Iris Bittner

Bahnfahrt mit Finchen

 

Finchen, meine ziemlich alte Nicht-Erb-Tante, die eigentlich Josefine heißt, aber seit Kindertagen zuerst Tante Finchen, mit beginnendem Erwachsenwerden seitens der Kinder nur noch Finchen genannt wird, ist eine Reisende zwischen zwei Wohnungen: Ruhpolding im Winter, den Sommer verbringt sie im schönen Frankenland, ihre beiden Katzen stets an ihrer Seite.Finchen besitzt hier ein kleines Haus, weit genug von dem meinen entfernt, um den Frieden wahren zu können, nah genug, dass ich regelmäßig nach ihr sehen kann.

Finchen war also wieder hier. Schließlich war es Frühling, höchste Zeit. Doch dieses Mal war eine mittlere Katastrophe passiert: Zitta, die grau-getigerte Katze, hatte sich vor Finchens Abreise unter dem Bett versteckt, ließ sich nicht mit guten Worten oder Katzenleckerli hervorlocken. Das Taxi war teuer, der Fahrer ungeduldig, letztendlich mußte die Katze zurückbleiben.Nur Elias, der große Kater mit wunderschöner Boazeichnug im dunklen Fell, reiste mit Finchen in ihre Sommerresidenz.

Das Lamentieren war groß, und ich versprach, am Wochenende mit Finchen nach Ruhpolding zu fahren, um die Katze zu holen. Natürlich fuhren wir mit der Bahn; meinen Autofahrkünsten traut Finchen nicht im geringsten, und ich hab auch sicher keine Lust, 4 Stunden lang anzuhören, was ich alles falsch mache, dass ich zu schnell fahre und dass ich besonders bei jedem Lastwagen, der uns begegnet, anhalten muß, damit wir nicht zusammen krachen...

Ich suchte also im Internet einen geeigneten Fahrplan und bestimmte, wir reisen ohne Gepäck. Wäsche zum Wechseln, Waschzeug, sonst nix! Finchen setzte das um, indem sie Freitag Morgen mit 2 gut gefüllten Reisetaschen, in denen sich noch etliche leere Taschen befanden, bereit stand, als ich sie um 7 Uhr abholte, um zum Bahnhof zu fahren.

„Also, in Gottes Namen! Und wenn ein Bus vom Bus-Bauer kommt, weichst du ganz weit aus und hältst an, denn der überfährt uns sonst sofort, der will mich nämlich umbringen!“

Am Bahnhof kämpften wir nur kurz mit dem Fahrkartenautomaten, denn um meine Nerven zu schonen, bat ich den nächstbesten Eisenbahner, meiner alten Tante dabei zu helfen.

Die Bahnfahrt mit dem Bummelzug nach Nürnberg verlief, nachdem wir das Einsteigen geschafft hatten, problemlos. Das Einsteigen ging so: zuerst werden die Taschen in den Zug gestellt. Dann jammert Finchen, dass doch hoffentlich die automatischen Türen nicht schließen, während sie gerade einsteigt, und sie doch nicht etwa einklemmen? Ich steige ein, nehme ihren Gehstock entgegen, reiche ihr die Hand. Sie klammert sich mit der anderen am Haltegriff fest, ich ziehe, sie klagt über Kreuzschmerzen und ist endlich im Zug. Also alles einigermaßen normal. Aber Finchen ist steigerungsfähig, und insgesamt mußte ich diese Prozedur ziemlich oft über mich ergehen lassen, bei Hin- und Rückfahrt je 6 mal ein und 6 mal aussteigen. Pozedur mal 12!

In Nürnberg kämpften wir uns mühsam über die Treppen (denn „ich benutze keine Rolltreppen, die bleiben plötzlich stehen und ich falle runter“) durch die Unterführung zum Hochgeschwindigkeits ICE nach München.

„Ob das der richtige Zug ist?“

„Ja!“

„Na, frag doch lieber mal einen Mann!“

Ich fragte also den Mann, der am nächsten stand, ob das der Zug nach München ist. Leider war`s ein Japaner, der kein Deutsch verstand, Als Finchen das mitbekam, zupfte sie mich aufgeregt am Ärmel.

