Christina Wolf

Bahnsteig 8

Auf dem Bahnsteig 8 fuhr gerade ein Zug aus der Schweiz ein, viele bepackte Menschen aller Nationen stiegen aus und ein. Ich saß auf einer Bank und schaute dem hektischen Treiben zu mehr aus Langeweile, Fernweh hatte ich nicht. Der nächste war schon von weitem zu hören und aus dem Lautsprecher erklang eine freundliche Stimme: "Achtung auf Gleis 8, der ICE aus Mailand fährt in einer Minute ein und hält nur fünf Minuten!" Die Reisenden standen schon längst bereit, aufgeregt, rücksichtslos und ohne eine freundliche Miene an den Tag zu legen. Mir war die Lust vergangen und wollte mich gerade von meiner Bank erheben, als ich ein kleines Händchen auf meinem Knie spürte. Vor mir stand ein kleiner Junge, etwa fünf Jahre alt mit Lederhose, karriertem Hemd und grauer Strickjacke. Einen schwarzen Rucksack mit einem Edelweiß be- stickt, trug er stolz auf seinem Rücken.- Ja, sag mal, bist du ganz allein? Wo ist deine Mama? - Zu Hause halt in Bern, die Oma holt mich hier schon noch ab. Nur ist es so, dass sie nachmittags schläft und den Wecker vielleicht nicht gestellt hat oder sogar den Tag verwechselt hat. Sie weiß manchmal nicht, ob es Sonntag oder schon Montag ist. Sie verwechselt vieles, sagt meine Mama, in letzter Zeit, aber mich doch nicht, oder? - Ich bin nämlich ihr ein und alles, sie freut sich schon lange auf ihren Julian. Aber wohin ich auch schaue, ich kann sie nicht erblicken. Zwar ist sie klein und zierlich, aber ihre dicke, dunkle Brille müsste ich doch schon von weitem sehen. - Inzwischen hatte er sich neben mich gesetzt. Ich hatte zum Glück ein paar Süßigkeiten in meiner Handtasche, die ich ihm anbieten konnte, und er griff auch ungeniert zu. Er erzählte unbefangen von den vielen Vorteilen, die er bei der Großmutter jedesmal erfahren durfte. Sie kochte immer seine Lieblings- speisen, er durfte lang aufbleiben, waschen und kämmen nahm sie nicht so genau, und auch sonst war sie sehr großzügig mit Geschenken und von ihren Gute-Nacht-Geschichten konnte er nie genug bekommen. Sie waren so spannend und manchmal auch gruselig! - Mein Opa lebt schon lange nicht mehr, und ich bin sozusagen ihr einziger Beschützer und Alleinunterhalter, denn sie hat auch kein Haustier.Die Wohnung ist zu eng,  aber für mich viel gemütlicher, als in unserem großen Haus. Zu uns will sie nicht ziehen, die schweizer Sprache kann sie nämlich nicht ausstehen. Allmählich machte ich mir Sorgen. - Hör mal Julian, wo wohnt denn deine Oma, hast du vielleicht die Adresse mit Telefonnummer in deinem Rucksack aufbewahrt? - Ja, ja, das schon, aber es ist ja immer noch hell draußen, sie wird bestimmt noch kommen. - Scheinbar gefiel ihm mit mir die Unterhaltung.  - Aber ich habe jetzt keine Zeit mehr und auch Hunger, weißt du, suche mal nach der Adresse, dann kann ich dich bei ihr abliefern oder wenigstens mal mit ihr telefonieren. - Und so kam es, dass ich eine Stunde später mit ihm bei seiner geliebten Großmutter auf dem alten Sofa bei einer Tasse Kaffee und Kuchen saß, und eine Freundschaft entstand noch über etliche Jahre hinaus. Jedes Jahr zu Weihnachten schrieb er mir einen rührenden Brief mit seinen besten Wünschen von Daheim und auch seine Oma hatte inzwischen eingesehen, dass die Sprache gar nicht so schwer ins Gewicht fällt, um die Heimat zu verlassen. Zumal sie jetzt immer mehr vergaß und sich auch mal gern verwöhnen ließ von denen, die sie so sehr in ihr Herz geschlossen hatte, und ihr Julian genießt weiterhin die Favoritenrolle, ganz egal, was die Zukunft auch bringen mag.

 

                                                                        E n d e

 

Christina Wolf, Lahr

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.07.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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