Werner Wadepuhl

Pentecoste nella Toscana.

Der etwas andere Italienurlaub, erzählt von Werner Wadepuhl.


Vorwort.

Von Boston, aus Neuengland, zurückgekommen, sprudelten die gesammelten Eindrücke nur so aus mir heraus. Aus der Bretagne heimgekehrt hatte ich das unbändige Verlangen, erneut dorthin zu fahren und dieses Land zu malen. Als wir aus der Toskana zurückkehrten, war in der Erinnerung an diese Reise nichts, was das beglückenden Gefühl, wieder daheim zu sein, übertönt, verdrängt hätte, ja, es war fast so, als wäre ich mit leeren Händen zurückgekommen und ich schämte mich fast ein wenig, es zu sagen.
Tags darauf dachte ich mir, es gehört eigentlich schon eine Menge Mut dazu, zu behaupten, es seien so gar keine besonderen Eindrücke geblieben. Von Schnaken gepeinigt, von Alpträumen in einem uralten Haus gequält, von den meist ungewohnt hohen Außentemperaturen in seinem Tatendrang gebremst, von Tabus, Einschränkungen und Zwängen begleitet, war es denn wirklich nicht mehr?
Wenn ich heute, fast anderthalb Jahrzehnte später die Eintragungen in meinem Reisetagebuch lese, muss ich ein bisschen schmunzeln. Ich bin älter und auch toleranter geworden und wenn ich in den damaligen Aufzeichnungen blättere und die herrlichen Bilder betrachte, muss ich zugeben, es ist wirklich ein wunderschönes Fleckchen Erde. Doch woran lag es, das es mich nicht wirklich heiter, ja glücklich stimmen konnte? Es war eben so ein ganz anderer Urlaub als ich mir damals vorgestellt hatte und auch ich war ein anderer Mensch damals. Es wird an mir selbst gelegen haben, doch letztendlich war alles eine weitere Bereicherung meines Lebens.
Kritisch nachgedacht, so schrieb ich damals, bleibt eigentlich eine ganz einfache Antwort: es war schön, für mich aber eben einfach nur schön. Und das ist ja schließlich auch etwas. Muss es denn unbedingt immer mehr sein? Entscheiden Sie selbst.

Nach dem Piemont, der Lombardei und den beiden großen Inseln Sizilien und Sardinien ist die Toskana in der Rangfolge die fünftgrößte Region Italiens, verkörpert mit ihren Hügeln und Bergen eine landschaftliche Harmonie mit Olivenbäumen, Zypressen, Pinien, Kastanienwäldern und dem nicht zu übersehendem Anbau von Wein und sie beinhaltet eine Fülle von Schönheiten menschlicher Schöpfungskraft durch Florenz, San Gimignano, Volterra, Siena, Lucca, Pisa, ist nach dem düsteren Mittelalter Ausgangspunkt der Renaissance und ist untrennbar mit Namen verbunden wie Michelangelo aus Caprese, Leonardo aus Vinci, Dante aus Florenz, Galilei aus Pisa, Boccacio, in Paris geboren und in Certaldo gelebt, Puccini und Boccherini, beide in Lucca geboren. Ursprünglich geprägt durch die Etrusker, später den Medicis, die Fugger Italiens und nicht zuletzt durch den Humanismus findet man heute überall freundliche Menschen, eine gute Küche und wunderbare Weine.

Zufall oder Fügung?

Italien war uns nicht fremd. Die typischen Badeurlaube führten uns nach Jesolo, Finale Ligure, später mit den Kindern viele Male nach Terracina. Turin, Rom und Venedig waren uns vertraut. Carola ist in den Abruzzen geboren und Verwandtschaft lebt in Südtirol. Doch die Toskana kannte ich bisher nur durch die Windschutzscheibe auf der Autobahn.
Frances Mayes, eine amerikanische Kunsthistorikerin und Schriftstellerin, zu der Zeit, als ich ihr Buch in die Hände bekam in Kalifornien zu Hause, hat unter dem Titel „Unter der Sonne der Toskana“ die Geschichte vom Erwerb einer alten Villa, der Casa Bramasole und der sich über Jahre hinziehenden Renovierung während ihrer jährlichen Urlaubsperioden geschrieben. Es liegt in der Nähe von Cortona mit Blick auf den Lago di Tresimeno. Man erlebt die Probleme mit Behörden und Notaren, man leidet mit ihr unter den nicht erfüllten Zusagen der Handwerker, man freut sich mit ihr über ihr Verhältnis zur Bevölkerung, wie sie
über die Jahre die italienische Sprache zu beherrschen lernt und wie sie in die Charaktere, in die Eigenheiten der Toskaner, der Italiener hineinfindet und mit ihnen Freundschaften knüpft, wie sie ihre nähere und weitere Umgebung entdeckt, wie sie die Küche des Landes erobert und in zahlreichen Tipps und Rezepten an ihre Leser weitergibt und sie erzählt von ihren zahlreichen Gästen, die Jahr um Jahr den Fortschritt bei der Renovierung ihres Anwesens erleben und den Aufenthalt dort genießen. Das Buch wurde 2003 mit teils erheblich veränderter Handlung zu einem Film mit geteilter Kritik. Ihre ursprüngliche, unverfälschte, autobiografische Erzählung aber erweckte in mir den Wunsch, dieses wunderschöne Land endlich auch eigens zu erleben, von einem festen Standort aus in alle Richtungen zu entdecken. Und dass dieser feste Standort dann noch ein ähnlich altes Haus sein würde wie diese Villa Bramasole, verstärkte noch diesen Wunsch. Ja, ich ertappte mich sogar bei der Idee, nach dieser Frances Mayes zu suchen und ihr für ihr Buch zu danken. Das war die eine Seite der Medaille.

Die Gestaltung der anderen Seite findet sich im Beginn meines Ruhestandes. Ich hatte so meine Pläne, meine Flausen für diese letzte Lebensperiode, doch meine liebe Carola eben auch. Sie begann eine intensive Ausbildung zur Yogalehrerin, wobei ihr nicht nur eine ausgeprägte Begabung, sondern auch das erforderliche Körperbewusstsein und daneben auch ein Quäntchen Glück zugute kamen. Ich durfte einsehen, jetzt eben mehr für Haus, Garten, Küche und Hund zuständig zu sein, die Söhne waren erwachsen und aus dem Haus.
Es dauerte nicht lange und sie scharte ohne jeglichen Werbeaufwand Schülerin um Schülerin um sich, mitunter auch Schüler, aber das ist eher selten, ist mit ihrem heiteren Wesen und ihrer inzwischen erlangten Kompetenz beliebt und erfolgreich und kann sich des Zuspruchs nur noch dadurch erwehren, dass sie die Interessenten an Lehrerkolleginnen weiterempfiehlt.

Yogalehrerinnen und Yogalehrern gehört nach meinem Empfinden eine eigene, eine andere Welt. Das schließt auch eine ständige und mit große Disziplin betriebene Weiterbildung und Verfeinerung ein, physiologisch, psychologisch, philosophisch, anatomisch, Asanas für alles und jedes, Erfahrungsaustausch über den Umgang mit den Eigenheiten und zu berücksichtigenden Besonderheiten der Schüler und manches mehr und so bleibt es nicht aus, dass Carola in ziemlich regelmäßigen Abständen und das bis zum heutigen Tag, mal kürzer, mal länger auf irgendwelchen Fortbildungsseminaren weilt. Ich schätze diese Welt, ich schätze ihre Kolleginnen und ich muss die Veränderungen und Erfolge anerkennen, die sich im Laufe der Jahre bei ihr ergeben haben. Aber es ist nicht meine Welt. Ich habe es versucht, ich habe viel darüber gelesen, aber vielleicht ist es doch eher typisch männlich, sich mit seinen altersbedingten Gebrechen zu arrangieren als etwas dagegen zu unternehmen. Ich habe mich später mehr mit Huna und Zen beschäftigt und das hat mir eine Menge gebracht, ohne mich körperlich anstrengen zu müssen. Wer sich auf eine humorvolle und heitere Art über Yoga und den sich damit befassenden Menschen informieren will, dem empfehle ich das Büchlein „Schlampenyoga“ der überaus kompetent schreibenden und informierenden Schweizerin Milena Moser.