„Den doch nicht, frag doch den nicht!“

Ich wiederholte meine Frage auf Englisch und bekam bestätigt, ja, dies sei der Zug nach München. Von Finchen nur ärgerliches Kopfschütteln.

Wir fanden einen gemütlichen Platz mit Tisch. Finchen packte umgehend ihre Brotzeit aus, und ich schloss mich dem Frühstück an. Finchen sammelte sofort die Salami von meinen mitgebrachten Brötchen runter, denn vom weißen Mehl kriegt man doch Magenschleinmhautentzündung, ob ich das denn nicht wüsste? Die Butter wurde mit dem Finger abgekratzt, alles irgendwie auf bröckeliges Knäckebrot gebracht, und dann, während sie ununterbrochen redete, brockenweise in den Mund geschoben. Zum Glück saß in der Nähe nur ein Student, der mit Knopf im Ohr Musik hörte und die Augen geschlossen hatte. So war`s weniger peinlich, denn neben dem unappetitlichen Anblick eines krümelspuckenden Finchens waren auch ihre Kommentare wirklich, wirklich schrecklich. Kein Themenfeld, über das sie nicht genaustens Bescheid weiß!

„Der Zug ist ja sehr schön und modern, hoffentlich kommen wir auch gut an und es passiert nichs.. Damals bei der Titanic haben die Leute auch gesagt, sie sei unsinkbar, und dann kam dieser Eisberg und so viele Tote!“

Ich wandte lässig ein, dass wir zu hundert Prozent auf unserer Reise von keinem Eisberg gerammt werden würden.

„Und dass die Amerikaner jetzt einen Schwarzen als Präsidenten haben, also so was!“

Als ich entgegnete, dass Obama nicht nur schwarz ist, sondern halb weiß, und deshalb beide Hautfarben gut vertreten kann, erfuhr ich, dass ja auch die Schwarzen in Amerika nicht studieren, aber ein Mischling ist ja doch vielleicht etwas intelligenter und hat also studiert, toll.

„Die Zigeuner in Ungarn sind nicht ganz so schlimm wie die Zigeuner in Rumänien, deren Frauen alle aus Indien kommen und sehr schön sind, aber die Männer gehen ständig auf Raubzug.

Die Arbeitlosen sollen erst mal arbeiten, bevor sie Geld verlangen, und die sind sowieso alle Lumpen.

Genau wie die Ausländer. Ausgenommen die Österreicher, das sind ganz feine Menschen und ja sowieso Deutsche. Jaja, beim Hitler war nicht alles schlecht, oh nein!

Es gibt 3 Arten von Abtreibung, was brauchen die Mädchen denn Männer, wenn sie die Kinder nicht haben wollen?

Aber die Angelika Merkel“, -“die heißt aber Angela!“ - „die wählst du doch nächstes Mal auch, nicht wahr? Denn die macht ja wirklich für alle was, die ist gut!

Weißt du noch, als du ein Kind warst, da waren wir mal zusammen in Salzburg. Was ich damals auch sagte, du hast immer widersprochen, wolltest alles besser wissen. Ein richtiger Trotzkopf warst du damals. Bist du eigentlich immer noch so?“

„Nein, ich bin inzwischen erwachsen, wovon ich nichts weiß, dazu sage ich auch nichts.“

Diese tolle Eingebung gab mir Gelegenheit, auf jeden Unsinn, den sie im Verlauf der Reise von sich gab, zu antworten: „ich weiß nichts über dieses Thema, kann also nichts dazu sagen...“

In München, nach der Aussteigeprozedur (hoffentlich geht die verdammte Automatiktür nicht gleich zu! Halt dich ja gut fest! Aua, die Hand geht doch nicht, den Arm hatte ich doch mal gebrochen, das tut noch weh!) latschten wir einen endlos langen Bahnsteig entlang, langsam, wie es mit Finchen halt nur geht, und erreichten, 8 Bahnsteige weiter, den Intercity nach Traunstein. Schon geübt, ging mir das Einsteigen leicht von der Hand und das Jammern nicht mehr so auf die Nerven.

