Sven Später

Schobers Blues

 

„Tja, da werden wir wohl wenig für Sie tun können“, sagte mein Gegenüber und beugte sich über eine dicke Akte, deren Inhalt ihm bereits bis ins kleinste Detail bekannt sein müsste.

Er schob seine Brille, eine von diesen hässlichen Designer-Dingern, bis zur Nasenspitze. Noch immer war er in meinem Leben vertieft, das dort schwarz auf weiß vor ihm lag. Nun, zumindest handelte es sich um einzelne Abschnitte meines Lebens, die nichts über meine Person aussagen konnten. Ihm wurde nicht mitgeteilt, wie ich dachte, was ich fühlte. Und doch war für ihn das, was er sich zusammenreimte, wenn er die Akte durch ging und mich dabei hin und wieder betrachtete, die unumstößliche Wahrheit. Er glaubte mich genau zu kennen. Viele glaubten das. Sobald alles über die schulische und berufliche Talfahrt eines Menschen bekannt war, begutachtete man sein Äußeres und es wurden Schlüsse gezogen. Einzelheiten, wieso Jobs nicht gehalten wurden oder warum es trotz guter Abschlüsse zu keiner Einstellung kam, waren unerheblich.

Wirtschaftslage und andere Begebenheiten rücken weit in den Hintergrund. Ja, zuweilen verschwanden sie sogar ganz. Und das Schicksal spielte überhaupt keine Rolle, da nicht daran geglaubt wurde. Menschen, die einfach Pech hatten, gab es nicht. Wer sich hier meldete, war grundsätzlich ganz allein für seine Situation verantwortlich.

Zum Teil traf das natürlich zu, aber nicht immer und allumfassend.

„Sie bereiten uns ganz schöne Probleme. Ich meine, Ihre ganze Einstellung und dieser Blödsinn. Wenn Sie sich nicht anpassen, dann wird das nichts, mein Lieber.“

Wie ich es hasste, wenn er das sagte. Mein Lieber. Als sei ich ein kleines Kind und er die gütige Vaterfigur. Vermutlich war er sogar davon überzeugt, dass er den Leuten etwas Gutes tat, wenn er den weisesten aller Propheten zum Besten gab.

„Wie oft habe ich Ihnen das schon gesagt? Wie oft? Schneiden Sie sich ihre ungepflegten Haare ab, rasieren Sie sich, hören Sie auf, ständig solche Trauerkleidung zu tragen. Immer kommen Sie hier an und tragen schwarz. Kein Wunder, dass keiner Sie haben will. Mit Ihrer Einstellung würde ich Ihnen auch keinen Job geben wollen.“

Ich schwieg, musste ein Gähnen unterdrücken. Er mochte ja ganz in Ordnung sein, ich urteilte nicht über ihn als Menschen, aber in seinem Beruf ging er mir gewaltig auf die Nerven. Ob er ein guter Ehemann war, ein fürsorglicher Vater – all das konnte ich nicht sagen und es interessierte mich auch kein Bisschen. Hier und jetzt nahm er mich wegen Dingen in die Mangel, die gar nichts mit der Wirklichkeit zu tun hatten. Hier und jetzt verhielt er sich mir gegenüber wie ein richtiger Arsch.

„Haben Sie sich mal überlegt, dass in ihrem Alter vielleicht ...“

Jetzt reichte es. Ich war gerade einmal neunundzwanzig und er kam mit solchen Sprüchen an. Mir blieb gar nichts anderes übrig, ich war gezwungen, meinen Mund aufzumachen.

„Ich pflege nicht, mit meinen Haaren, meinen Klamotten oder sonstwas zu arbeiten. Bisher habe ich da recht erfolgreich den Verstand benutzt.“

Kaum hatte ich es ausgesprochen, da kam in mir auch schon ein Gefühl der Reue zum Vorschein. Ich meine, ich wusste ja, dass er mir nicht schaden wollte. Ganz im Gegenteil. Dennoch kotzten mich diese Reden an.

Herr Schober, so hieß der gute Mann, klappte die Akte zu. Laut. Sehr laut. Dann funkelte er mich über den Rand seiner Brille hinweg an, dass ich nur noch unruhig auf dem Stuhl herumrutschen konnte. Diese Blicke machten mich immer irgendwie ... wuschig.

„Wenn ich nicht ein so großes Herz hätte. Wenn ich nicht so viel Verständnis für Ihre Situation hätte ...“

Jedes Wort sprach er sehr deutlich aus. Ich sollte es wohl verinnerlichen.

„Ich würde Sie auf der Stelle aus meinem Büro werfen und Ihnen das Leben zur Hölle machen – da wollen Sie ja sowieso hin.“

Sein Kopf nickte in Richtung meiner beiden Ketten, die ich um den Hals trug. Ein großes Pentagram und ein auf dem Kopf stehendes Kreuz.

„Wie nennen Sie diesen ... diesen Mist eigentlich?“, fragte er voller Abscheu.