Irgendwann im Leben kommt dann einfach „zusammen, was zusammen gehört“. Carola erhielt eine Einladung zu einem Workshop über Pfingsten in die Toskana, der sie unbedingt folgen wollte und ich, der ich die Toskana ebenfalls kennen lernen wollte, beschloss, im Anschluss daran mit ihr dort noch einen Urlaub zu verbringen, nur wo, das war zu diesem Zeitpunkt völlig offen. Vielleicht könnte man ja Frances Mayes dabei besuchen gehen.

Carola schrieb also an Bianca einen Brief, in dem sie sich für diesen einwöchigen Workshop anmeldete, gab ihr ihre Anreisedaten bekannt, sie würde mit dem Zug bis Empoli fahren und dann irgend wie weiter kommen, versprach ihr, ihr Mann würde sie nach einer Woche dort mit dem Auto abholen, um irgendwo in der Toskana gemeinsam einen Urlaub zu verbringen. Wir hatten zu Hause bereits einen Stapel Prospekte studiert und konnten uns nicht so recht für ein bestimmtes Ziel entschließen, da uns die Gegend einfach persönlich fremd war. Deshalb bat Carola um ein paar Tipps zu einer empfehlenswerten Unterkunft, eine Ferienwohnung oder ein Ferienhaus, denn wir hätten einen Hund und der gehört nun mal zur Familie und soll uns begleiten.
Eine Woche später erhielten wir ein Fax, handschriftlich verfasst und mit einer Entschuldigung beginnend, sie hätte ein wiederum einwöchiges Seminar hinter sich und das Haus voller Gäste gehabt, daher die Verzögerung in der Beantwortung, aber sie könne uns ein Angebot machen, dass beiden Seiten helfen würde. Sie müsse, so schrieb sie, für zwei Wochen beruflich nach Griechenland und es wäre ihr sehr angenehm, wenn wir in dieser Zeit das Haus hüten, die Blumen gießen und ihre drei Katzen versorgen könnten. Wir könnten sogar länger, also auch nach ihrer Rückkehr noch bleiben. Das Haus sei groß genug und verfüge sogar über zwei Küchen. Dafür müssten wir nur die Hälfte des sonst üblichen Preises bezahlen.
Der Preis war zwar nicht ausschlaggebend für unsere Entscheidung, das Angebot anzunehmen, aber eine Freundin Carolas war bereits einmal dort und schwärmte von dem ganzen Ambiente in einer Weise, die uns überzeugte, keinerlei Risiko bei einer Zusage einzugehen.

Bianca habe ich nur ganz kurz am Ende unseres Urlaubs persönlich kennen gelernt und sie entsprach genau dem Klischee, das man im allgemeinen von einer Yogalehrerin hat, aber sie wirkte sympathisch, man muss sie mögen. Ich verrate hier keine Geheimnisse, sie hat ihr Grundstück vor einigen Jahren dann doch verkauft und sich irgendwo an der Riviera in der Nähe von San Remo niedergelassen. Ich verrate auch nicht ihren Nachnamen, einen Doppelnamen, den sie nach ihrer Trennung behalten hat, weil er in der Numerologie ein sympathischeres Ergebnis zeigte als ihr ursprünglicher Name. So hat sie wenigsten Carola gegenüber mal erwähnt und das macht sie irgendwie sehr menschlich.
Von Geburt aus Holländerin, ebenfalls studierte Kunsthistorikerin war sie mit einem Amerikaner verheiratet, als sie dieses Anwesen in der Toskana kaufte. Ähnlich wie der Mann oder Lebensgefährte von Frances Mayes im Film hatte wohl auch Jimmy, ich habe ihn nie kennen gelernt und nenne ihn einfach mal so, mehr an anderen Dingen des Lebens seine Freude als an der Landwirtschaft und so war Bianca irgendwann alleine, fühlte sich Not gedrungener Maßen wohl dabei und meisterte ihr Leben mit Angeboten für Yoga, kombiniert mit einem Urlaubsaufenthalt, wobei sie, wie in Amerika sehr ausgeprägt, auch zu einer Reisenden in Sachen Yoga wurde. Sie sprach neben Holländisch Englisch, Italienisch und auch ausreichend Deutsch und so schrieb ich ihr unter Benutzung einer ihr geläufigen Fremdsprache eine begeisterte Zusage. Dafür bekamen wir kurz darauf per Fax eine Skizze zur Wegbeschreibung für die Anfahrt zu diesem etwas abseits gelegenem Grundstück und eine in Englisch gehaltene Beschreibung mit dem Titel „Santa Maria, A Vacation Residence in Tuscany“.

Nach diesen Informationen sind Santa Maria und seine zugehörigen vier Hektar Land Teil eines alten Landgutes am Monte Albano. Umgeben von Olivenhainen und Weingärten biete es eine spektakuläre Sicht auf die toskanische Landschaft zu seinen Füßen. Santa Maria gehöre zu Faltognano, 300-350 Meter über dem Meeresspiegel gelegen. Ein kleiner Ort, vier Kilometer in den Hügeln über Vinci entfernt, der nächstgelegenen Stadt, berühmt als Geburtsort Leonardos. Das Gebiet im Umkreis von vier Meilen sei zur sogenannten Grünen Zone, einem Naturschutzgebiet vergleichbar, erklärt, was die Zusicherung enthält, dass keine Neubauten genehmigt würden. Das Haus sei etwa dreihundert Meter von der Dorfkirche entfernt, die auf dem Gipfel des Hügels läge und von der größten Steineiche Italiens dominiert würde. Es sei ebenfalls nur ein kurzer Weg in das Dorf hinunter, in dem es einen Gemischtwarenladen, einen Bäcker und eine kleine Bar gäbe.
Die nächstgelegene größere Stadt sei Empoli, etwa dreizehn Kilometer von Faltognano entfernt auf etwa halbem Wege zwischen Pisa und Florenz. Sie sei mit Faltognano zwei bis dreimal täglich durch eine Buslinie verbunden. Empoli hatte damals mit 35 Zügen täglich eine exzellente Bahnverbindung nach Florenz , mit 20 Zügen nach Pisa, beide mit internationalem Airportanschluss und auch nach Siena. Die Strassen in der Region seien gut, wenn auch kurvenreich in den Bergen. Vinci selbst sei interessant durch mehrere Volksfeste und als Geburtsort des großen Leonardo, sein Museum, die Bibliothek und jährliche Vorträge durch international anerkannte Wissenschaftler, alle bemerkenswert und stets auf den berühmten, hier geborenen Sohn bezogen. Im Herzen der Toskana gelegen sei Vinci auch ein idealer Ausgangspunkt für Rundreisen. Selbst wenn man nur ein paar Stunden zur Verfügung hätte, könne man die auf einem Hügel des Monte Albano Höhenzuges gelegene Stadt San Baronto, wie auch Orbignano, die Medici Villen in Cerreto Guidi und / oder Poggio bei Caiano besichtigen oder die berühmte Pontormo- Ausstellung in Carmignano und der Bergstadt San Miniato, eine Gründung Heinrich I., alles von großer historischer Bedeutung. Für Tagesausflüge seien geeignet Florenz, Pisa, Siena, San Gimignano, Certaldo, Pistoia und Lucca, um nur einige zu nennen.

