln, Scheppern, Klingeln oder Brummen bringen. Wahnsinn! Das  muss es sein! 
 
Das Baby-Versandhaus hat Filialen in vielen Städten, so auch in unserer, gleich in der Nähe unseres Büros. In der Mittagspause mache ich mich mit einer Kollegin (zur Zeit nicht trächtig) auf den Weg. Unterwegs kommen wir an einem Spielzeugladen vorbei. Hier werden nur Marken-Baby- und Kinderartikel der obersten Preisklasse verkauft. Ehrfurchtsvoll presse ich meine Nase an die Schaufensterscheibe. Vorsichtshalber hat der Ladenbetreiber die ausgestellten Sachen gar nicht erst ausgepreist. Trotzdem will ich wissen, wie Designer-Erlebnisse ausschauen. Unerschrocken treten wir ein und fragen nach einer Erlebnisdecke. Die Verkäuferin ist in ihrem Element. "Wir haben eine große Auswahl an Decken. Schauen Sie, hier zum Beispiel  Motto "Blumenwiese oder wie wäre es mit "Weltmeere?" Wir sind sprachlos. Als nächstes wird uns die Decke "Unser All" präsentiert, und unsere Begeisterung kennt keine Grenzen. Von unseren vielen Ahs und Ohs angefeuert, stapelt die kundige Verkäuferin Decke um Decke auf die Ladentheke. Langsam wird mir mulmig. Was ist wenn der ganze Stapel kippt und uns quietschend, rasselnd  und scheppernd unter sich begräbt? "Was kostet  die Decke "Ferne Galaxien"?" frage ich schüchtern, um dem Verkaufsgespräch ein Ende zu bereiten. Die Antwort der Verkäuferin treibt mir den Schweiß aus den Poren. Bloß raus aus dem Laden! 
 
Als meine Tochter ein Baby war, gab es solch abenteuerliche Decken noch nicht. Hat mein Kind  Defizite zu verzeichnen, weil es keine frühkindlichen Deckenerlebnisse hatte? Wäre es musisch begabt und würde diverse Instrumente beherrschen, hätte es vielleicht schon erste Literaturauszeichnungen bekommen. Oder es würde es sich fließend in 10 Sprachen verständigen können oder sportliche Höchstleistungen erzielen! Im Geiste sehe ich mich als stolze Mutter neben meiner Tochter stehen, die mit Preisen überschüttet wird. Wenn schon nicht die Mutter, dann die Tochter. Da ich mein erstes Lebensjahr auf einem Topf in der Mitte eines winzigen Laufställchens verbringen musste, wie zahlreiche Kinderfotos von mir beweisen, konnte aus mir auch nichts werden. And the Oscar goes to ...
 
Die Stimme meiner Kollegin reisst mich aus meiner Gedankenwelt, denn wir stehen vor dem Baby-Ausstattungsgeschäft unserer Wahl. Das Warenhaus hat 7 Etagen! Beherzt gehen wir hinein. Gleich links neben dem Eingang lese ich auf einem großen Schild: Beruhigungssauger. Früher sagte man schlicht Nuckel. Heute benötige ich für's Kind Beruhigungssauger in diversen Ausführungen und noch mehr Farben. Wie sollen gestresste Eltern hier den passenden finden? Gnädige Frau, leidet ihr Kind unter Blähungen? Dann empfehle ich unseren rot-grün gestreiften Dreiecksauger. Oder schreit das Kind aufgrund einer Erlebnisüberforderung? Versuchen Sie es doch mit dem grüngepunkteten Quadratsauger...
 