Der Fahrkartenkontrolleur hatte 2 Streifen auf dem Uniformärmel, was Finchens höchste Bewunderung hervorrief, welch hoher Beamter das wohl sein müsse. Ich erklärt ihr, was die Streifen bedeuten: Einer, er kann lesen. Zwei, er kann schreiben. Drei, er kennt einen, der Lesen und Schreiben kann. Sie sah sich erschrocken um.

„Hoffentlich hat das keiner gehört, so was darfst du nicht so laut sagen, das kann ja schon Beamtenbeleidigung sein!“

Auch die Durchsagen in Deutsch und Englisch bewunderte sie zutiefst. „Das sind sehr gescheite Männer, die können sogar Englisch!“ Und diesen Satz hörte ich von da an nach jeder Durchsage.

Ankunft in Traunstein, routiniertes Aus dem Zug Klettern, und dann eine Stunde Aufenthalt. Es war ungefähr 13 Uhr, also Schulschluss, und der Bahnhof wimmelte von Schülern. Wir suchten uns eine Bank in der Sonne. Von dort aus beobachtete Finchen die Jugendlichen und sparte nicht mit lauter Kritik an den schamlosen Miniröcken der Mädchen, „ach ja, wenn die Röcke doch wenigstens nicht so eng wären, sonder eher weit, wie die Dirndlröck, aber so sieht das ja unmöglich aus.“

„ Also wirklich, Finchen, jeder kann doch anziehen was ihm gefällt, das ist doch nicht so schlimm! Die Mädchen haben doch hübsche Beine, die können sie doch sehen lassen“.

Im Gegensatz zu Finchen selbst, die folgendermaßen gekleidet war: Beige Cordhose, Bluse mit großblumigem Rosenmuster, darüber eine Weste mit Brokatfäden und kleinem, dafür besonders bunten Blumenmuster, darüber offen getragen eine himmelblaue Leinenjacke mit deutlichen Schmutzrändern an Kragen, Rückseite und Ärmeln, wogegen sich auf der Vorderseite die Reste diverser undefinierbarer Mahlzeiten befanden. Als Krönung, locker um den Hals geschlungen, ein kreischbuntes Seidentuch.

Gut, es ging also im Bummelzug weiter nach Ruhpolding. Eine sehr freundliche Bahnmitarbeiterin besorgte für Finchen einen Sitzplatz im überfüllten Schülerzug. Ich stand auf dem Gang neben ihr. Sogleich erfuhren die Schüler und ich, dass das Bahnpersonal früher nicht so höflich war, damals waren es lauter Stoffel. Aber seit dem Mauerfall sei das besser geworden, von der DDR hätten die doch alle Höflichkeit und Ordnung gelernt, dort sei das den Leuten befohlen worden, und sie hätten es uns beigebracht. Und dass wir uns alle doch bitteschön irgendwo festhalten sollen, damit keiner hin fällt und sich verletzt. Sie habe damit schon die schlimmsten Erfahrungen gemacht, sie sei schon so oft gefallen...Als ich dann bei einer Haltestelle die Taschen aus dem Weg räumte, weil zwei junge Frauen gerne austeigen wollten, wurde ich belehrt, dass das sicher keine jungen Frauen seien, allenfalls junge Fräuleins, denn Frau sei eine schließlich erst, wenn sie – naja, sowas halt.

Endlich in Ruhpolding! Meinen Vorschlag, mit einer Taxe zu ihrer Wohnung, die sich am anderen Ende der Ortschaft befindet, zu fahren, wies sie entrüstet zurück.

