Werner Wadepuhl

Das Leben, eine Glockenkurve ?

Die Gaußsche Normalverteilungskurve, auch Glockenkurve genannt, geht mir heute nicht aus dem Sinn. Carl Friedrich Gauß ( 1777-1855 ) hat sie entdeckt, gefunden. Erfunden aber hat sie wohl die Natur oder ihr Schöpfer. Es gibt unendlich viele Beispiele über ihre Gültigkeit. Wie war das doch seinerzeit in Mathe? Die Verteilung von Noten der Klassenarbeiten war ein beliebtes Beispiel, die Verteilung von Körpergrößen, Intelligenz oder Reichtum und, und, und. Schauen sie mal im Lexikon nach oder vielleicht im Internet. Längst hat man festgestellt, dass sie auch die Häufigkeitsverteilung vieler menschlicher Eigenschaften beschreibt wie auch viele natürliche Phänomene im allgemeinen dieser Normalverteilung folgen

Stellen Sie sich eine Glocke im Querschnitt vor. Nein, nicht so eine blecherne Bienenkorbglocke, die, an breitem Lederband getragen, den Kühen in den Alpen um den Hals gehängt wird. Auch nicht diese im Mittelalter bevorzugten Zuckerhutglocken, sondern so eine typische Glocke mit ausladendem Wolm, wie der unteren Rand vom Glockengießer genannt wird, der den Querschnitt der Glocke in Form einer Glockenrippe, je nach dem, welcher Klang erreicht werden soll, nach alter Erfahrung und Tradition entwirft und als Holzschablone für die Erstellung der Gussform anfertigt.
Dieser symbolischen Glockenform mit ausladendem Rand und ausgeprägter Flanke am oberen Abschluss, dem für die Verankerung die Krone aufgeformt wird, versuche ich, gewisse Ähnlichkeiten mit dem Leben abzugewinnen, einem normalen Leben, denn man nennt sie ja auch Normalverteilungskurve.
Sicher gibt es auch Leben, die mehr einer durch Windkanalmessungen ermittelten Auftriebs/Widerstandskurve entsprechen, einer aufsteigenden Kurve, die mit zunehmendem Anstellwinkel eines beliebigen Flügelprofils steigende Auftriebs- und Widerstandsbeiwerte grafisch darstellt und die dann mehr oder weniger abrupt abbricht. So einen Lebensverlauf nennt man im Allgemeinen wohl Schicksal, aber normal ist das sicher nicht.
Bezogen auf die hier zugrundegelegte Glockenform kann man als normal auf jeden Fall Geburt als Anfang und Tod als Ende dieser Kurve betrachten. Geburt als Eintritt in das Leben und Tod in spiegelbildlicher Folge als das Erlöschen von Leben. Und wenn alles normal verläuft, dann folgt der Geburt ein langsames Ansteigen dieser Kurve durch Wachstum, Entwicklung von Intelligenz und Sammeln von Wissen. Dem Tod geht voraus ein ständiges Altern und schwächer werden des Körpers, ein langsames Vergessen oder nicht mehr interessiert sein an Wissen. Soweit, so gut. Betrachten wir den Tod als Geburt mit umgekehrtem Vorzeichen, brauchen wir eigentlich keine Angst davor zu haben, denn wer kann sich schon an seine Geburt erinnern. Die Frage bleibt nur, verläuft ein normales Leben wirklich symmetrisch?

Wir sind der Kinderstube entwachsen, kommen in die Schule, in weitere Ausbildung, sei es in die Lehre oder auf die Uni, der Zuwachs an Wissen und Entwicklung beschleunigt sich und bildet die Kurve vom Glockenrand zum Glockenmantel. Der weitere Verlauf kann einer Glocke sehr ähnlich werden oder aber auch etwas flacher bleiben wie zum Beispiel die Bildung eines Sandhügels im Stundenglas der Sanduhr.
Auf der anderen Seite der Kurve ist es wohl die Periode der inzwischen Late Life Crisis genannten Entwicklung. Man fühlt sich auch als Rentner oder Pensionär noch recht lange fit. Dann aber ereilen einem schlagartig irgend welche körperliche Beeinträchtigungen. Die Wirbelsäule spielt nicht mehr mit, ein Schlaganfall vermindert die Beweglichkeit oder geistige Regsamkeit, Gelenkprobleme mindern den Spaß am Leben, Augen und Gehör lassen nach, salopp ausgedrückt: es geht dahin, der Übergang zum rechten Glockenrand ist gesichert.


Nun kann man natürlich weiter fantasieren. Denken wir an diese oft ausgeprägte Trotzphase bei den Vierjährigen. Wiederholt sich diese Trotzphase nicht häufig auch im Alter? „Das ist mein Platz“ sagt der Opa, „Das ist mein Stuhl“ die Oma im Altersheim. „Ich will nicht“ oder „Ich mag nicht“. Würde ein Leben normal verlaufen, könnte man daraus schließen, diese Phase beginnt etwa vier Jahre vor dem Tod, oder?