Santa Maria, so liest man weiter, hat eine ungewöhnlich symmetrische Architektur und eine Rokokofassade aus dem Ende des 18. Jahrhunderts, wenngleich es einen noch viel älteren Kern enthält, der sogar bis ins 17. Jahrhundert zurückreicht, möglicherweise sogar noch früher bis in die Renaissance.
Während der äußere Umriss des Hauses unverändert blieb, wurde das Innere renoviert und modernisiert. Der als Urlaubsresidenz verfügbare Teil beträgt genau die Hälfte des Gebäudes, 150 Quadratmeter von insgesamt dreihundert.
Es folgt eine genaue Beschreibung der Räume, deren Lage und Ausstattung und so weiter. Ich möchte sie nicht weiter damit langweilen, zumal es inzwischen alles in anderen Händen und womöglich total umgekrempelt worden ist. Vielleicht noch erwähnenswert: alle Fußböden bestehen aus roten Klinkersteinen und die Wände sind schneeweiß. Nun wissen sie, wo wir diesen, etwas anderen Urlaub verbracht haben. Interessiert es Sie, wie wir da hingekommen sind und wie wir unsere Tage dort verbracht haben? Ich erzähle es Ihnen.

Die Anreise.

Carola fuhr mit der Bahn. Trotz wiederkehrender Horrormeldungen in den Medien über erhebliche Zugverspätungen, verpasste Anschlüsse und Chaos auf den Bahnhöfen bei Einführung des Sommerfahrplanes verließ sie am frühen Vormittag pünktlich den uns nächstgelegenen Hauptbahnhof, stieg fahrplanmäßig in München um in den Zug nach Florenz und dort ebenso planmäßig in den Zug nach Empoli, wo sie mit dem Abendläuten von Bianca empfangen und in ihrem Wagen nach Santa Maria gebracht wurde. Mir war etwas mulmig zumute, ob alles geklappt hatte, denn in München standen nur neun Minuten zum Umsteigen zur Verfügung. Daher rief ich am Abend in Faltognano an und konnte danach doch wesentlich ruhiger schlafen.
Unsere Kontakte die Woche über blieben spärlich, wie sie überhaupt zwischen uns immer spärlicher wurden, seit Carola nach ihrem Lebensabschnitt als Hausfrau und Mutter quasi ein neues und für sie erfüllendes Leben begann, während ich mich nach einem interessanten und abwechslungsreichen Berufsleben nur noch mit den täglichen Lappalien eines zum Hausmann und Koch bestimmten Rentners beschäftigen konnte und zwangsläufig viel alleine war. Carola hatte ihr Programm und war beschäftigt. Ich hatte ersatzweise wenigstens Nelly, meinen Hund. Und dann musste ich bei diesem Telefongespräch auch noch zur Kenntnis nehmen, das Alkohol im Haus und Fleisch in der Küche absolut tabu sind und Carola möchte sich auch mit mir an diese Regel halten. Ausnahme hiervon gelten nur für die Katzen und unseren Hund. Darauf übte ich zu Hause schon mal mit vegetarischen Rezepten und bei dieser Küche ist es mehr oder weniger bis heute geblieben.

Fährt man mit dem eigenen Wagen, kauft man sich am Besten erst mal wieder eine Landkarte und zwar die Generalkarte Toskana von Marco Polo und dann macht man einen Plan. Denn wie sagte schon Odysseus? „Nichts ist nämlich für Menschen so schädlich wie irrendes Schweifen“.
Da es mit prognostizierten 35 Grad Celsius einer der heißesten Tage des Junis zu werden drohte, beschloss ich dann doch, bereits um vier Uhr früh loszufahren, um mit Nelly wenigstens teilweise der Hitze zu entgehen, denn an eine Klimaanlage im Auto hat damals noch kaum jemand gedacht, geschweige denn sie gehabt.

In geduldiger Kleinarbeit zählte ich die Distanzen zwischen den einzelnen Orten am Wege zusammen, kam auf 728 Kilometer und schätzte eine Fahrzeit einschließlich notwendiger Pausen von etwa neun Stunden. Wie einfach ist das heute. Man sucht sich im Internet einen Routenplaner, gibt Abfahrts- und Zielort ein und bekommt alles Wissenswerte aufbereitet. Fast alles, denn wenn sie Faltognano eingeben, erhalten sie fünfzig Orte ähnlicher Schreibweise zur Auswahl, nur nicht das Nest, in das ich wollte. Also versuche ich es mit Vinci und lese 743 Kilometer und eine theoretische Fahrzeit von sieben Stunden und einer Minute. Wunderbar. Jetzt noch die vier Kilometer bis Faltognano und den letzten Rest bis Santa Maria und ich bin bei Carola.
Wenn da nicht ein Berthold Brecht, Sohn unserer Nachbarstadt, in seiner Dreigroschenoper gesagt hätte: „Ja, mach nur einen Plan und sei ein großes Licht. Und mach noch einen zweiten Plan, gehn tun sie beide nicht!“
Die deutsch-österreichische Grenze bei Scharnitz erreichte ich planmäßig. Aber dann war das „Pickerl“, die Vignette für die Benutzung der österreichischen Autobahnen gefragt. Das gab es an der Tankstelle, aber die öffnete die Kasse erst um sieben Uhr in der Früh und brauchte dann noch einige Zeit, bis der Computer hochgelaufen war, ohne den die Kasse nicht funktionierte. Das kostete uns Beiden eine gute Stunde, die wir zu Hause hätten länger schlafen können. Die Weiterfahrt auf den Autobahnen Österreichs und Italiens lief dann aber ohne nennenswerte Störungen und so erreichte ich mit einigen kleineren Pausen für Nelly und für mich gegen dreizehn Uhr Vinci, einen sauberen, überschaubaren Ort, der mir gut beschildert den Weg Richtung Faltognano wies.

Der Rest war eigentlich ganz einfach und mit der von Bianca erhaltenen Wegbeschreibung kein Problem, wenn man sich genau an die Skizze hält und nicht nach der Adresse geht. Die Gemeindeverwaltung in Vinci hatte nämlich damals im Ortsbereich Faltognano alle kleinen Sträßlein und Wege in dieser Gegend fein säuberlich mit dem Namen Via St. Maria ausgeschildert und jede Parzelle mit einer neuen Nummer versehen. Wer da wie ich nach Faltognano 35 suchte, stand vor dem falschen Haus.
Man fährt also am Ortsausgang von Vinci einfach geradeaus weiter, folgt beim Parkplatz zum Casa di Leonardo dem Wegweiser Faltognano und wartet auf ein kleines, links abzweigendes Weglein. Dort schaltet man in den ersten Gang, hofft, das nichts entgegenkommt und tastet sich auf diesem „Cinque Cento“ Weg durch meterhohes Gras zur letzten Abzweigung, fährt dort geradeaus und steht auf einer Wiese vor einem Gebäude, dass irgendwie von Fotos der besagten Freundin Carolas, die schon dort war, sehr bekannt erscheint.
Wir waren lange nicht mehr auf Urlaub in Italien. Gut, wir waren im November letzten Jahres in Girlan und haben auch mit Lire bezahlt. Aber Girlan ist Südtirol und Südtirol ist eben nur politisch Italien und ansonsten überwiegend deutschsprachig, österreichisch, autonom. Diesmal war es wirklich Italien und es hat sich seit den Siebziger Jahren um Einiges verändert. Was mir auf der Fahrt hierher persönlich auffiel: es ist sauberer geworden. Vermeide Müll, trenne Wertstoffe, non disperdere il vitro nell’ ambiente, werfe nichts in die Umwelt, Ermahnungen, Parolen, die einem überall begegnen. Und es scheint reicher, wohlhabender geworden zu sein, auch für einem weiteren Bereich der Bevölkerung. Ein gewisser Wohlstand zeigt sich nicht nur in den größer gewordenen Autos. Der Wohlstand zeigt sich vor allem in den Schaufenstern, den Preisen und dem Wert der Lira. Man sollte sich die Mühe machen und einmal nachforschen, wo die Lira vor zwanzig Jahren gestanden hat. Ich glaube mich zu erinnern, dass man für eine Deutsche Mark damals etwa 1500 Lire oder noch mehr erhalten hat und die Umrechnung, mal abgesehen von den zu berücksichtigenden drei Kommastellen, in etwa mit dem Schweizer Franken vergleichbar war. Heute bekommt man für eine Mark nur noch knapp 900 Lire. Da fragt man sich unwillkürlich, wer macht eigentlich dieses Geschrei von der stabilen deutschen Währung. Lire hätte man zu Hause horten sollen und wäre recht reich dabei geworden. Aber das hat anscheinend kaum einer bemerkt.
Was wir wahrscheinlich auch nicht gemerkt hätten, darauf hat uns Bianca hingewiesen. Als sie 1974 dieses alte Bauernhaus, dieses Gehöft mit vier Hektar Land gekauft hatte, hätte es keinen einzigen Singvogel gegeben, erzählte sie uns. Singvogelfresser haben wir damals die Italiener beschimpft. Sie haben inzwischen nicht nur ihre Grünen, ihre Umwelt- und Naturschützer. Ich glaube, sie sind wirklich allgemein umweltbewusster geworden.
In Faltognano gab es Spatzen, Amseln, Stare, Schwalben, Buchfinken, Kuckucke, Nachtigallen und einige andere Vögel, die wir nicht unbedingt kannten. Am exotischsten aber war eine Wiedehopffamilie, upupa sagt man auf italienisch dazu, Papa, Mama und drei Junge. Leider so scheu, dass sie selbst mit dem Teleobjektiv nicht einzufangen waren und ob sie wirklich so stinken, wie eine deutsche Redewendung besagt, war auf die Entfernung nicht zu ermitteln.
Und am späten Abend immer wieder fasziniert zu beobachten waren die Glühwürmchen. Als Jugenderinnerung wusste ich nur noch, dass sie ganz einfach in der Nacht leuchten. Dass sie aber wie ein Airliner am Himmel mit Blinklicht daher kommen, war auch für mich ein neues Erlebnis.
Fledermäuse gehörten natürlich in der Dämmerung genau so dazu wie ab und zu ein Käuzchen, das ebenso wie die Katzen hier mit einem reichlichen Mäuseangebot verwöhnt wurde.