„Soll denn das Taxi an jedem Geschäft anhalten? Wir müssen doch unterwegs einkaufen!“

„Nein, wir müssen nicht einkaufen, alles, was du brauchst, bekommst du zu Hause, wenn wir wieder zurück sind!“

„Aber ich brauche doch auch ein bisschen was für heute!“

Das Bisschen was war dann: Im Reformhaus Diätkekse, Diätschokolade und 1 Kilo Hirse für die Hühner (die sie, wenn überhaupt, erst in ein paar Tagen in Breitenlohe bekommt!). Bei der Rewe Kaffee, Katzenfutter, Milch, Heidelbeeren. Sie wollte noch eine Salatgurke und Erdbeeren, aber ich konnte ihr die beiden letzten ausreden. Nun war mir klar, warum sie die ganzen leeren Taschen mitschleppen musste: damit sie ihre Einkäufe verstauen kann, die selbstverständlich ich schleppen musste! Beim Metzger Weißwürste, Schinken, Leberwurst, beim Bäcker ein Pfund Brot, beim Schlecker Katzenfutter und nochmals Diätschokolade. So tappelten wir im Schneckentempo durch ganz Ruhpolding. Ich, meine Reisetasche über der Schulter, in der rechten Hand Finchens Reisegepäck plus Einkäufe in mittlerweile 2 Taschen, Finchen schwer an meinem anderen Arm eingehängt mit ihrem Handtäschchen und dem unvermeidlichen Stocki in der Hand. Die Arme wurden mir schon lang, Ellenbogen und Schultern begannen zu schmerzen.

Wir gelangten an die von ihr schon im Vorfeld als besonders gefährlich geschilderte Kreuzung, wo die neue Umgehungsstraße die alte Ortstrasse trifft. Meine Aufforderung, an einer schmalen Stelle auf die andere Straßenseite zu gehen und ein Stück hinter der wirklich breiten Kreuzung wieder zurück auf unsere Seite, tat sie als Unsinn ab.

„Wir schaffen das aber hier an dieser breiten Stelle nicht, so große Lücken gibt’s hier nicht. Es ist Ferienanfang! Ein Auto nach dem anderen!“

„Ach Quatsch, die müssen halten, wenn Fußgänger auf der Straße sind.“

Zielstrebig marschierte sie also an der breitesten Stelle auf die Straße.

„Jetzt schau doch mal, da kommen schon wieder Autos! Also entweder du bleibst hier stehen und wartest, bis sie vorüber sind, oder du gibst dir etwas Mühe und gehst schneller, damit wir noch vorher hinüber kommen!“

Sie blieb natürlich nicht stehen und ging auch nicht schneller, dafür stand sie mitten auf der Fahrbahn plötzlich wie angewachsen.

„Also jetzt kann ich gerade nicht mehr, oje, mein Herz, ich muss mich mal ausruhen!“

Ich zog an ihrer Hand, um sie zum Weitergehen zu bewegen, doch sie machte sich bocksteif wie ein trotziges Kind. Und, tatsächlich blieben die Autos stehen!

„Siehst du, hab ich doch gesagt, dass die Autos für Fußgänger halten müssen!“ Nur eine winzige Nanosekunde wünschte ich boshafterweise einen gnädigen LKW herbei, dessen Lenker diese Regelung noch nicht kannte....

Es war etwa 14 Uhr 30, als wir endlich an ihrer Souterrainwohnung ankamen. Sie befahl mir, lautlos vor der Wohnungstüre stehen zu bleiben

„Denn wenn die Zitta dich hört, versteckt sie sich sofort unter dem Bett und kommt nicht mehr heraus, weil sie dich ja nicht kennt. Dann kriegen wir sie nicht mehr vor.“

Sie ging durch den Garten, um zunächst durch das Fenster zu sehen, ob Zitta in der Wohnung sei, Sie hatte hinter dem Fenstergitter, dessen Sprossen weit genug auseinander liegen, sodass die Katze hindurchschlüpfen konnte, das Fenster einen Spalt breit geöffnet gelassen, sowie die Jalousie eine handbreit hoch gezogen. Sie entdeckte die Katze tatsächlich in der Wohnung und zog das Fenster heran. Finchen sperrte die Katze in die Küche und öffnete mir die Wohnungstüre.