Auf unserer Suche nach der ultimativen Erlebnisdecke passieren wir ein ganzes Bataillon von Kinderwagen und –buggies. Teilweise könnten diese Dinger einem Science fiction-Film entsprungen sein oder erinnern mich an Spirit, den amerikanischen Roboter, der durch Marskrater fuhr. Ein Werbeschild informiert mich, dass sich die fahrbaren Untersätze der Marke XY in Gestelle umbauen lassen, die es den erlebnishungrigen Eltern erlauben, weiterhin ihren Aktivitäten nachzugehen. Mit dem Baby paragliden, tauchen, kitesurfen oder bungee jumpen ist mit der richtigen Ausstattung gar kein Problem. Mit dem entsprechenden Zubehör lässt sich locker ein Achttausender mit einem Neugeborenen besteigen.
 
Nachdem wir auch die Babysachen hinter uns gelassen haben (och nein, wie süß..... Ist das nicht niedlich.... Guck mal...) gelangen wir endlich in die Abteilung für Erlebnisdecken. Jawohl, es gibt eine eigene Abteilung dafür. Existiert eigentlich die Berufsbezeichnung ‚Abteilungsleiter für Erlebnisdecken’ oder gar ‚stellvertretende Abteilungsleiterin für Beruhigungssauger’? Wir wühlen uns durch viele Decken in unterschiedlichen Farben mit noch unterschiedlichereren Preisen und Geräuschen, sprich Erlebnissen. Da unser Budget begrenzt ist, konzentrieren wir uns auf die preiswerten Ausgaben. Natürlich dauert es Stunden, bis wir uns für eine Decke entscheiden können. Aber so ganz sicher sind wir zum Schluss immer noch nicht. Schließlich hängt viel davon ab, auf welcher Decke das Wahrnehmungsvermögen von Baby Tobias die kommenden Monate geschult wird. Eventuell wird sich hier entscheiden, ob aus Tobias später ein gerissener Finanzhai, ein mit allen Wassern gewaschener Topmanager oder nur ein  Dauerstudent wird. 
 
Auf dem Weg zurück ins Büro hänge ich wieder meinen Gedanken nach. Warum gibt es eigentlich keine Erlebnisdecken für Erwachsene? Das Alltagsleben ist anstrengend und hektisch genug, da wäre ein kuscheliges Deckchen am Abend vor dem Kamin doch genau das Richtige zum Entspannen.
 
Natürlich darf hier nichts klappern, scheppern oder quietschen. Wo denken Sie hin? Mir schwebt eine Decke vor, auf der man mit harmonischen Klängen dem Alltag entfliehen kann und Ruhe und Wohlbefinden erlebt. Auf entsprechenden Knopfdruck entströmen aromatische Düfte und versetzen den Ruhenden in einen wahren Sinnestaumel.  Oder wie wäre es mit der Decke für Sportbegeisterte? Ein Druck auf den Knopf, schon läuft das Trainingsprogramm Ihrer Wahl ab. Eine limitierte Deckenausgabe könnte man zum Beispiel für die Karrierefrau mit wenig Freizeit herausbringen -  Programm: "In wenigen Minuten zum straffen body". Die Karrierelady kann die Decke im Büro ausbreiten und ihre Übungen während der Mittagspause absolvieren, und so in der Lage, abends viel länger zu arbeiten. Fernwehgeplagte entspannen auf einer Decke mit den neuesten Reiseberichten aus aller Welt,  Meeresrauschen inklusive – natürlich mit Internetzugang zum sofortigen Buchen des Urlaubs. Eine weitere Decke könnte Hobbyköchen die neuesten Kochrezepte suggerieren, mit eingebauten Küchendüften, die das Kocherlebnis umwabern.
 
Erlebnisdecken für Erwachsene! Das ist die Geschäftsidee. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Der Preis für eine Decke sollte ungefähr dem einer Luxuslimousine entsprechen. Vor meinen Augen erscheinen grüngepunktete und rot-grün-streifte Dollar- und Euro-Zeichen. Gleich heute abend werde ich bei einem schönen Glas Rotwein meinen ersten Prototypen entwerfen. Wie wäre es mit: Sex on the beach?

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.07.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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