Das Landgut Santa Maria.

Es ist, wie bereits beschrieben,ein symmetrischer Bau, bestehend aus etwa drei gleich großen Quadern harmonisch wirkender Abmessungen. Ein in Ostwestrichtung stehender Mitteltrakt mit geschwungener Balustrade als oberen Mauerabschluss, die den Blick auf das nur mäßig geneigte Pultdach teilweise unterbricht, wird von zwei gleichgroßen Seitengebäuden flankiert, die sich allerdings durch die Anordnung der Fenster und Türen unterscheiden, wobei die Anzahl der Fenster sehr spärlich und ihre Anordnung etwas ungewöhnlich wirkt.
Der linke Teil, ursprünglich wohl Stall und Scheune hat im Obergeschoss zwei bis zum Boden reichende Doppelflügeltüren mit gerasterten Jalousien, unten ein größeres Tor und daneben eine kleine Zugangstüre. Der rechte Flügel hat im oberen Geschoss lediglich zwei Fenster, eines nach Süden und eines nach Westen, unten eine inzwischen verkleinerte Türe, man sieht noch den ursprünglichen Torbogen. Möglicherweise war es ein weiterer Stall oder eine Remise, beherbergt jetzt aber den Yoga – Übungsraum. Der Mitteltrakt mit seiner der Sonne ausgesetzten Südseite besteht überwiegend aus Wand und zeigt nur drei kleine, unsymmetrisch angeordnete Fenster oben und zusammen mit einer weiteren Tür ein einziges Fenster zur Küche unten. Das aus teils unregelmäßig großen, behauenen, teils aus naturbelassenen Steinen bestehende Mauerwerk wurde wohl irgendwann mit einer Putzschicht versehen, die irgendwann alters- und wetterbedingt wenigstens teilweise die Wände wieder freigegeben hat, ohne das es ungepflegt wirkt. Es gehört zur Patina, bietet fotogene Details, wie einen Rosenstock an der Wand neben diesem besagten mit massiven Eisenstangen vergitterten Küchenfenster, alles in hellblau gestrichen, einer kleinen, ausgetretenen Steintreppe zum links liegendem Hauseingang mit zahllosen Topfpflanzen, einem kleinen gemauerten Vorbau, vielleicht mal eine Sitzbank, ebenfalls blumengeschmückt wie auch zahlreiche weitere Topf- und Kübelpflanzen die die Liebe der Gastgeberin zu Pflanzen und Blumen belegen. Alles erinnert irgendwie auch farblich an Carl Spitzweg und seine Bilder aus der Biedermeierzeit. An der Ostseite ruht ein Vordach auf drei Backsteinsäulen, zwei ebenso aus Ziegelsteinen außen wohl nachträglich angebrachte Schornsteine mit einer zusätzlichen kleinen Luke im Obergeschoss vervollständigen das Bild und die gesamte Rückfront verbirgt sich hinter einer hohen Mauer, die nur einen schmalen Spalt zur Hauswand frei lässt und den Berg dahinter abhalten soll, in das Haus einzudringen. Und rundherum ist nichts wie Natur, Natur pur.
Doch das Haus wirkt tot, ohne Leben, abgesehen von der Blumenpracht, die es umgibt und ein paar Hühnern aus der Nachbarschaft, die kopfnickend über den Hof nach Essbarem picken und an Krähen auf einem Friedhof erinnern. Doch das ringsherum wuchernde Gras erzeugt einen fast unbewohnten, beinahe verlassenen Eindruck.
Wann war hier das letzte Kinderlachen, wann saßen zuletzt Oma und Opa auf dem gemauerten Bänkchen vor dem Haus. Gab es das hier überhaupt oder waren hier nur Armut, Elend, Krankheit und Zank zu Hause? Carl Spitzweg hätte hier reichlich Details für das Ambiente, die Staffage seiner Bilder gefunden, aber Heiterkeit, Heimat, Geborgenheit, die Ausstrahlung fehlte.
Ähnlich wirkte auch das Innere. Hinter dicken Mauer strahlte Sauberkeit, soweit das in altem Gemäuer möglich ist, aber auch Dämmerung. Helligkeit und Wärme oder angenehme Kühle und damit etwas Düsternis, die Bauherren hatten sich für letzteres entschieden. Mehrere Male bin ich Nachts, von skurrilen Alpträumen gequält, aufgewacht. Es war kein Spukschloss, aber irgend etwas geisterte in den Räumen, was ein wenig auf die Seele drückte.

Das Grundstück lieg auf der Westseite des Monte Albano Höhenzuges, der gebotene Panoramablick wird im Osten begrenzt durch die höher gelegene Kirche von Faltognano mit der besagten 1000jährigen Steineiche. Weiter südlich im Uhrzeigersinn liegen in der welligen, durch helle und dunkelgrüne Felder parzellierten und mit Pinien- und Zypressengruppen durchsetzten Ebene im Vordergrund Vitolino, links dahinter die letzten Häuser von Montelupo, denen sich fast nahtlos das etwa 13 Kilometer entfernte Empoli anschließt. Südwestlich davon schlängelt sich ein Stückchen Arno, der Bogen zwischen Vitiano und Margignano und dahinter auf der kleinen Kuppe San Migniato. Im Westen bildet der bis auf 917 Meter ansteigende Monte Pisano den Horizont. Dahinter liegen Pisa und die Küste zwischen Viareggio und Livorno.
Nach Norden wird der Blick durch die sanften Hügel des Monte Albano begrenzt, dessen Kuppen überwiegend von dichten Kastanienwäldern bedeckt sind und an dessen Hängen sich eine wunderschöne Strasse nach Pistoia windet, dem Geburtsort der Pistole. Noch weiter rechts schließt sich der Kreis wieder mit dem Kirchlein von Faltognano.