Während ich noch vor der Türe stand, sendetet ich ein Stoßgebet zum Himmel. Ich bat um gute Nerven und einen sofort einsetzenden Schnupfen mit verstopfter Nase. Half nichts, die Nase blieb frei, und so musste ich den Gestank nach Katzenklo und lange nicht gelüfteter Wohnung ertragen. Wobei zu sagen ist, dass Zitta die ganze Wohnung als Katzenklo betrachtet haben muss, inklusive Betten. Und dort sollten wir schlafen? Lässig wischte Finchen mit einem Tempo das Gröbste weg, „geht schon so!“ Die Katze musste noch 5 Minuten in der Küche warten, denn ich bestand darauf, erst mal gründlich zu lüften. Ich erhielt die Erlaubnis, ein Fenster 5 Minuten zu kippen. Dann wurde alles hermetisch verschlossen. Die Jalousien wurden herunter gelassen. Eine kleine 15 Watt Birne erhellte das unordentliche Appartement.

„Die Jalousien müssen herunter, denn draußen läuft immer so ein roter Kater herum, wenn Zitta den sieht, wird sie ganz närrisch und versteckt sich unter dem Bett, und wir kriegen sie nicht mehr vor!“

Und das bei 20 Grad und leuchtendem Gebirgs - Sonnenschein! Ich gierte nach viel frischer Luft und noch mehr Sonne!

Dann spazierte Zitta herein. Wir probierten umgehend, ob sie sich in den Transportkäfig stecken ließ. Und sieh mal einer an, es ging, sogar richtig gut! Sofort verschloss ich den Käfig, trug einen Stuhl in den kleinen Vorgarten und saß, entspannt endlich eine Zigarett rauchend, für wunderbare 20 Minuten in der Sonne. Endlich mal Ruhe!

Während Finchen in ihrer unaufgeräumten Küche damit beschäftigt war, Weißwürte warm zu machen, hatte ich eine grandiose Idee. Sofort nahm ich den Stuhl und begab mich zurück in die chaotische Wohnung.

„Du, ich hatte gerade ein tolle Idee. Da Zitta jetzt schon im Käfig ist, sollten wir sie gar nicht so lange in der Wohnung einsperren. Am Ende versteckt sie sich noch unter dem Bett, und wir kriegen sie nicht mehr vor! Weißt du was, wir lassen sie gleich im Käfig und fahren heute noch zurück. Für uns wird’s etwas anstrengend, aber für die Katze ist das doch die beste Lösung!“

Nach kurzem Zaudern willigte Finchen tatsächlich ein.

Finchen stärkte sich am ihren Weißwürsten, ich kümmerte mich schleunigst um das Notwendige. Also das Handy gezückt, Fahrplanauskunft eingeholt, Gepäckstücke eingesammelt. 40 Minuten später standen wir an der Haltestelle, die dankenswerter weise in Sichtweite zu Finchens Wohnung lag, und warteten auf den Bus nach Traunstein. Omnibus, das war ideal! Der von mir gefürchtete Fußmarsch zum Bahnhof blieb uns erspart!

Wir hatten noch 20 Minuten Zeit, aber ich drängte etwas, um aus der Stinkewohnung schnellstmöglich wieder herauszukommen. Und auch, damit Finchen keine Gelegenheit hätte, es sich nochmal anders zu überlegen.Für die Wartezeit besorgte ich mir aus der Tankstelle unmittelbar neben der Bushaltestelle einen Kaffee. Dieses entgegen Finchens Verbot, sie solange alleine an der Haltestelle stehen zu lassen, und überhaupt gibt es an Tankstellen keinen Kaffee, was ich denn denke! Meine Kaffeegier war aber stärker als meine sowieso schon arg strapazierte Engelsgeduld. Ich setze mich also ausnahmsweise mal durch.

