Maria Stern

Glückwünsche

Glückwünsche

 

Heute, den 20.01.2009 wird Barack Obama zum Präsidenten der Vereinigten Staaten vereidigt.

Das werden selbst seine Kinder wissen, nach dem Abendprogramm. Und sie werden um seine Rührung wissen und er wird versuchen, ihnen alles kindgerecht zu erklären: das mit der Sklaverei und der Bush-Ära und das es ein Phänomen ist, eigentlich ein Ehepaar gewählt zu haben.

Wahrscheinlich wird dies das erste historische Ereignis sein, an das sich seine Kinder erinnern werden und er ist froh, dass es ein freudiges ist.

 

Sein erstes historisches Ereignis war kein Ereignis sondern eine Zustand. Ein Zustand, dessen Dunkelheit und Beklemmung er erst gewahr wurde, als er sich in ihm auflöste. Schlagartig.

In dem Moment, als ihm der Deutschlehrer mitteilte, dass Berlin seit letzter Nacht eine Stadt geworden war.

Er nahm noch wahr, dass der Lehrer mit dem Unterrichten fortfuhr, verachtete seine Mitschüler für ihr beiläufiges Interesse, doch hatte das alles schon nichts mehr mit ihm zu tun sondern mit einer Welt, die die Dimension der Ereignisse nicht erfassen konnte, weil österreichische Kinder eben österreichische Kinder waren und er hier ein Deutscher war, in dem Maße, wie er in Deutschland ein Österreicher ist.

Er saß im Klassenzimmer, betäubt, Zeit und Raum enthoben und unerträglich nahe bei sich, rannte aufs Klo, sperrte sich ein und heulte und hielt sich die Brust fest, in der der harte, lebenslange Druck des Verbotenen, des nicht zu Begreifenden, des nicht zu betretenen Landes sich zu lösen begann und es an seiner statt begann, licht zu werden.

So licht wie die Novembersonne am Nachhauseweg, die am nassen Asphalt blendete, als er, Tauben jagend, immer und immer wieder innerlich jubelte: Wenn das möglich ist, ist alles möglich…

 

Da sitzt er also, am 20.01.09 vor seiner Nähmaschine und jagt den blauen Stoff mit einer Geschwindigkeit durch seine Finger, dass es selbst ihm auffällt, dass das alles bloß ein Ablenkungsmanöver ist.

Heute ist ein historischer Tag, ja, ein freudiger, und in ihm nur verklumpte Nichtgedanken. Dann das Innewerden der Sogkraft die der Verdrängung zueigen ist und dann, wieder wie immer, der tiefe Schmerz.

Die Nähmaschine blockiert. Der Faden reißt. Er flucht, dass der Kater vom Tisch springt und statt zu weinen, holt er einen kleinen Kreuzschlitzschraubenzieher und beginnt, die Maschine zu zerlegen und die Ursache ihrer Fehlfunktion ausfindig zu machen.

Heute hat seine Mutter Geburtstag.

In der Früh hatte er in der Straßenbahn in einem Artikel einer Verlagszeitschrift gelesen, dass das Wort Mutter bei den meisten Menschen eine tiefe und umfassende Urempfindung auslöst. Ihm war noch aufgefallen, dass der Autor rücksichtsvoll „bei den meisten Menschen“ geschrieben hatte und er fühlte sich wieder ertappt und liebevoll verstanden, eine Mischung, die ihn ein Leben lang mit Scham erfüllte, da sie ihn auf den Platz stellte, der ihm so vertraut aber leider die Heimatlosigkeit war und dann war ihm noch aufgefallen, dass das Wort Mutter bei ihm die Urempfindung von Panik, Verlust und Fremdheit auslöste. Wie immer.

Nicht dass seine Mutter ein Unmensch ist, tatsächlich nicht, er ist ihr schließlich sehr ähnlich, doch sie ist fremd, stößt ihn ab wie ein Nestchen aus Reißnägeln und die tun weh und obwohl die Berliner Mauer seit fast 20 Jahren ein kaum mehr vorhandener Souvenierblock ist, seine innere Mauer steht noch. Da kann er tun was er will: sich auf den Kopf stellen, Berlin besuchen, Therapien machen oder Kunst oder noch eine Zusatzausbildung – das Ding ist nicht kaputt zu kriegen. Die Mauer rund um vierzehn Jahre nicht gelebten Lebens, das sich zu einer Paralellwelt entwickelte, die sich ab seinem dritten Lebensjahr konsequent und kalt neben seine Biographie stellte und ihn angrinste und auf  seinen Verlust von Heimat deutete, mit geradem Finger, auf das zu früh verlorene Selbstverständnis der Identifikation und Großfamilie. Die Paralellwelt musste von nun an für alles herhalten: für die Projektionen eines anderen Alltags, der vielleicht der eigentliche gewesen wäre, für die Schuldzuweisungen, Entschuldigungen für eigenes Versagen und als Virtueller Space ungelebter Träume, schön und wild, wie der Mauerrest in seinem Bücherregal.