Vier Hektar Land

und kein Landwirt im Haus. Wiesen, mit ihrer Vielfalt an Blumen und Gräsern viel zu schade, genäht zu werden, aber es muss halt sein. Überwucherte Terrassenmauern, von denen niemand mehr weiß, wer sie gebaut hat. Vielleicht waren es sogar noch die Etrusker. Am Wege Johanniskraut. Vielleicht sollten wir es abschneiden, trocknen und als Tee mit nach Hause nehmen, bevor es gemäht wird. Aber wann erntet man es, wann ist der richtige Zeitpunkt dafür, um seine Wirkung voll zu entfalten? Wildblumen aller Arten leuchten aus den Wiesen, die zum Rasen deutscher Reihenhausgärten keinerlei Verwandtschaft haben, am Wegesrand inmitten von Rosensträuchern eine alte Tonvase, eine hüfthohe Amphore, in der früher einmal Olivenöl aufbewahrt wurde, Jasmin, der seinen betörenden Duft verbreitet, da ein Bündel Lilien, die sich irgendwann selbst ausgesät haben, Kirschen, die niemand erntet, an uralten Kirschbäumen, mehr oder weniger wilde Pflaumen, die von der Sonne verwöhnt täglich reifer werden und die niemand braucht, Mirabellenbäume, deren Zweige unter der Last der gelben Früchte zu Boden hängen und Feigen, deren Blüten sich inzwischen in kleine Früchte verwandelt haben. Als ich Bianca nach ihrer Rückkehr erzählte, dass sie im Herbst bei uns auf dem Markt fast zwei Mark das Stück kosten, hat sie mich spontan zur Ernte eingeladen. Im Herbst seien reichlich genug vorhanden und man könne sie eigentlich nur sorgfältig trocknen.
Dominierend in diesem Grundstück aber sind die Olivenbäume, einhundertsechzig an der Zahl. Bianca ist nicht nur stolz darauf, sondern wurde deswegen auch in der Fachpresse erwähnt, weil sie mit ihrer biologisch wohl artgerechten Behandlungsweise in den strengen Wintern Mitte der Achtziger Jahre praktisch keine Verluste hatte, während ringsherum die überdüngten Bäume reihenweise dem Frost zum Opfer fielen. Auch heuer haben sie wieder gut angesetzt und wir wünschen Bianca zur Ernte im Spätherbst beste Voraussetzungen.

Beschäftigung gibt es auf diesem Grundstück immer und wenn man sich nur den schönen alten Tisch mit den gedrechselten Beinen und der Schublade unter der Tischplatte aus dem Stall holt und in die Mitte des mit Platten belegten Vorhof stellt, um mal Tagebuch oder Briefe zu schreiben und dabei ein Gläschen Chianti zu genießen, denn außerhalb des Hauses galten andere Regeln. Oder man unterhielt sich mit der Nachbarin, die fließend italienisch in einem verständlichen Dialekt spricht und sich schämt, schon 85 Jahre alt zu sein. Man glaubt es ihr auch nicht. Man kann natürlich auch und das gehörte zu meiner täglichen Arbeit, mit bescheidenen Mitteln den Kampf mit dem meterhohen Gras aufnehmen und dies nicht nur der Optik wegen sondern wegen der davon ausgehenden Feuersgefahr, die sich hier immer wieder durch kleine Brände in der Natur bestätigt. Dann muss man das Zeugs aber auch trocknen und wegräumen, denn nass gestapelt neigt es eben auch zur Selbstentzündung. Logischer wäre, sich hier ein paar Schafe oder Ziegen zu halten. Aber wer kümmert sich um sie, wenn die Hausherrin beruflich abwesend ist.

Die Katzen.

Die einzigen, ständigen Lebewesen auf diesem Hof sind, abgesehen von Vögeln, Mäusen und einer millionenfach vertretenen Insektenwelt die drei Katzen. „It requires to feeding three cats“ hatte Bianca in ihrem Fax zur Bedingung gemacht. Warum nicht, vorausgesetzt, sie akzeptieren uns.
Überaus selbstbewusst, kein bisschen scheu und uneingeschränkte Herrin im Haus war Meta. Äußerlich behindert durch ein offensichtlich einmal gebrochenes und falsch zusammen gewachsenes rechtes Hinterbein, suchte sie stets unsere Nähe, wies Nelly in ihre Schranken und beglückte uns jeden Morgen, begleitet von stolzem Geschrei, mit einer toten Maus. Wie sie dabei jedes Mal ihren Weg über das erwähnte Vordach durch diese kleine Luke in unser Schlafzimmer fand, ist alleine schon bewundernswert, wenn für uns auch ein Rätsel.
Dass sie sich anschließend in meinem oder Carolas Bett von ihren nächtlichen Streifzügen erholte, war für Nelly absolut nicht begreifbar und auch nicht akzeptabel. Und so konnte es passieren, dass ich wie ein in Stein gemeißelter Etrusker auf einem Sarkophag in meinem ziemlich schmalen und freistehendem Bette lag, links zu meinen Füßen Meta und rechts, sie nahm sich das gleiche Recht heraus, Nelly. Das geschah in der Regel so kurze Zeit vor dem Aufstehen und war somit akzeptabel.
Mehr als einmal bekam Nelly ein zartes Bussy auf die Nasenspitze. Wenn Nelly dann allerdings meinte, dies berechtige zu weiteren Intimitäten und dazu, Meta auch mal am anderen Ende zu beschnuppern, bekam sie unmissverständlich eine gewischt. Tröstlich, dass auch Tiere zuweilen diesem Missverständnis erliegen.

Dann war da Nero, der schwarze Kater. Irgend jemand hat ihm irgend wann den Schwanz ausgerissen und zwar so gründlich, dass an seiner Stelle eine Delle zurückblieb. Das machte ihn nicht nur misstrauisch jedem Fremden gegenüber und da gehörten nun einmal auch wir dazu, er konnte auch nicht so differenziert seine Gefühle ausdrücken wie es einer kompletten Katze möglich ist, vorausgesetzt, man versteht es. Er lebte wie Meta im Wesentlichen von Mäusen und war mitunter so satt, dass er sie tot gebissen einfach irgendwo liegen ließ.
In den ersten Tagen kam er nur in der Morgen- und Abenddämmerung, um zur Abwechslung sein Kittekat mit Vollkornnudeln zu futtern. Als Bianca wieder da war, ließ er sich auch hin und wieder einmal streicheln. Doch sein Misstrauen gegenüber Nelly blieb bestehen und Nelly nutzte das nur gar zu gerne zwischendurch auch aus. Meist war er aber irgendwo in unserer Nähe, saß mit Vorliebe etwas erhöht, um vor allem den Hund im Auge zu behalten oder wurde von einer schönen Perserkatze aus der Nachbarschaft besucht, von der ich verstanden zu haben glaubte, sie hieße ebenfalls Bianca, die aber schlichtweg nur il gatto gerufen wurde.
Als Katze ohne Schwanz machte sie schon einen recht eigenwilligen Eindruck und erinnerte an die Artgenossen auf der Isle of Man. Aber die hatten zumindest noch einen hasenschwanzähnlichen Stummel vorzuweisen.
Und dann gab es noch Stella, die keine Mäuse mochte, weder roh noch gekocht und die sich aus dem gleichen Napf ernährte, der für Nero bereitstand. Stella machte uns echte Sorgen, denn sie hatte ein geschwollenes und geschlossenes rechtes Auge, ganz offensichtlich Schmerzen, ließ sich nicht greifen und versteckte sich den ganzen Tag. Wenn die Hühner aus der Nachbarschaft nicht schneller waren, bekam sie einen Rest von Neros Futter. Wir sahen sie in den ersten Tagen recht selten. Erst als Bianca wieder zurück und mit ihr beim Tierarzt war, der ihr einen dieser überaus lästigen Grassamen mit langen Grannen aus dem Auge entfernt hatte, wurde sie etwas zutraulicher. Sie würde zwar auf diesem Auge nicht erblinden, meinte der dottore, doch man sah, dass etwas nicht in Ordnung war.