Und wie spannend ist die Phase der Pubertät. Meist beginnt sie mit dem Stimmbruch. Die kindliche Stimme wird fester, tiefer. Verändert sich nicht auch die Stimme im Alter? Sie wird wieder heller, brüchiger.
Und dann natürlich dieses Entdecken des anderen Geschlechtes, diese Wallungen des Gemütes, diese Sehnsüchte und leidenschaftlichen Begierden. Fühlt man im Alter nicht noch einmal wie aufbäumend ähnlich, aber möglicherweise mit umgekehrten Vorzeichen? Dieses unumkehrbare Gefühl, im Leben so manches versäumt, Chancen nicht genutzt, kurzum, viel zu wenig Sex gehabt, erlebt zu haben? Ein Bekenntnis, das man allzu oft von bekannten Schauspielern und Stars lesen oder hören kann? Dem steigenden Hunger nach Leben, nach Abenteuer, nach Liebe steht im Alter diese Nachlassen der Libido, dieses Gefühl, es ist eigentlich meist immer wieder dasselbe, dieses mitunter körperlich erzwungene Schwinden an Interesse wie einst bei diesem Fuchs in der Fabel, der meinte, die Trauben seien ihm eh zu sauer, als er sich von dannen trollte.

Die den Glockenmantel bildende Kurve verläuft steiler oder flacher, je nachdem, wie unsere Entwicklung verläuft. Wir finden unser Glück, gründen eine Familie, erleben die Entwicklung unserer Kinder, machen Karriere, kommen zu Ansehen und Erfolg, bauen uns ein Haus, haben das Glück, in Frieden und Wohlstand zu leben, kurzum, es geht eigentlich stetig vorwärts, aufwärts und alles wird besser.
Die andere Seite der Kurve? Das Leben wird Routine, es kommt nichts Neues mehr dazu. Die Kinder sind groß und gehen aus dem Haus, das große Auto wird nicht mehr gebraucht und eigentlich ist auch das Haus inzwischen viel zu groß. Man sollte sich von so einigem trennen, was inzwischen eher zur Belastung wird. Rente oder sonstige Einkommen sind nicht mehr mit den früheren Gehältern vergleichbar, reichen aber durchaus für ein Leben mit erträglichem Wohlstand. Geld, dass man früher in Anschaffungen, Ausbildung der Kinder, Liebhabereien oder Reisen gesteckt hat, gibt man jetzt für Brillen, Zahnersatz, Hörgeräte und alle möglichen Therapeuten oder Therapien aus. Es ist nicht zu verleugnen, die Zeiten, die Vorzeichen haben sich geändert.

Und wie sieht die Glockenflanke aus? Man hat alles erreicht, alles angeschafft, die Karriere lässt sich nicht mehr fortsetzen, kurz, man hat den Zenit seines Lebens erreicht, die Kurve wird flacher. Es folgen Resignation, ja manchmal Depression, man spürt, nicht mehr gefragt zu sein, man erkennt, nie mehr Lokführer, Flugkapitän oder Nobelpreisträger werden zu können. Manche meinen plötzlich, den falschen Lebenspartner gewählt zu haben. Man wird aufs Altenteil, in Rente, in Pension geschickt, glaubt, endlich frei leben zu können, um recht bald dahinter zu kommen, dass auch im Alter Pflichten zu übernehmen, Aufgaben zu erledigen sind. Wer sich um Enkelkinder sorgen darf, empfindet dieses oft als Glück und versucht, all das gut zu machen, was er an den eigenen Kindern denkt, falsch gemacht zu haben. Man hilft den Nachkommen in jeder erdenklichen Weise und fühlt doch, wie die Kräfte langsam nachlassen, kurzum, die Kurve des Lebens führt ans andere Ende.
Und der Rest des Lebens? Er plätschert so dahin. Die Tage vergehen wahnsinnig schnell, die Zukunft wird immer kürzer, mitunter fragt man sich, lohnt sich das noch, was man da Neues anfängt und irgendwann ist dann wohl unmerklich Schluss. Demenz oder Bettlägerigkeit wären dann vielleicht noch dem Dasein eines Kleinkindes, eines Babys zuzuordnen, aber eben mit umgekehrtem Vorzeichen, es geht nie mehr aufwärts, vorwärts, nur noch zurück.

Bleibt natürlich die Kritik an der Frage, verläuft ein Leben symmetrisch, ist das normal? Wenn ein Mensch mit Hundert stirbt und mit Fünfzig den Zenit seines Lebens, die Krone seines Strebens erreicht hat, könnte man es annehmen.. Wenn er aber schon mit Fünfzig stirbt, war bei Fünfundzwanzig sicher nicht der Zenit erreicht, also unsymmetrisch oder abrupt unterbrochen. Es war ja auch nur so eine Idee, ein Versuch, ein Leben mit dieser Kurve zu vergleichen. Und irgendwie interessant erschien es mir schon, mal über Parallelen nachzudenken, über dieses „wie-oben-so unten“ oder „wie-links-so-rechts“, vielleicht ist es auch dieses jing und jang oder „yin yang“, wie die Chinesen dazu sagen. Versuchen Sie es doch auch selbst einmal. Unser eigenes Ende kennen wir ja noch nicht, aber vielleicht eine Menge Menschen, die nicht mehr bei uns weilen und über die wir genug wissen, um solche Überlegungen, solche Vergleiche anzustellen. Und seien Sie über abweichende Ergebnisse nicht überrascht, denn welches Leben ist schon normal.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.08.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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