Wie soll man da rüberkommen?

 

Er holt Speiseöl aus dem Küchenkasten, einen Pinsel vom Kinderschreibtisch und bläst den Staub aus dem entblößten Gehäuse, streicht mit den Pferdehaaren darüber, wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel.

Als ob er ihr noch nie zum Geburtstag gratuliert hätte!

Sie feierten ihn sogar einmal zusammen, damals, als sie sich wieder einmal nach Jahren der Trennung wieder einmal vereint hatten. Wieder einmal.

Es gibt zwei Seinszustände. Die stehen nebeneinander, wie damals Ost und West. Entweder oder. Grenzgänge sind aufreibend, nagen an den umfassenden Urempfindungen: entweder seine Mutter und er sind in Kontakt oder nicht. Es ist jedes Mal endgültig.

Vielleicht liegt es daran, dass er und sie leidenschaftlich sind und das Herz auf der Zunge tragen, dass ihre Beziehung Wechselstromqualität hat – Shit, er hat den Stecker nicht aus der Nähmaschine gezogen – was in einer, in die Jahre gekommenen Eltern-Kind-Beziehung ja auch nichts außergewöhnliches ist, wäre da nicht diese historische Dimension und die Ohnmacht angesichts dieser.

 

Er ölt die Nahtstellen.

Es ist kurz vor Mittag. Bald muss er die Kinder holen. Er hat noch zwanzig Minuten Zeit, zum Telefon zu gehen, ihre Nummer zu wählen und ihr Alles Gute zum Geburtstag zu wünschen.

Bei dem plötzlichen Gefühl von verhinderter Nähe könnte er wieder weinen, aber er tut es nicht, denn das würde ausarten und alles verkomplizieren: das Nähmaschinenreparieren, das Glückwunschtelefonat und das Kinderabholen.

 

Er sieht sie wieder vor sich, ihre Ellenbogen auf den Jugendstiltisch gestützt, in ihrer Wohnung am Prenzlauer Berg, nicht weit von der Kirche, in der sie mitdemonstriert hatte, damals, vor fast 20 Jahren, und wieder einmal sind sie dabei, sich einander anzunähern, ohne dass es all zu sehr weh tut. Weder das Fremdsein, wenn sie es sich eingestehen, noch das Nahsein, wenn es sich durch die Hintertüre schleicht, auf nackten Füßen.

Er sieht, wie sie sich, Jahre davor, er war gerade Vater geworden, anschrien:

„Ich brauch dich nicht! Ich bin ein Leben lang ohne dich zurecht gekommen, das kann ich jetzt auch!“

Und er erinnert sich an Silvester 1989, damals, vor der Gedächtniskirche, als er dastand, jugendlich, mit viel zu großem Mantel, den er sich immer enger nähen wollte, seine kalten Hände, die in den tiefen Taschen nach Halt suchten, das Klopfen der Mauerspechte in den festlich geweiteten Ohren, als er dastand und sich fragte, was um alles in der Welt das für ein Gefühl ist, um drei Uhr Nachmittag am Ku´damm zu stehen um seine Mutter kennen zu lernen,verdammt. Und da stand sie dann und er stand da und sie gingen ins Kranzler und sie bestellte ihm ein Rieseneis und zahlte mit Westmark und schenkte ihm eine Münze, die er sofort verlieren würde, und er saß da, berauscht, mit dieser Fremden an einem Tisch, die sein Lachen lachte und deren Augen gleich weit auseinander standen wie die seinen und er versuchte zu verbergen, dass er kein Kind mehr war und sich mehr über Kaffee und Zigaretten gefreut hätte, doch er wollte ihr nicht weh tun.

 

Er schraubt die Nähmaschine zu.

 

 

Noch weiter zurück liegt die Erinnerung an Salzburg. Volksschulzeit. Seine kleine Halbschwester war grad drei Jahre alt geworden. Irgendwann hieß es: „Deine Mutter kommt.“

Deine Mutter - das waren immer die Päckchen zum Geburtstag gewesen und zu Weihnachten, über die er sich freute, die aber seine Sonderstellung in der neuen Familie zementierte. Und das will kein Kind. Als Kind will man nur dazugehören.