Der Fahrplan gestattete uns leider in Traunstein nur 3 Minuten, um mit Katzenkorb, 2 Taschen voller Einkäufen, 3 Reisetaschen, Finchens Handtasche und Stocki und nicht zuletzt Finchen selbst am Arm von der Haltestelle durch die Unterführung zum Zug zu gelangen. Und dazu hatte der Bus satte 5 Minuten Verspätung! Finchen forderte also zunächst den Busfahrer auf, recht schnell zu fahren, damit wir den Zug noch erreichen. Auch sollte er bei der Bahn anrufen, um zu veranlassen, dass der IC auf uns wartet. Dann sammelte sie in weiteren 5 Minuten sorgsam das Kleingeld für die Bustickets aus ihrer Tasche und zählte es dem Fahrer auf den Zahlschalter. Was den Fahrer zu dem Kommentar veranlasste . „Na, den Zug kriegen sie so aber nicht!“

Unter lautem Schimpfen über die unmögliche Bauweise der modernen Autobusse, wo die Sitze so hoch angebracht seien, dass ein normaler Mensch gar nicht hinauf kommt, den Hinweis des Fahrers ignorierend, doch in der Mitte, wo die Sitze niedriger angebracht seien, Platz zu nehmen, turnte sie stöhnend auf einen Sitz, beklagte laut ihre Kreuzschmerzen, und wies mir herrisch einen Platz nahe dem ihrem zu.

Etwa ein Viertelstunde nach planmäßiger Abfahrt unseres Zuges erreichten wir Traunstein Bahnhof. Sofort stürzte ich mich auf den nächst erreichbaren Bahnbeamten, um zu erfahren, wann der nächste Zug nach München geht. Nachdem ich ihn überzeugt hatte, dass wir, trotz unseres abenteuerlichen Aufzugs, tatsächlich jeden Zug benutzen durften und nicht mit einem Wochenend-Billigticket in Bummelzügen unterwegs waren, erfuhr ich, innerlich jubelnd, dass der IC verspätet sei und wir ihn noch bequem erreichen würden.

Ich atmete auf. Finchen wäre es zuzutrauen, von Traunstein aus eine Kehrtwende schnurstracks nach Ruhpolding zu machen, hätten wir jetzt keine ordentliche Verbindung mehr bekommen! Leider hielt der verspätete Intercity nicht allzulange, das Einsteigen mußte also einigermaßen flott gehen.

Das war der Moment, an dem die Polizei ins Spiel kam, und wenn ich mir`s recht überlege, hatten wir Glück, dass es der einzige war - und auch blieb.

Das kam so: routiniert schob ich Katze und Gepäck in den Zug, stieg ein, nahm Handtasche und Stocki, reichte Finchen die Hand – und da pfiff der Aufsichtsbeamte zur Abfahrt! Finchen schrie augenblicklich gellend um „Hilfe, Hiiilfe, Haaaalt, Hiiiiilfe, die Türen gehen zu und klemmen mich ein, Hiiiiilfe!“

Wie aus dem Nichts erschienen zwei Polizisten, um der so aufgeregt um Hilfe flehenden Dame zur Seite zu stehen. Ich versicherte, alles sei in Ordnung, meine alte Tante sei halt schon 84, leicht zu ängstigen etwas nervös. Die beiden Polizisten lächelten verständnisvoll, erfuhren in aller Kürze von Finchen noch nebenbei, dass sie früher einmal zwei Rückenwirbel angebrochen hatte, wobei die Ärzte bei der Behandlung fürchterlich gepfuscht hätten, weshalb sie jetzt ständig Kreuzschmerzen erlitte, und während ich an Finchens Hand zog und die beiden von hinten schoben, gelangte Finchen auch diesmal unbeschadet in den Zug, ohne dass sie von diesen verdammten Automatiktüren eingeklemmt und zu Tode geschleift wurde!