„Schmuck“, sagte ich. Es störte mich immer wieder, wenn Leute versuchten, mir aufgrund meiner Schmuckwahl alles zu unterstellen, was sie irgendwo einmal darüber gelesen oder gehört hatten. Zumeist bedienten sie sich solch obskurer Informationsquellen wie der Boulevardpresse oder Talkshows. Aber auch Gerichtsshows standen ganz hoch im Kurs.

„Herr Liebrecht“, begann er, bevor seine Lungen eine Überdosis Sauerstoff in sich aufsogen und er seine Augen schloss, um sich zu beruhigen. „Sie kommen mit diesem Satans- und Friedhofsmist nicht weiter. Glauben Sie mir doch einfach. Zu einem Teufel zu beten, Böses tun zu wollen, Gewalt als einzige Maxime anzusehen und nachts auf Gräbern zu tanzen ... Dieser Unsinn wird Sie in der Berufswelt nicht zu einem Liebling der Chefs machen. Ich weiß, wovon ich rede. Vermutlich sitzen Sie den ganzen Tag vor dem Fernseher oder dem Computer, spielen diese Killerspiele und freuen sich über Filme, bei denen möglichst viele Menschen bestialisch getötet werden. Ist es nicht so?“

Mir blieb keine Zeit zu antworten, denn Herr Schober war mit seinen Ausführungen noch nicht am Ende.

„Sie verbauen sich Ihr ganzes Leben, Mensch. Man kann nicht immer den Rebellen raushängen lassen, man muss sich auch mal anpassen, mit dem Strom schwimmen. Wir machen das so: Ich gebe Ihnen noch einmal, noch ein einziges Mal einen Termin, sagen wir in sechs Wochen. Bis dahin haben Sie sich die Haare geschnitten und sich Klamotten besorgt, die Sie zum Menschen machen. Dann gehen wir alles nochmal durch und werden auch für Sie etwas finden. Sie haben doch studiert, Herr im Himmel. Da muss man auch mal ein wenig Verstand haben.“

Endlich geschafft. Herr Schober hatte alles aufgefahren, was ich schon mehr als tausendmal von den verschiedensten Menschen zu hören bekommen hatte. Ich weiß nicht, was ich in deren Augen darstellte. Vermutlich das ultimative Böse. Auf alle Fälle hatte er den Kübel an festgefahrenen Meinungen über mir ausgeschüttet.

Langsam lehnte ich mich zurück, lächelte ihn an. Der Sachbearbeiter erwiderte mein Lächeln, dachte wohl, ich sei nun einsichtig.

„Herr Schober, ich bin heute nur hergekommen, um mich abzumelden.“

Einen Augenblick lang genoss ich dieses Gesicht mir gegenüber, das sich nicht zwischen Verwunderung und ehrlich gemeinter Freude für meine neue Situation entscheiden konnte.

„Dann gratuliere ich aber ganz herzlich. Wo fangen Sie denn an?“

„Hier“, sagte ich knapp. Mein Fallmanager riss die Augen auf.

„Hier? Sie meinen ... also ... hier im Haus?“

„Ganz richtig. Ich bin der neue Leiter, Ihr Chef sozusagen.“

Schober verlor jede Farbe, ich befürchtete schon, er würde mir einfach so umkippen. In seiner Welt gab es für jemanden wie mich keinen Platz. Umso schlimmer musste es für ihn sein, dass ich wohl gerade sein Weltbild zerstört hatte.

Ich stand auf und reichte ihm die Hand. Zögernd nahm er an.

„Nächsten Monat geht es los und ich bin mir sicher, wir werden gut zusammenarbeiten“, sagte ich überaus freundlich. Dann konnte ich mir eine letzte Bemerkung nicht verkneifen: „Wir müssten uns nur einmal über Ihre Arbeitsweise unterhalten. Beurteilen Sie Menschen nicht immer nach dem, was Sie sehen oder zu wissen glauben. Ich bin mir ganz sicher, dass auch Sie dazu in der Lage sind.“

Als ich die Tür öffnete und Schobers Büro verließ, hatte ich die vage Vermutung, dass er sich in Zukunft nicht mehr zu vorschnellen Beurteilungen hinreißen lassen würde. Es war kein Sieg in dem Sinn, denn ich hatte mit Schober nie einen Krieg gehabt. Dennoch genoss ich den kleinen Triumph, jemandem vielleicht ein wenig die Augen geöffnet zu haben. Wie auch immer, die Sache stimmte mich fröhlich.

Auf dem Weg zum Altersheim, in dem ich mich ehrenamtlich um alte Menschen kümmerte, ihnen Gesellschaft leistete, weil sie ansonsten einsam bleiben würden, pfiff ich vergnügt die Melodie von Bloodline, einem meiner Lieblingssongs der Band Slayer.

Schober hingegen, etwas bloßgestellt und in Gedanken versunken – er wird wohl einen Blues gesummt haben.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.08.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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