Damals wusste er freilich schon viel über Grenzen, er durfte nicht rüber, seine Mutter nicht herüber und sein Vater wäre bei einem Grenzübertritt ins Gefängnis gekommen, was er aufregend und heldenhaft fand. Aber er wusste noch nichts über Botschaften und die Streiks, die seine Mutter dort absolviert hatte, über ihre Telefonate und Formulare und Gespräche und Bittgesuche, bis in die obersten Etagen hinauf, Angelina Jolie hätte sich von ihr inspirieren lassen können, für ihren verzweifelten Film, denn meine Mutter wollte ein Visum  bekommen, um ihn, ihren Sohn, der ihr bei der Scheidung zugesprochen worden war, was ihr in der DDR große Macht über seinen Vater gab, im Westen besuchen zu können. Fünf Jahre lang. Er wusste auch nichts von Ost- und Westgeld und wollte immer nur das ferngesteuerte Auto von ihr haben, als sie da war, denn von seinem Vater bekam er es nicht, auch nicht von dessen neuen Frau, die er bis zu diesem Zeitpunkt immer Mama genannt hatte, vom ersten Augenblick an, was er jetzt, nach dem Kennenlernen seiner leiblichen Mutter unterließ, und in der Folge alle seine Halbgeschwister, und er suchte auch keinen Körperkontakt mehr zu ihr, seiner vertrauten Mutter, jetzt plötzlichen Nichtmutter, und er erstarrte bei Berührungen seiner leiblichen Mutter, die ihm fremd war. Er hatte zum zweiten Mal seine Familie verloren. Nach dieser Zeit wurde er sehr still.

 

Er legt den blauen Stoff ein. Die Maschine stottert. Der Faden reißt: „Scheiße!“

Er knallt mit der Handfläche auf den Jugendstiltisch seiner Wiener Wohnung und findet es sogleich schade, an einem so historischen Tag mit so längst vergangenen Geschichten besetzt zu sein und denkt über die Obamas nach und über die Kriege, die heißen und die kalten, denkt über Macht nach und über Ohnmacht und über die Schuld und ist stolz auf sich, dass er seinen Vater in die Mangel nimmt, denn das gelingt ihm erst seit kurzem, und er weiß, dass er an PAS leidet, am Parental Alliation Syndrom, das man hat, wenn einem nur ein Elternteil vertraut ist, an dem man mit grenzüberschreitender Loyalität hängt, während man den fremden massiv abwertet, sieht die Taten seines Vaters mit Abstand, immer noch liebend und verzeihend aber er sieht auch dessen Schuld, die Schuld der Geschichte, die Schuld der Achse des Guten und er denkt an den Fehler seines Lebens, diese Frau geheiratet zu haben und an seine eigene Scheidung und an das Leid seiner Kinder, aber gut, heute steckt man die Kids wenigstens in die Therapie und er denkt an seine Mutter, vor der er sich noch immer auch fürchtet, die heute groß feiern wird, weil sie, wie er die Fähigkeit besitzt, zu feiern: sich selbst und den historischen Augenblick und er fängt endlich zu weinen an, weil er nicht bei ihr und den Ihren, eigentlich auch den Seinen, ist, immer noch ausgeschlossen und dieses Mal ist es seine Schuld, die Mauer steht seit fast 20 Jahren nicht mehr, und er ist nicht fähig, ihr zu gratulieren, doch endlich erwachsen genug, sich selbst zu verzeihen.

 

Aus der abermals geöffneten Nähmaschine fällt eine winzige Schraube, fast zu klein zum Festdrehen.

 

Eine Erinnerung ist noch da, wenn auch keine wirklich persönliche, denn es ist ein Foto: sein historisches Foto. Es zeigt ihn mit seinem Bären, der auch jetzt noch auf seinem Bett liegt, am Tag ihrer Ausreise aus der DDR. Da sein Vater Österreicher war, durfte er rüber. Das mit ihm kriegte keiner so richtig mit. Er war auch so süß mit seinen blauen Kulleraugen und dem blonden Haar: wer denkt da schon an Republikflucht oder gar Kindesentführung?

 

Die Schraube sitzt. Die Maschine ist entstaubt, geölt und zusammengesetzt. Der blaue Stoff schnurrt durch seine Hände. Noch fünf Minuten. Dann muss er gehen.

Er steht auf, geht zum Telefon, beginnt zu schluchzen, hört auf damit, wählt ihre Nummer.

Der eine Teil in ihm will, dass sie abhebt, um ihr abermaliges Tauwetter einzuleiten, der andere Teil hat Angst und ist wütend und schämt sich und legt nach fünf Mal Läuten erleichtert wieder auf.

Doch irgendwo tief drinnen spricht eine sanfte, ja mütterliche Stimme ihm Mut zu:

Heute wird ein schwarzes Emigrantenkind, ein Scheidungskind, das seinen Vater und dessen Wurzeln nicht kannte, Präsident der USA.

Wenn das möglich ist, ist alles möglich…

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.07.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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