Was sie den Polizisten in der Kürze der Zeit nicht erzählen konnte, nämlich dass auch bei der Behandlung ihrer einstmals gebrochenen Schulter ein schlimmer Ärtzepfusch daran schuld sei, dass ihr einer Arm seitdem 2 cm kürzer ist als der andere und sie oft unerträgliche Schmerze habe, erfuhren dann später die Mitreisenden im Zug nach München. Da ich in diesem Zug nur noch einen Sitzplatz hinter Finchen ergattern konnte, war sie gezwungen, ihre Lautstärke entsprechend zu steigern, und das gelang ihr erstaunlich gut, obwohl sie schon seit Stunden ununterbrochen geplappert hatte. Endlich erbarmte sich die Dame neben ihr im Sitz und bot mir an, die Plätze zu tauschen. Ich (und ganz sicher auch die Mehrzahl der Mitreisenden) war dafür sehr dankbar.

Der Rest der Fahrt war geprägt von wortreichen Schilderungen der guten Taten, die alle Heiligen jemals verbracht haben und derzeit noch täglich vollbringen, der namentlichen Aufzählung der Heiligen inklusive deren einzelner Aufgabenbereiche, und der wiederholten Aufforderung, ja alle Heiligen oft anzurufen, damit nichts passiert auf dieser Welt! Es folgte die Feststellung, dass früher alles besser war und heute eigentlich alles schlecht sei. Ich wagte den Einwand, dass ich die heutige Zeit doch eigentlich sehr positiv empfinde und dass ich gottseidenk noch nicht so alt wäre, dass ich ständig der guten alten Zeit nachtrauern müsse. Was mir die Rüge einbrachte, ich sei ja auch schon alt genug, um zu merken, dass früher wirklich alles besser war, immerhin ja auch schon über 50! Ich erinnerte mich schleunigst daran, dass ich ihr versichert hatte, zu Themen, von denen ich nichts verstehe, keinen Kommentar abzugeben und hielt die Klappe. Und bedankte mich im stillen bei meinetwegen allen dafür zuständigen Heiligen, dass ich höchstwahrscheinlich keinen der Mitreisenden in meinem Leben je wieder treffen würde, die Peinlichkeit sich also in Grenzen hielt. Die Mitreisenden lächelten teils verständnisvoll zu mir herüber, einige drehten aber auch genervt ihre Augen gen Himmel und erflehten vermutlich von einem der so hoch gerühmten Heiligen eine vorübergehende Stummheit meines Tantchens. Wurden allerdings nicht erhört!

In München gings wieder in den Hochgeschwindigkeits IC nach Nürnberg. Im Gegensatz zu morgens war der gut besetzt, die wenigen freien Plätze reserviert. Ich bat eine Reisende, ihren Koffer ins Gepäcknetz zu legen um für meine alte Tante einen Sitzplatz freizumachen. Während die nette Dame ihren Koffer also hochwuchtete, entdeckte Finchen, dass es sich um eine Frau ausländischen Aussehens handelte und erklärte lauthals, nein, hier nähme sie nicht Platz, nein, hier auf gar keinen Fall! Die Luft in diesem Abteil sei ja auch viel zu schlecht. Wir also wieder unterwegs, kämpften uns durch den schmalen Gang im vollbesetzten Zug nach vorne. Mit Einkaufstaschen, Reisetaschen, Katzenkorb und Stocki kein wirklich leichtes Unterfangen. Da, gleich drei leere Sitze, sogar mit Tisch!

„Hier kannst du nicht hin, sieh doch, das ist reserviert!“

„ Ach Quatsch, reserviert! Ist doch niemand da, oder siehst du jemanden?“

„Ich warne dich, du musst gleich wieder aufstehen, es kommt bestimmt gleich jemand, der den Platz reservieren ließ!“

„Wenn jetzt keiner da ist, kommt auch keiner mehr, Schluss jetzt!“

Schon saß sie, das Gepäck samt Katze auf den restlichen freien Plätzen ausgebreitet. Und schon war sie da, die dreiköpfige Familie mit Anspruch auf den Platz. Der Vater bat Finchen höflich, seine Plätze zu räumen.