Nelly musste in der ersten Woche beinahe täglich neu angelernt und darauf hingewiesen werden, dass man Katzen nicht unbedingt auf die Bäume jagen muss, schon gar nicht, wenn man bei ihnen zu Gast ist. So richtig überzeugen konnten wir sie eigentlich nicht. Sie war aber dann mit uns versöhnt, als sie wenigstens die Hühner vom Hof jagen und das Katzenfutter verteidigen durfte.
Doch, so ein Katzenleben in dieser Gegend ist schon etwas schönes. Man muss nur darauf achten, nichts ins Auge zu bekommen und noch schöner wäre es natürlich, wenn man nicht ständig diesen schwarzen Köter im Auge behalten müsste, der meint, einen vom Hof jagen zu müssen. Ein intimeres Verhältnis zu ihnen aufzubauen gelang uns leider nicht. Sie blieben wie Zöglinge in einem Waisenhaus und, alle drei durch irgendetwas behindert, nur unsere Kostgänger, wenngleich Meta sich nur zu gerne zu uns auf den Tisch legte, Aber anfassen, streicheln, nein, das wollte keine und so hatte Nelly zu keiner Zeit einen Grund, eifersüchtig zu sein.

Die Küche.

Als zentraler Lebensraum hinter dicken Mauern stilecht bäuerlich, rustikal, mit einem Mobiliar aus dunkel gebeiztem Kastanienholz und ebensolche Balken in kurzen Abständen an der Decke blieb ihr als Blickfang trotz Renovierung die alte, offene Kochstelle mit dem gewaltigen Rauchfang erhalten, romantischer Feuerplatz für kühle Wintertage.

Einfach, unverfälscht und harmonisch wie die Landschaft sei auch die Küche der Toskana, schreibt Marieluise Christl-Licosa in ihrem Buch „Italienisch kochen“ und man findet weder Überfluss noch die verspielten Schnörkel der französischen Küche. Reis und Teigwaren sind längst nicht so dominierend wie in anderen Regionen, dafür viel Gemüse und noch mehr Kräuter. Eine „Bistecca alla Fiorentina“, armdick geschnitten und auf Holzkohle gegrillt, anschließend gewürzt und mit Olivenöl bestrichen, womöglich noch mit gehobelter Trüffel garniert oder „Arista“, jene aus Schweinefleisch und Gemüse bestehenden Grillspieße gehören natürlich zu den kulinarischen Köstlichkeiten, aber nach den Regeln des Hauses und einer am Leben zu erhaltenden Vegetarierin eben tabu. Uns hat das reichhaltige Angebot des Gartens ernährt. Ich kann mich kaum noch erinnern, viel anderes außer Brot, Olivenöl, Butter, Käse und natürlich Fleisch für Nelly eingekauft zu haben, doch, Bohnen, Bohnenkerne in allen Farben und Größen. „Mangiafagoli“, Bohnenesser sei der Spitzname für die Toskaner, hat mir ein Kollege in Turin später verraten.
Ob dicke Suppen, Gemüsepfannen oder einfach nur Salate, stets mit Olivenöl bestrichenem und in der Pfanne geröstetem Weißbrot begleitet, die zwei Wochen Toskana waren kulinarisch leicht zu überstehen und auf jeden Fall sehr gesund.

Vinci

ist mehr ein ursprüngliches Kastell, ein Hügeldorf, erinnert sich stolz an seinen großen Sohn und hat ihm in einem den Ort dominierende Turm dieses Kastells ein umfangreiches Museum gewidmet. Schwerpunkt der Ausstellung bilden ohne Zweifel eine erstaunliche Vielzahl an Modellen zu Militär- und Baumaschinen, wissenschaftliche Geräten bis hin zu seinen Ideen für Fluggeräte und Hubschrauber. An die vierzig solcher Modelle von hohem Wert sind präzise beschrieben und mit Leonardos Skizzen und Plänen belegt. Auch eine Vielzahl seiner Zeichnungen, Bilder und Studien gehören zur liebevoll ausgestalteten Präsentation.

Und dann gibt es da ein sogenanntes Geburtshaus von Leonardo. Bianca als studierte Kunsthistorikerin hat uns natürlich aufgeklärt.
Danach war Leonardo zunächst ein sogenanntes uneheliches Kind und wurde erst später von seinem Vater in die eigene Familie aufgenommen und das Haus, worum es hier geht, wurde noch viel später von Leonardos Vater gekauft. Macht aber nichts, zumindest bis zur Einführung der digitalen Fotografie haben Agfa, Kodak und Fuji eine Menge daran verdient und nicht nur Japaner und Amerikaner sind überzeugt davon, auch deutsche Touristen pilgern in Scharen getreu ihren Reiseführerhinweisen hierher.
Auch wir laufen eines nachmittags hinunter, keine zwei Kilometer entfernt. Aber eigentlich wollten wir am Parkplatz auf einen Tipp von Bianca hin guten Blütenhonig kaufen. Doch wir waren offensichtlich zu spät dran, denn es gab nur Bonbons in allen zugelassenen Lebensmittelfarben, aber keinen Honigmann. Zum Ausgleich finden wir am Wegesrand einen dicken Reiseführer zur Toskana und das in Deutsch. Nur waren weit und breit keine deutschen Landsleute zu ermitteln und so wohnt er jetzt bei uns. Weil wir auf der Suche nach den Verlierern dann schon mal am Geburtshaus waren, haben wir andächtig die große Gedenktafel gelesen, die von der Gemeinde Vinci errichtet wurde und das sorgfältig gepflegte Anwesen ebenfalls fotografiert einschließlich dieser großen Rosette, die nicht nur den Mittagsmeridian anzeigt, sondern auch die Himmelsrichtungen zu allen bedeutenden toskanischen Städte.
Wir haben anschließend noch den Jahrmarkt besucht, neben ein paar Lebensmittel, die es nicht in Biancas Garten gab, ein duftigluftiges Sommerkleidchen in Carolas Lieblingsfarben erstanden und uns anschließend je einen Cappuccino gegönnt. Bei einem weiteren Bummel durch dieses überschaubare Örtchen gab uns dann Nelly eindeutig zu verstehen, dass sie die Hitze nicht mag und nach Hause möchte und das entsprach dann auch fast meinem eigenen Wunsch.

Am Freitag, nach einer Woche,

waren dann endlich mal Wolken am Himmel und die Temperatur somit in einem Bereich, in dem man auch einen Hund ins Auto locken konnte. Also raus aus der Einöde und hin zur Kultur.
Auf der meist von Pappeln flankierten Landstrasse bummeln wir über Empoli und Castel Fiorentino nach Certaldo, wo links oben ein malerischer, einheitlich aus gebranntem Ton erbauter mittelalterlicher Altstadtkern herüber grüßt, der auch ein Bocacchio Museum beherbergt – das war der mit dem Decamerone - , biegen hier rechts weg Richtung Gambassi und hinter der Bahnlinie gleich wieder links dem Wegweiser folgend nach San Gimignano, das nur knappe fünfzig Kilometer von unserem Urlaubsdomizil entfernt weithin sichtbar auf
einer Anhöhe liegt.
„La Citta delle belle Torre“ nennen sie die Toskaner heute mit ihren noch dreizehn von ehemals siebzig sogenannten “Geschlechtertürmen”. Irgendwie sehr reizvoll anzuschauen, solange man nicht im Reiseführer mit der Geschichte dieser Stadt konfrontiert wird. Neid, Hass, Großmannssucht und blutige Fehden zwischen den zahlreichen Adelsfamilien haben vor rund achthundert Jahren dazu geführt, dass jeder, der es sich leisten konnte, so einen fensterlosen Turm in die Stadt gestellt hat, in dem er sich notfalls verschanzen konnte, wenn es mal wieder Haue setzte. Die Bauverwaltung der Stadt stellte lediglich die Bedingung, dass kein Turm höher als das Rathaus, der Palazzo di Populo sein durfte und das sind immerhin dreiundfünzig Meter. Als die Stadt später unter florentinische Verwaltung gestellt wurde, hat man die Türme teilweise abgerissen, andere zerfielen von selbst.
Wir waren von der Landschaft ringsherum so begeistert, dass wir völlig vergessen hatten, die eindrucksvolle, sich gegen den Himmel abhebende Silhouette von Gimignano zu fotografieren. Der Parkschein, den uns ein alter Etrusker liebevoll und umständlich per Hand ausfüllte, ist auch kein Beweis, dass wir dort waren, denn die cooperativa, die den am Fuße der Stadtmauer recht hübsch angelegten Parkplatz betreut, hat, wie das vorgedruckte Formular verrät, ihren Sitz in Pisa. Und da waren wir ganz bestimmt überhaupt nicht. Doch, ein Bild hat Carola innerhalb der Stadtmauern geknipst, auf dem Weg zu einem im Reiseführer empfohlenen Restaurant namens „An der alten Mauer“, das aber leider erst um siebzehn Uhr öffnet, und ein kleines Rosengärtchen, das in echt weitaus schöner wirkte. Als wir dann endlich auf der vielbefahrenen Strasse mal anhalten konnten, war uns lediglich noch ein Bild vergönnt, dass für Aquarellmaler wohl schon hundertfach als Motiv diente, ein Hügel, im Vordergrund dichter Kastanienwald, auf der Anhöhe ein Landgut, zu dem ein mit Zypressen umrahmter Weg führt und dahinter am Horizont im Dunst liegende Höhenzüge.