„Was? Ich muss jetzt hier wirklich aufstehen? Mit all meinem Gepäck? Und mit der Katze?“

„Ja, ich bitte darum.“

Die Wanderschaft durch den inzwischen fahrenden Zug nahm also ihren Lauf. Ein Sitzplatz, eingezwängt neben einem dicken, schwitzenden Herrn deutschen Aussehens (oder sollte ich etwa sagen arischen???) war ihr dann endlich gut genug. Ich klemmte ihr Gepäck so gut es ging um sie herum, klappte das Tischen herunter und deponierte dort den Katzenkäfig. Froh, endlich meine Ruhe zu haben, nahm ich im Vorraum zwischen den Zugwaggons auf meiner Reisetasche Platz, genoss den Blick durch die bodenhohe Glastüre auf die Voralpenlandschaft und warf nur ab und zu einen besorgten Blick durch die ebenfalls bodenhohe Glastüre in das Zugabteil zu Finchen. Die machte ein Nickerchen und hielt endlich mal ihr Plappermäulchen.

20 Minuten vor der Einfahrt nach Nürnberg erwachte sie, und das war für meinen Geschmack mindestens 15 Minuten zu früh. Sie winkte mir, zu kommen, und befahl, sofort alles Gepäck zusammen zu packen, ihr in die Jacke zu helfen und uns umgehend aussteigebereit an die Türe zu stellen.

„Das muss man so machen, damit man aussteigen kann, nicht erst in letzter Minute, da gehen die Automatiktüren viel zu schnell gleich wieder zu und klemmen uns ein! Und Festhalten muss man sich, richtig festhalten, dann fällt man auch nicht um!“

Als nach und nach die anderen Reisenden herauskamen, wurden auch sie einzeln aufgefordert, sich ja gut irgendwo festen Halt zu suchen, „..und besonders Sie da, lassen Sie doch das Kind nicht von der Hand! Das ist doch gefährlich, so ein Kindchen alleine!“ (es handelte sich um einen etwa 9- jährigen Jungen, der nicht, wie Finchen es gerne gesehen hätte, an der Hand seiner Mutter hing, sondern ganz gelassen und selbstbewusst und ausgesprochen normal durch den Zug schlenderte).

In Nürnberg hatten wir dann das Glück, direkt auf dem gleichen Bahnsteig in den Bummelzug klettern zu können, der uns endlich auf die letzte Zugetappe nach Neustadt brachte. Da dieser Zug beinahe leer war, blieben mir weitere Peinlichkeiten erspart.

Das Aus dem Zug Klettern und der folgende Gang durch die Bahnunterführung in Neustadt ging nun noch viel langsamer als alle ähnlichen Aktionen zuvor. Finchen war von der langen Reise ziemlich angestrengt und todmüde, außerdem war keine Eile mehr geboten, kein Zug drohte, uns vor der Nase zu entwischen! Ich mit all dem Hackelpackel , schmerzenden Ellenbogen und verhärteter Muskulatur im Schulterbereich, schlug vor, schon mal vorauszugehen und das Auto vom Parkplatz zu holen. Nein, durfte ich natürlich nicht!

„In so einer Bahnunterführung, noch dazu abends (ca. 19 Uhr 30 und taghell) lauern sofort die Mörder, ganz zu schweigen von den Vergewaltigern! Eine Frau alleine ist hier in großer Gefahr, du genau wie ich, wir bleiben schön zusammen!“

Die bissige Bemerkung über Wunschträume sparte ich mir, schließlich war die Reise bisher ja einigermaßen friedlich verlaufen – und endlich zuende!

 

Nach dieser „wundervollen“ Bahnfahrt mit Finchen ziehe ich folgendes Fazit:

  1. Nie mehr eine Reise mit jemandem deutlich jenseits von Gut und Böse.

  2. Es gibt sowohl gute Tier- als auch angenehme Altenheime.

  3. Auf der ganzen Reise haben wir keinen Eisberg gerammt.

  4. Trotz allem mag ich mein Tantchen sehr. (Goethe, leicht abgewandelt: von Zeit zu Zeit seh ich die Alte gern...)

 

Iris Bittner (3.April 2009)

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.07.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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