Nach ungezählten Kurven und Auf und Ab durch diese Landschaft, die immer wieder von Neuem entzückte, stellte sich Hunger und Appetit auf köstlich toskanische Küche ein und schon tauchte hinter der nächsten Steigung in einer Kurve ein ristorante auf, dessen kleiner Parkplatz zum abrupten Halt führte. Wir fragten ein im Aufbruch befindliches englisches Ehepaar, wether they could us recommend the kitchen of this house, aber they have had a small snack only. Banausen.
Die ersten fünf Meter an der Bartheke entlang sahen alles andere als einladend aus. Aber dann wurde es nicht nur gemütlich, sondern wir wurden auch recht lieb bedient und es schmeckte prima. Natürlich musste ich nach soviel Abstinenz ein toskanisches Nationalgericht bestellen, papardelle cinghiale, breite Nudeln mit Wildschweinragout. Carola blieb standhaft bei Tagliatelle con porcini, mit Steinpilzen.
Während wir in diesem alten Gemäuer, den noch verbliebenen Steintrögen entlang beider Längswände nach einstmals eine Stallung, und Nelly unter dem Tisch ihr Schläfchen machte, zog draußen ein kleines Gewitter mit heftigem Regen vorüber. Nicht gerade angenehm für eine Gruppe von Radwanderern, die man hier allenthalben trotz der mitunter sehr hügeligen Landstrassen zu sehen bekommt. Danach war die Luft rein, die Sicht klar. So legten wir auf nasser Strasse noch die wenigen Kilometer bis Volterra zurück, das allerdings so hoch droben auf dem Berg zu finden ist, dass wir dann doch noch ein Stück durch die Wolken fahren durften.

Was soll man noch großartig über Volterra schreiben. Es gibt ja so viele Reiseführer und Bildbände. Die teils recht stattlichen Gebäude der Stadt sind ausschließlich aus Ziegeln errichtet mit ebensolchen Dächern versehen. Dieser warme rotbraune Ton ergibt zwar eine heimelige Atmosphäre, aber es ist auch alles eben sehr alt, ich möchte nicht unbedingt in einer dieser engen Gassen wohnen. Auf jeden Fall gilt es als Zentrum des Alabasters und weil Carola nicht nur Katzen und Eier sammelt und wir –rein zufällig – in einem der zahlreichen Alabasterläden neben Skulpturen von Michelangelo und Pferdeköpfen in allen Dimensionen auch Eier in allen Schattierungen fanden, haben wir einfach zwei davon käuflich erworben. Jetzt liegen sie irgendwo zu Hause herum.

In Siena waren wir am Mittwoch,

einem siebzehnten Juni, einem einst für uns traurigen Gedenktag. Mit uns waren gleichzeitig so viele Menschen aus aller Welt dort, dass ich den Eindruck hatte, jeder Mensch dieser Erde soll wohl mindestens einmal in seinem Leben Siena besucht haben.
Fünf Stunden waren wir in dieser Stadt. Davon haben wir auf dem Rückweg eine dreiviertel Stunde unser Parkhaus gesucht. Zwei Stunden hätten genügt. Denn im Prinzip gibt es dort neben den gleichen, alten Gebäuden wie in Volterra, deren Hausfluren und Kellerfenstern ein gleichförmig muffiger Geruch entströmt, nur zwei Arten von Wegweisern, zum Campo und zum Dom. Zu dem unter den Stadtmauern verstecktem Parkhaus weist keiner zurück.
Ich will nicht ungerecht sein. Siena ist nach allen Reiseführern zu urteilen nun mal die Krone der Toskana. Aber was San Gimignano in überschaubarer Art bietet und was in Volterra so gerade noch als, na ja, immer noch zu ertragen ist, das ist in Siena einfach zu viel. Wie schlimm müssen die touristenüberströmten Städte Florenz und Pisa im Sommer sein.

Wir haben uns der Stadt über die Tangentiale genähert und ein sehr zweckmäßig am Stadtrand gelegenes und in den Berg hinein gebautes Parkhaus gefunden. Durch einen Torbogen im Universitätsgelände gelangten wir dank besagter Wegweiser sehr rasch zum Campo, jenem Platz, wo alljährlich zweimal dieses berühmte, als härtestes Pferderennen der Welt bezeichnete Spektakel, ausgetragen wird, der Palio di Siena. Wir haben keines davon erlebt, glaubten aber auch ohne den hierzu stets aufgeschütteten Sand am Strand von Rimini zu sein. Es waren so ziemlich alle Sprach- und Altersgruppen vertreten und mit etwas Geschick konnte man von den internationalen Fremden- und Stadtführern eine Menge Wissenswertes aufschnappen, ohne ständig die Nase in den Reiseführen stecken zu müssen. Dominierend natürlich der Palazzo di Populo, das Rathaus, ihm gegenüber dieser schöne Brunnen, an den sich jeder erinnert, der schon mal in Siena war und unübersehbar die fast nahtlos aneinander gereihten Restaurants, Cafés, Eisdielen und Pizzerias am Platzrand. Erdrückend für uns nach tagelanger Einsamkeit empfanden wir dann doch diese unglaubliche Menschenmenge.

Als Siena 1268 von Florenz in der Schlacht bei Monte Riggione geschlagen und in den Landkreis integriert wurde, begann seine Blütezeit und man beschloss, den größten Dom der Toskana zu bauen. Leider kam 1348 die Pest dazwischen, wie ich den Erläuterungen einer italienischen Fremdenführerin in bezaubertem Deutsch entnehmen konnte, während ich mit Nelly geduldig auf Carola wartete, und dann sei das Geld ausgegangen und die wenigen Überlebenden hätten auch in einer kleineren Kirche Platz gefunden. Was heute zu sehen ist, zeigt sich immer noch recht gewaltig. Dreihundertsechsundzwanzig Stufen führen auf den Torso der ursprünglich geplanten und nur teilweise verwirklichten Eingangsfront. Carola erscheint ganz oben fast nur als dunkler Klecks gegen den inzwischen wieder wolkenlosen Himmel.
Überwältigend in seiner schier überladenen Art und mit einem kurzen Rundgang wirklich nicht zu erfassen ist das Innere des Domes mit seinen eigenwillig schwarzweiß gestreiften Säulen und Wänden, von einer Besucherflut durchspült, dass man meint, in den Markthallen Bostons zu sein. Das Faszinierende aber sind die erstaunlichen Mosaiken des Fußbodens, zum Zeitpunkt unseres Besuches allerdings weitgehend mit Planen abgedeckt. Dort aber, wo eine Gruppe junger Menschen, möglicherweise Kunststudenten oder angehende Restaurateure mit der Reinigung dieser bunten Steinmalereien beschäftigt waren, herrschte das dichteste Gedränge.
Ich war nicht der Einzige, der entweder mit Hund oder mit Kinderwagen oder mit Beidem geduldig vor dem Dom ausharrte, während die liebe Frau Gemahlin im Innern einen in Kunst und Bildung machte. Wahrscheinlich war ich einer der weniger Begabten, die sich meinem Hund zuliebe auf dem um den Dom führenden Sims im Schatten niederließ und dafür von oben sitzenden Tauben bekleckert wurde. Soll ja Glück bringen und das habe ich nun mal, meistens.
Denn als ich langsam ungeduldig wurde und mir außerdem ein gutes italienisches Essen vorschwebte, standen wir wenig später vor genau dem Lokal, das Carola gerade in dem gefundenen Reiseführer aus Seite zweihundert unter mehreren Hinweisen vorgelesen hatte, nämlich „La Grotta Del Gallo Nero, gute toskanische Küche, angenehme Atmosphäre“. Es saßen etwa vierzig mandeläugige Stupsnasen an vier langen Tischen, von denen nicht wenige freundlich lächelnd Nelly zu sich an ihren Tisch zu locken versuchten. Doch wir rätselten noch eine Weile, denn als Japaner waren sie fast etwas zu rustikal gekleidet, oder doch nicht?

Den Wanderweg numero quattordici

haben wir bereits einen Tag vorher ausprobiert, als es noch so richtig heiß war. Nelly war noch jung und rüstig und lief trotz ihres schwarzen Zottelpelzes brav neben uns mit. Deshalb sind wir auch schon früh am Morgen losgelaufen, hinauf zur Kirche von Faltognano, wo ein Wegweiser für diesen Weg die Richtung zeigt, hinauf in den Wald und dann immer leicht und zunächst schattig bergan.
Wenig später ging es auf einem Forstweg in praller Sonne Richtung Norden. Da standen zwei Autos im Gras am Wege und während wir noch überlegten, wie die wohl hierher gekommen sind, brachen kanadischen Elchen gleich, zwei ältere Herren auf allen Vieren kriechend aus dem Unterholz hervor, jeder ein Körbchen mit prächtigen porcini, Steinpilzen in der Hand.
Dass die hier schon zu ernten sind, haben wir auf dem Markt in Vinci gesehen. Aber wie kommt man in dieses dichte Gestrüpp, in diese macchia ohne Machete? Wahrscheinlich kennen diese alten Herren ihre Plätzchen genau und krabbeln dorthin auf den Knien, so wie sie herausgekommen sind. Wir sind jedenfalls auf dem Forstweg geblieben und haben nach einer halben Stunde im schattigen Wald an einer Wegkehre eine gefasste Quelle gefunden, die auch Nelly erfrischte und erreichten nach einer weiteren halben Stunde den am Wegweiser erwähnten „torre“.
Es gibt nicht allzu viel dazu zu sagen. Die Ruine steht so ziemlich an höchster Stelle dieser Gegend, Reste eines quadratischen Turmes von angelehnten Gebäuden unterschiedlicher Höhe und Größe umgeben, alles nach oben offen, vielleicht mal irgendwie mit den Geschlechtertürmen San Gimignanos verwandt. Interessant ist der Blick ins längst zugewucherte Innere, der sehr deutlich noch die für die Toskana typische Deckenkonstruktion erahnen lässt, dicht beieinander liegende Kastanienbalken, auf denen die Reihen von Tonziegeln des Fußbodens gelegt wurden.. Wahrscheinlich wäre es eine schöne Aufgabe, dieses Gemäuer zu restaurieren. Aber wer will schon so abgelegen wohnen. Im Fremdenführer wird er mit keinem Wort erwähnt, dieser „torre“. Hundert Schritte weiter Richtung Osten steht die geballte Kraft der Telekommunikation in Form einer Vielzahl von Richtantennen und das Rauschen und Raunen um sie herum lässt erahnen, wie viele Menschen sich gerade übers Handy, übers „telefonino“ schrecklich Wichtiges mitzuteilen haben.
Bis zum Mittagessen waren wir wieder zu Hause und genossen die Kühle der Küche in ihren dicken Mauern.

Das war er, unser Urlaub in der Toskana.

Mag sein, dass andere mehr daraus gemacht hätten. Es gäbe ja so unendlich viel zu sehen, vor allem, wenn man sich mit der Geschichte des Landes vertraut macht. Natürlich kann man begeistert von einem Etruskergrab zum nächsten pilgern und sich in die damalige Zeit zurückversetzen lassen. Natürlich kann man von einer Kirche zur anderen eilen und die unglaubliche Vielfalt und Schönheit ihrer Gestaltung bewundern. Man müsste auf jeden Fall Florenz und in Pisa besucht haben, sonst darf man sicher gar nicht behaupten, in der Toskana gewesen zu sein. Man muss die Marmorbrüche bei Carrara und der näheren Umgebung gesehen haben und man muss am Strand von Forte di Marmi und Viareggio womöglich in Zwölferreihen gelegen oder in der Maremme die wilden Büffelherden mit den echten italienischen Cowboys erlebt haben, um behaupten zu können, man kenne die Toskana. Ob ein Hund, der nun mal zu uns gehört, an all dem seine Freude gehabt hätte, steht auf einem anderen Blatt.
Dass wir Drei, Carola, mein Weib, eine Woche länger als Nelly, unser holländischer Hirtenhund und ich hier auf diesem alten Landgut, pódere sagen die Italiener dazu, fast wie in der Wildnis gelebt haben, ohne Nachrichten, ohne Zeitung, ohne Fernsehen und ohne Wetterbericht, ganz einfach nur eng mit der Natur verbunden, in Gesellschaft dreier Katzen, ein paar netter Nachbarn und dem typischen, nie versiegendem Geräusch der von knatternden Zweitaktmotoren angetriebenen Rasenmäher, die wie ein Rucksack auf den Rücken geschnallt und einem Rohr, am Ende mit rotierendem Messer oder Nylonfaden in der Hand, zu jeder freien Stunde die verbreitetste Waffe der Anwohner waren, dem wuchernden Gras entgegen zu treten, dass wir von einigen wenigen Ausflügen wie beispielsweise nach Pistoia, San Gimignano, Volterra und Siena im wesentlichen zu Hause blieben und Abend für Abend mit Nelly hinauf zum Leccio, zu der auf dem Kirchhof stehenden riesigen, immergrünen Steineiche stiegen, um den Blick über dieses wunderschöne Land wandern zu lassen, das Leonardo da Vinci zum Hintergrund seiner Mona Lisa machte, das war für mich eben schön, aber eben einfach nur schön. Vielleicht sollte man dieses Land weniger verheiratet, sondern mehr verliebt erleben
Nach Cortona, zur Casa Bramasole und damit zu Frances Mayes bin ich leider nicht gekommen, obwohl es nur etwa zwei Autostunden entfernt gewesen wäre. Wir haben im Wesentlichen die Einsamkeit und die Schönheit der Natur genossen, die vielleicht mit einer Wanderung entlang der naturgeschützten Küste zwischen Talamone und Marina di Albarese, einem Teil der Maremme südlich von Crosseto, ihre krönende Ergänzung gefunden hätte. Aber wir waren entspannt und dankbar und genossen Abend für Abend die Sonnenuntergänge über dem Monte Pisano in immer wieder neuer Pracht.
Um das Land aber in seiner ganzen Fülle zu erfassen, zu begreifen, müsste man es wohl erwandern, und zwar nicht als einsamer Wanderer, sondern zu zweit, mit einem liebenden und liebenswerten Partner von gleichen Interessen, mit dem man unbeschwert diese Schönheiten teilen und gemeinsam genießen kann, von den Marmorbrüchen im Nordwesten bis zur Maremme im Süden und natürlich Florenz, Arezzo, Siena, Grosetto, Pisa, Lucca, Pistoia und, nicht zu vergessen, auch die Insel Elba gehört zur Toskana.

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